I had a dream... NIESENGRAT INTEGRAL


Publiziert von Bergamotte , 3. September 2021 um 09:59.

Region: Welt » Schweiz » Bern » Berner Voralpen
Tour Datum: 1 September 2021
Wandern Schwierigkeit: T6+ - schwieriges Alpinwandern
Klettern Schwierigkeit: III (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: Niesenkette   CH-BE 
Zeitbedarf: 13:00
Aufstieg: 3600 m
Abstieg: 4470 m
Strecke:33km
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Niesen Kulm
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Adelboden, Schermtanne
Unterkunftmöglichkeiten:Berghaus Niesen
Kartennummer:1227 / 1247

Sechs Jahre ist es her seit Tobis Überschreitung des erweiterten Niesengrats. Die *Tour hat auf Hikr damals hohe Wellen geworfen und bleibt für mich das Mass aller Dinge. Eine eigene Begehung blieb bloss ein Traum, zu hoch schienen mir die technischen und konditionellen Herausforderungen. Erst diesen Sommer, nach Durchquerung des gesamten *Gantrischs und gestählt von unzähligen T6-Abenteuern, habe ich plötzlich realisiert: Doch, es ist möglich! Zumindest wenn ich den Erstaufstieg zum Niesen weglasse. Der Verzicht auf 1700 Höhenmeter im Dunkeln, abseits des Grats und auf wenig spannenden Wanderwegen hat sich ausbezahlt. Ich habe keinerlei Krisen erlebt, konnte die Überschreitung bis zum Gsür richtiggehend geniessen. Erst danach haben Motivation und Energielevel nachgelassen.

Dem Niesengrat gebührt das Prädikat "König aller Voralpengrate". Seine Ausdehnung ist gigantisch; zwischen Niesen und Albristhore liegen 21km Luftlinie bzw. 28km Wegstrecke. Dabei musste ich den Grat während zwölf (!) Stunden höchstens mal für wenige Meter verlassen. Wo sonst gibt's das? Die erste Hälfte bis vors Linterhore ist flowig, herrliches Gelände für Trailrunner, die Kilometer und Gipfel fliegen nur so dahin. Anschliessend wird das Gelände wilder und es gilt einige Schlüsselstellen in der obersten Alpinwanderskala zu meistern. Kurzum, der ambitionierte Alpinwanderer findet hier das Gelobte Land.

Im Gegensatz zu meinen Vorgängern bin ich die Tour "on sight" und ohne Wasserdepot gegangen. Abgesehen von wenigen Schlüsselstellen habe ich auf vorgängiges Routenstudium verzichtet. So konnte ich die Spannung hochhalten; und die Linie verläuft ohnehin logisch, über den Grat! Volles Tagesgepäck bedeutete gegen 10kg Ballast am Rücken. Aber im Vordergrund stand ohnehin das Gesamterlebnis und nicht die Zeit, das ginge zweifellos schneller. Trotzdem, ohne gewissen Ehrgeiz geht's bei mir nicht, sprich ich bin sehr zügig gegangen und abwärts wenn immer möglich gerannt. Eigentlich auch im Flachen, nur sind solche Passagen rar... 


Normalerweise folgen hier die Routendetails. Aber das würde den Rahmen sprengen. Stattdessen verweise ich auf bestehende Tourenberichte und vor allem das SAC-Tourenportal, welches alle Passagen ausser der Landvogtehore-Nordflanke umfasst. Ich beschränke mich auf eine subjektive Auswahl von Zusatzinformationen.

An-/Abreise
  • Ich habe vorgängig im Berghaus Niesen übernachtet. Das ist sehr nett gemacht: schöne Zimmer mit viel Holz (Tipp: Ohropax mitnehmen!), gute Küche und tolle Aussicht. Werde ich gelegentlich mit meiner Frau wiederholen. Nicht ganz günstig, aber angesichts eines grosszügigen 3-Gang-Menüs fair. Wobei, das Fleisch-Fondue schien mir als Vorbereitung dann reichlich unpassend. Das vorbestellte Vegi-Menü hingegen hat meine Ansprüche betreffend Carboloading vollumfänglich erfüllt. 
  • Noch vor dem Wecker bin ich topfit erwacht und konnte um 5:15 im Dunkeln auf der Gipfelplattform loslaufen.
  • Punkt 18:15, also dreizehn Stunden später, habe ich Schermtanne (Adelboden) erreicht. Ich sah mich bereits drei Kilometer über Asphalt ins Dorf joggen, weil um diese Uhrzeit kein Bus mehr fährt. Fürs Taxi war ich zu geizig. Just in diesem Moment fuhr ein Landwirt vorbei, der mich freundlicherweise downtown fuhr, obschon es einen Umweg bedeutete. Danke!
  • Die angepeilten 12-14 Stunden erwiesen sich somit als gute Schätzung. Laufen in den Abend hinein wollte ich der Moral wegen unbedingt vermeiden.
  • Nach Ankunft in Adelboden und Abfall der Spannung fühlte ich mich urplötzlich komplett ausgezehrt: Ich musste einen Postautokurs auslassen, um mich ausreichend zu verpflegen.

Verpflegung
  • Zum Frühstück gab's einen Riegel und einen halben Liter "Iso spezial" mit reichlich Koffein. Das hat sich bei Touren ab Hütte (sprich ohne Anreise) bewährt. Denn voller Bauch läuft nicht gern und ich wollte ab Beginn zügig gehen.
  • Nach dem Niesen findet sich bis zum Albristhore keine einzige Wasserquelle. Ohne Depot musste ich grosszügig planen und zog schliesslich mit 6 Litern los. Das war zu viel, 4.5 Liter hätten mir heute gereicht. Gleichzeitig würde ich dringend abraten, diese Tour an einem Hitzetag zu begehen. 
  • Ohne Energieriegel und Iso geht's kaum bei so langen Touren und zügiger Pace. Für die Moral hatte ich dennoch ausreichend "Soulfood" dabei (Schoggi, Käsebrötli, Mandelbärli, Apfel).
  • Alle 90 bis 120 Minuten habe ich eine kurze Pause von 5-10 Minuten eingelegt, um etwas Richtiges zu essen. Der Aufbruch fiel mir nie schwer, zu sehr habe ich das Gratabenteuer genossen. 

Schlüsselstellen
  • Generell: Viele Schlüsselstellen am Grat können irgendwo in der Flanke umgangen werden. Hierfür hatte ich aber weder Lust noch Zeit.
  • Den Nordgrat zum Fromberghore würde ich aufgrund der Versicherungen beim Einstieg nicht mehr als Schlüsselstelle im engeren Sinn bezeichnen. Die T6 des Führers finde ich übertrieben, eher gehobene und anhaltende T5. Tatsächlich ist das eine der schönsten Passagen der ganzen Tour. Mit Stirnlampe geht das auch im Dunkeln gut.
  • Nordseitig von Schmelihore und Honiese erreicht man an den Felsaufschwüngen bzw. deren Umgehung ebenfalls die T6 und bei Bedarf Kletterei bis III.
  • Der Aufstieg zum Linterhore sieht aus der Distanz gfürchig aus, die T5 wird schliesslich aber nicht überschritten.
  • Das ändert sich im Abstieg nach Südwest ins Sättelchen P. 2258.  Ausgesetzt zu einer glatten Platte runter, dort extrem ausgesetzt der Kante folgen oder einen schmalen, sehr steilen Grasriss runter (T6).
  • Der Wiederaufstieg vom Sättelchen verdient das Prädikat T6+, welches ich kaum vergebe. Ein erster Aufschwung ist sehr ausgesetzt und das Mischgelände mässig zuverlässig. Ein zweiter Aufschwung ist noch ausgesetzter, aber die Felsplatte von bester Qualität. 
  • Grossen Respekt hatte ich vor der Erbithore-Nordkante. Das ging schlussendlich problemlos. Ausgesetzte Kletterei bis III-, aber in gutem Fels.
  • IIer Kletterei findet man auch am kleinen Gipfelwändchen der Wyssi Flue.
  • Erst Tobis "Erschliessung" des Nordaufstiegs zum Landvogtehore hat die Niesengrat-Traversata möglich gemacht. Wie schon StephanH schreibt, sind die Schwierigkeiten dort nicht unbedingt höher als zuvor, ABER sie halten beinahe eine Stunde an! Bereits der Zustieg in den Sattel P. 2317 über Felstürme und Schiefergrate ist im oberen T6-Bereich anzusiedeln. Wo genau man die nachfolgende Nordflanke begeht, muss man vor Ort entscheiden. Relativ bald gelangt man zu einem beinahe senkrechten, kurzen Felsriegel, den ich direkt überklettert habe (T6+). Es gäbe sicherlich irgendwo eine einfachere Umgehung. Aber ist es sinnvoll, in solchem Gelände minutenlang rumzuqueren? Richtung Ausstieg dann nochmals kurze Klettereien bis III-.
  • Auf dem Gsür meine ich, die Schlüsselstellen geschafft zu haben und die Spannung lässt nach. Was für ein Irrtum! Beim oberen Aufschwung, eigentlich nur T5-Kraxelei, bleibe ich unkonzentriert mit dem Fuss hängen und stürze beinahe kopfüber die Wand runter... Beim unteren Wändchen (III) hängt mittlerweile ein Seil drin, ohne ginge es nicht für mich. Aber selbst mit Seil eiere ich minutenlang rum, denn das Wändchen ist senkrecht und ohne Abseilgerät ist stürzen oder pendeln keine Option. Für mich die einzige Stelle, wo ich heute ins Rotieren kam.
Material
  • Gewichtsmässig hat vorab die Verpflegung zu Buche geschlagen. 
  • Das Übernachtungsgepäck beschränkte sich auf Zahnbürste/-pasta plus eine leichte Daunenjacke.
  • Ausser etwas Reepschnur (eigentlich unnötig) hatte ich kein technisches Material dabei. Auch der Helm blieb zuhause; sinnvoll wäre er bloss am Landvogtehore.
  • Im letzten Moment habe ich die Halbschuhe gegen leichte Bergschuhe ausgetauscht (La Sportiva Aequilibrium ST GTX - ein genialer Schuh!). 250g mehr pro Fuss sind durchaus relevant. Trotzdem war ich froh drum. In den Schlüsselstellen hätte es keinen Unterschied gemacht, aber im nassen Morgengras war ich froh um die aggressive Sohle und den hohen Schaft. Und ein hoher Schuh toleriert viel mehr, wenn die Füsse müde werden (umknicken!). So konnte ich z.B. vom Albristhore guten Gewissens bis Schermtanne runterrennen (1300Hm).

Zeiten (kumulativ, inkl. Pausen)
1:20  Fromberghore  (5min Pause)
2:50  Tschipparällehore  (10min)
3:50  Schmelihore
4:40  Honiese  (10min)
5:50  Linterhore
7:00  Winterhore  (10min)
8:10  Wyssi Flue  (5min)
10:10  Gsür  (10min)
11:45  Albristhore  (10min)
13:00  Schermtanne

Tourengänger: Bergamotte
Communities: T6, Monstertouren


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Kommentare (11)


Kommentar hinzufügen

Stefan_F hat gesagt:
Gesendet am 3. September 2021 um 11:41
Herzlichste Gratulation!
So wird das gemacht: onsight und ohne großes Zaudern einfach durchziehen. Herrlich deinen Bericht zu lesen! Das hast du richtig was rausgehauen. Auch der mentale Weg bis zum Entschluss den Grat doch zu machen, gefällt mir sehr gut. man muss reif sein, für solche Aufgaben. Kannst stolz sein!

beste Grüße
Stefan

johnny68 hat gesagt: RE:
Gesendet am 3. September 2021 um 17:20
Schliesse mich an. Wahnsinn!
LG
Johnny

Bergamotte hat gesagt: RE:
Gesendet am 5. September 2021 um 10:55
Auf den Punkt gebracht! Das muss wie aus einem Guss kommen, ohne Würgerei etc. Wenn man auf sich hört, weiss man, ob man bereit ist oder nicht.

Beste Grüsse & danke
Gabriel

Nyn hat gesagt:
Gesendet am 4. September 2021 um 00:57
Chapeau!

3614adrian hat gesagt:
Gesendet am 4. September 2021 um 07:22
Herzliche Gratulation!
Wirklich eine herausragende Leistung - physisch und mental!
Lg
Adrian

Zolliker hat gesagt:
Gesendet am 4. September 2021 um 07:55
Schön, dass dieser ewige Traum für dich wahrgeworden ist Gabriel!

Linard03 hat gesagt:
Gesendet am 4. September 2021 um 12:47
wow; herzliche Gratulation!
Nebst gewissen technischen Herausforderungen sind da v.a. auch mentale und konditionelle Stärke gefragt ...; ganz grosses Kino!

lorenzo hat gesagt: Klasse...
Gesendet am 5. September 2021 um 10:51
...Exploit, tolle Fotos, sowie anschauliche und informative Beschreibung...Gratuliere!

boerscht hat gesagt: Glückwunsch
Gesendet am 5. September 2021 um 14:26
zu dieser genialen Tour und dementsprechendem super Bericht!

Tobi hat gesagt: Herzliche Gratulation
Gesendet am 9. September 2021 um 07:54
Auch von meiner Seite dem Nachahmungstäter ein grosser Applaus!
Auch wenn ich etwas enttäuscht bin, dass du auf das Auslaufen bis zum Hahnenmoospass verzichtet hast. Und ausgeruht auf dem Niesen gestartet bist. Aber man wird auch älter ;-)

Bis hoffentlich bald wieder mal auf einer gemeinsamen Tour!

Tobi

Bergamotte hat gesagt: RE:Herzliche Gratulation
Gesendet am 9. September 2021 um 08:51
Älter und weiser. Und man neigt weniger zu Selbstüberschätzung.

Auf jeden Fall danke fürs Kompliment, schön wenn‘s vom Meister selbst kommt.


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