Von Engelberg nach Stans über 5500 Höhenmeter (leider nicht ganz)
Der längste Tag des Jahres will optimal genutzt werden. Geplant ist von Engelberg hoch zum Jochpass, über alle Gipfel auf der Kantonsgrenze zum Stanserhorn und wieder runter nach Stans zu wandern. Wahrlich eine extrem lange (46.5 km) und anspruchsvolle (5350m Aufstieg und 5900 Höhenmeter Abstieg) Monstertour in wildem Gelände. Doch leider musste ich „kurz“ vor dem Ziel wegen höherer Gewalt abbrechen…
Der letzte Zug bzw. Bus bringt mich ins Klosterdorf Engelberg (1000m). Um 00:40 wandere ich in die dunkle Nacht hinein Richtung Trüebsee. Der Mond ist noch nicht zu sehen, doch die Stirnlampe leistet gute Dienste. Der Bergweg durch den Gerschniwald wird anhand der Spuren auch zum Downhill-Biken genutzt, zum Glück bleibt dieser Gegenverkehr in der Nacht aus. Von der Vorder Stafel werde ich von den rot-weissen Markierungen über Kuhweiden geleitet. Kühe sind keine zu sehen, es kommt zu keiner unliebsamen Begegnung. Nur das Gebimmel der Glocken verrät ihre Anwesenheit und wirkt irgendwie beruhigend. Der Pfad wird nun steiler und führt im Zick-Zack an den dunkeln und abweisenden Felsen des Gerschniberges vorbei. Auf der Höhe bei der Station Trüebsee (1796m) angekommen, weitet sich endlich der Horizont. Leider zeigt sich der Mond immer noch nicht. Dessen erhofftes Schimmern auf dem Trüebsee (1764m) hätte bestimmt ein schönes Motiv ergeben. Der Bergweg schlängelt sich weiter hoch. Endlich steigt der Mond über dem Titlis auf und taucht die Landschaft in fahles Licht. Etwa zweieinhalb Stunden nach dem Start erreiche ich den Jochpass (2207m).
Auf dem Pass hoffe ich auf einen offenen Raum, in dem ich mich etwas ausruhen und auf die Dämmerung warten kann. Doch leider ist alles verschlossen. In der Bergstation der Sesselbahn Engstlenalp finde ich doch noch ein windgeschütztes Plätzchen, doch an Schlafen ist auf dem kalten Betonboden nicht zu denken. Kurz vor vier Uhr mache ich mich wieder auf den Weg. Der blau markierte Pfad zum Klettersteig Graustock ist auch in der einsetzenden Dämmerung gut zu finden. Der Rot Nollen (2309m) als erster „Gipfel“ des heutigen Tages wird im Vorbeigehen erobert. Der folgende felsige Aufschwung ist dank den Fixseilen gut zu meistern. So stehe ich bald auf dem Schafberg (2522m). Der Tag kündet sich bereits durch den violett gefärbten Horizont an.
Da ich das Klettersteigset aus Gewichtsgründen zu Hause gelassen habe, verzichte ich auf die ungesicherte Besteigung des eigentlichen Klettersteiges (Pfeiler). Stattdessen steige ich etwa 250 Höhenmeter im Geröll nach Westen ab. Bei diesen Lichtverhältnissen eine mühsame Unternehmung. Die Schwachstelle im Felsriegel ist schon von weitem zu erkennen, bald tauchen die ersten blauen Markierungen auf. Dieser Pfad wird normalerweise von den Klettersteig-Benutzern im Abstieg begangen, ich erreich auf diesem wieder den Grat. Der Himmel ist nun bereits leuchtend rot. Doch den Gipfel des Graustock (2661.8m) erreiche ich gerade noch rechtzeitig um wieder einmal mehr Zeugen dieses allmorgendlichen Naturschauspiels sein.
Von oben sieht der direkte Abstieg Richtung Norden machbar aus. In dieser Geröllflanke tauchen dann aber noch ein paar felsige Absätze auf, die an geeigneter Stelle einfach abgeklettert werden können. Gegen Ende kann in einer schuttigen Rinne abgestiegen werden, die restlichen Höhenmeter werden auf einem Schneefeld vernichtet. Nun geht alles fast flach dem breiten Karst-Grat entlang weiter. Am Fikenloch komme ich wohl vorbei, sehe es aber nicht. So einen obszönen Namen möchte ich auch nicht in meiner Wegpunktliste haben. In genüsslicher Kraxelei erreiche ich das Schwarzhorn (2639m) direkt über den Ostgrat.
Mein Interesse gilt nun dem Heglihorn (2589m). Ein kleiner aber feiner Klettergipfel, der direkt über den Nordostgrat erobert werden kann. Die beiden kleinen Türme zu Beginn habe ich im Aufstieg südseitig umgangen, im Abstieg bin ich darüber geklettert. Einfach Genuss pur diese kleine Erhebung und auch vom Gestein her ein interessanter Ausflug.
Über Geröll und Felsen quere ich hinüber zur Tannenchäle. Auf etwa 2560m beginne ich über ein Schneefeld mit dem Aufstieg zum nächsten Gipfel. Auch hier dominiert die Farbe Grau: Im Geröll rutsche ich bei jedem Schritt etwa die Hälfte der gewonnen Höhe wieder ab, im Felsen geht es deutlich schneller nach oben zum Rotsandnollen (2700m).
Der Abstieg führt mich zunächst Richtung Nordwesten. Auf dem zweiten Schneefeld (ca. 2550m) steige ich in steilem aber perfektem Trittschnee gegen Nordosten ab. Wildspuren leiten übers Kies zu einem treppenartig gestuften Felsabsatz, über welchen der Geröllkessel zwischen Rotsandnollen und Hanghorn erreicht wird. In diesem Kiesfeld wühle ich mich mühsam gegen die Fullücke hoch. Da mir diese Wühlerei zu anstrengend ist, wechsle ich schliesslich auf den markanten Kalksteinriegel, der sich durch seine helle Farbe deutlich vom restlichen Gestein abhebt. Auf diesem soliden Felsen werden die Höhenmeter deutlich einfacher und genussvoller erobert. Für den Schlussanstieg wechselt die Gesteinsart nochmals schlagartig. Das nächste Gipfelchen ist fein säuberlich mit Schieferplatten geschichtet worden. Auf der rauen Oberfläche der Platten finden die Vibram-Sohlen perfekten Halt. Für die letzten paar Höhenmeter zum Hüenderbergli (2630m) wechsle ich in die ausgesetzt Ostflanke, die zur Abwechslung mal ein paar grasige Stellen aufweist.
Von hier oben ist das Hanghorn zum Greifen nahe, der direkte Aufstieg über den Südgrat sieht einladend aus. Allerdings muss dazu zuerst zum Einstieg abgeklettert werden. Als Alternative müsste ich wieder gegen Westen auf etwa 2350m absteigen, ein Höhenverlust von fast 300m. Da möchte ich der direkten Variante zumindest eine Chance geben. Von oben sieht diese machbar aus, die Schieferschichtung scheint viele Tritte und Griffe zu bieten. Vorsichtig klettere ich nach Norden ab, die ersten Höhenmeter etwas links vom Grat haltend. Die Felsqualität ist überraschenderweise äusserst gut. Die Oberfläche ist sehr rau, was bei den Händen für ein unangenehmes Peeling sorgt, dafür den Schuhen perfekten Grip bietet. Auch die einzelnen herausstehenden Schieferplatten sind meist solide und halten der Belastung stand, müssen aber sehr sorgfältig geprüft werden. Auf breiteren Absätzen kann immer wieder etwas durchgeatmet werden. Für den mittleren Teil wechsle ich etwas in die Ostflanke. Diese ist zwar weniger steil, dafür umso ausgesetzter. Die letzten Höhenmeter klettere ich wieder direkt an der Gratkante ab. Beim Blick zurück kann ich kaum glauben, dass ich dort soeben runtergekommen bin.
Der Eindruck vom Hüenderbergli aus hat nicht getäuscht. Die Felsqualität am Südgrat zum Hanghorn ist perfekt. Meist direkt am Grat entlang über der fast 300 Meter hohen Felswand erreiche ich nach leider viel zu kurzer aber genussreicher Kraxelei das Hanghorn (2679m).
Nun folgt die grosse Höhenmeter-Schlacht. Über den Rot Sand vernichte ich meist knieschonend durch Geröllsurfen oder auf Schneefeldern rutschend innert kurze Zeit 500 Höhenmeter. Auf etwa 2160m befindet sich der Einstieg zum Pfad aufs Ober Fed. Die rote Markierung ist schon von weitem zu erkennen. Die roten Striche ziehen sich in regelmässigen Abständen bis nach oben durch, Seilsicherungen erleichtern zudem den Aufstieg. Einige der soeben wieder zurückeroberten Höhenmeter werden nun in einem kurzen Abstieg wieder vergeben. Weglos quere ich den breiten Geröllkessel ober dem Zigertal, immer leicht aufsteigend. Auf etwa 2320m befindet sich eine von weitem sichtbare Schwachstelle im Felsriegel unter dem Zahm Geissberg. Von hier wird der Grat über die steile Grasflanke erreicht, wo ich den Pfadspuren zum Gipfel folgen kann. Punkt Mittag stehe ich auf dem Huetstock/Wild Geissberg (2676m).
Der Abstieg erfolgt auf dem gleichen Weg, wobei ich natürlich noch dem Zahm Geissberg (2514m) einen Besuch abstatte. Beim Juchli (2171m) mache ich einen kurzen Abstecher zur Nünalp. Hier hoffe ich, bei einem Brunnen meine Wasserreserven wieder auffüllen zu können. Doch dieser Umweg ist vergebens gewesen, es ist kein fliessendes Wasser vorhanden. Von der Alp beginne ich direkt mit dem Aufstieg auf das Nünalphorn (2385m).
Über sehr steile Bergwiesen steige ich direkt nach Westen ab, wo ich auf den mit roter Farbe markierten und mit Drahtseilen gesicherten Pfad durchs Worbiloch stosse. Nun bin ich seit fast vierzehn Stunden unterwegs und noch keiner Menschenseele begegnet. Dafür habe ich umso mehr Wild beobachten können. So scheuche ich auch hier bei der Querung zum Gruebi (2024m) etwa fünfzehn Gämsen auf. Auch bei dieser Alphütte finde ich kein Wasser. Doch im Aufstieg zum Sattel Bocki-Rotsand (2204m) treffe ich auf einen sprudelnden Brunnen. Das kühle Nass schmeckt herrlich frisch, auch wenn ich anschliessend in den aufgefüllten PET-Flaschen kleinste Partikel oder Lebewesen erkennen muss. Mit gefüllten Wasserreserven ist der Rucksack zwar wieder schwerer geworden, aber die Gewissheit, nun über genügend Flüssigkeit für den weiteren Weg zu verfügen, gibt mir zusätzlichen Auftrieb. Der Widderfeldstock (2351m) ist so bald erreicht.
Auf dem wiederum mit roten Strichen markierten Pfad begebe ich mich über den Chrachen zur Storegg (1742m). Von hier sieht das Storegghorn spektakulär aus. Bei der Vorbereitung zu der heutigen Tour habe ich diesen Felsbug völlig übersehen. Ein direktes Erklettern scheint nicht in Frage zu kommen. Für solche, nicht den Erfolg versprechenden, Experimente habe ich weder die Zeit noch Kraft. Ich folge dem Pfad zum Lachengrätli. Kurz nach dem Eintauchen in den Wald erblicke ich eine steile Grasrampe, die auf den Gipfel zu führen scheint. Ich steige auf dieser empor. Das Band verengt sich immer mehr und führt in die Südwand. So muss ich zwei kleinere Felsriegel auf Wildwechsel nach links überklettern, bis ich über einen mässig steilen Grasrücken aufs Storegghorn/Lachenhörnli (1872m) komme.
Weglos wandere ich weiter dem Grat entlang nach Norden und treffe nach einem kurzen Abstieg wieder auf den Pfad zum Lachengrätli. Es folgt nochmals ein steiler Anstieg hinauf zum Chrüzibödmer. Hier oben präsentiert sich mir die wunderbare Gratlandschaft des Schluchigrat (2088m). Die Stimmung wird etwas getrübt durch die im Westen über dem Brienzersee auftauchenden Regenwolken. Noch machen die mir keine Sorgen, so eine kleine Abkühlung würde mir gerade gut tun.
Beim Wagenleis ist der Steg abmontiert worden, es muss in den tiefen Graben hinab und wieder hinauf geklettert werden. Eine spektakuläre Wegführung, welche bestens mit Drahtseilen gesichert ist. Auf dem Schluchberg (2106m) angekommen, ist die Regenfront schon ziemlich nah und sieht auch nicht mehr so friedlich und erfrischend aus. Donnergrollen ist zu hören und als ich einen Blitz in der Nähe von Flüeli einschlagen sehe, wird mir der Ernst der Lage voll bewusst. Im Laufschritt renne ich bei einsetzendem Regen hinunter zur Laucherenalp (1938m).
Unter dem Dach der Alphütte schaue ich dem Regen zu und warte auf eine Entspannung der Situation. Das Donnergrollen wirkt nicht gerade beruhigend, scheint aber noch weit weg zu sein. Nach etwa zwanzig Minuten hört es auf zu regnen und die Sonne beginnt wieder zu scheinen. Ich denke schon ans Aufbrechen, doch die dunkeln Wolken sind immer noch nahe und lassen mich noch etwas zuwarten. Und dies ist die richtige Entscheidung: Keine fünf Minuten später setzen Sturmböen und sintflutartige Regenfälle ein. Die Blitze schlagen nun in unmittelbarer Nähe ein, so dass ich in den kleinen Geräteschuppen der Alp flüchte, wo ich mich ein wenig sicherer fühle. Etwas mehr als eine halbe Stunde harre ich hier aus.
Was nun? Es ist in der Zwischenzeit 18:45. Wenn ich nun wieder zurück zum Grat steige und die Tour fortsetze, wäre ich etwa um acht Uhr beim Ächerlipass und etwa 90 Minuten später auf dem Stanserhorn. Für den Abstieg müssten nochmals zwei Stunden eingerechnet werden, so dass ich erst gegen Mitternacht in Stans eintreffen würde. Könnte ich um diese Uhrzeit noch mit einem warmen Empfang bei meiner Schwägerin in Stans rechnen? Und überhaupt: bleibt das Wetter nun stabil oder kommt nochmals eine Gewitterzelle?
Der Entschluss fällt mir schwer, doch ist es wohl die einzig vernünftige Entscheidung. Ich breche das Projekt ab, im Wissen, dass ich es wohl nicht nochmals in Angriff nehmen werde. Meine Frau organisiert unterdessen meine Schwägerin, welche mich netterweise im Wirzweli abholen kommen wird. Etwas desillusioniert und antriebslos mache ich mich auf den Weg dorthin. Bei der Chälenhütte (1137m) kommt die Sonne wieder zum Vorschein und zaubert farbintensive Regenbogen an den Himmel. Der Brisen ist weiss vom Hagel. Zügig aber ohne Hast wandere ich auf der Alpstrasse zum Hinter Gummen (1579m). Das Restaurant hat Ruhetag, folglich fährt auch die Bahn nicht Es folgt also nochmals ein intensiver Abstieg, bei welchem sich mein „Problemknie“ vermehrt bemerkbar macht. Wie es wohl auf die fast 1500 Höhenmeter Abstieg vom Stanserhorn reagiert hätte?
Kurz nach acht Uhr treffe ich bei der Talstation der Gummenalp-Bahn (1215m) ein. Nach über 19 Stunden unterwegs bin ich müde und erschöpft am „Ziel“. Doch richtig glücklich und zufrieden bin ich nicht. Erst als meine Schwägerin mit dem Auto eintrifft, erhellt sich meine Stimmung etwas. Herzlichen Dank nochmals für den netten Taxidienst!
Fazit: Das eigentliche Ziel, eine weitere „längste Voralpen-Grattour“ zu überschreiten, habe ich nicht erreicht. Ob ich es ohne den erzwungenen Abbruch geschafft hätte, kann ich nicht sagen. Aber ich durfte einen langen und äusserst intensiven Tag in einer abwechslungsreichen Bergwelt erleben. Der Aufstieg durch die dunkle Nacht, die vom Mond fahl erleuchtete Landschaft, der prächtige Sonnenaufgang, die wilden Felsen und Grate, die blühenden Alpwiesen und zu guter Letzt noch die farbenprächtigen Regenbogen. Also keineswegs ein gänzlich misslungener und verlorener Tag!
Ursprünglich hatte ich diese Tour in der Gegenrichtung geplant. Allerdings kann ich davon einem allfälligen Nachahmer nur abraten: Die Schwierigkeiten wären so alle gegen Ende der Tour und meist im Abstieg zu überwinden. Nach geschätzten fünfzehn Stunden wandern, dürfte das Wühlen im Geröll nicht mehr als angenehm empfunden werden. Und bei einem plötzlich auftretenden Nachmittagsgewitter wäre man im wilden Gebiet um den Huetstock ohne Schutz ziemlich auf sich alleine gestellt…
Der letzte Zug bzw. Bus bringt mich ins Klosterdorf Engelberg (1000m). Um 00:40 wandere ich in die dunkle Nacht hinein Richtung Trüebsee. Der Mond ist noch nicht zu sehen, doch die Stirnlampe leistet gute Dienste. Der Bergweg durch den Gerschniwald wird anhand der Spuren auch zum Downhill-Biken genutzt, zum Glück bleibt dieser Gegenverkehr in der Nacht aus. Von der Vorder Stafel werde ich von den rot-weissen Markierungen über Kuhweiden geleitet. Kühe sind keine zu sehen, es kommt zu keiner unliebsamen Begegnung. Nur das Gebimmel der Glocken verrät ihre Anwesenheit und wirkt irgendwie beruhigend. Der Pfad wird nun steiler und führt im Zick-Zack an den dunkeln und abweisenden Felsen des Gerschniberges vorbei. Auf der Höhe bei der Station Trüebsee (1796m) angekommen, weitet sich endlich der Horizont. Leider zeigt sich der Mond immer noch nicht. Dessen erhofftes Schimmern auf dem Trüebsee (1764m) hätte bestimmt ein schönes Motiv ergeben. Der Bergweg schlängelt sich weiter hoch. Endlich steigt der Mond über dem Titlis auf und taucht die Landschaft in fahles Licht. Etwa zweieinhalb Stunden nach dem Start erreiche ich den Jochpass (2207m).
Auf dem Pass hoffe ich auf einen offenen Raum, in dem ich mich etwas ausruhen und auf die Dämmerung warten kann. Doch leider ist alles verschlossen. In der Bergstation der Sesselbahn Engstlenalp finde ich doch noch ein windgeschütztes Plätzchen, doch an Schlafen ist auf dem kalten Betonboden nicht zu denken. Kurz vor vier Uhr mache ich mich wieder auf den Weg. Der blau markierte Pfad zum Klettersteig Graustock ist auch in der einsetzenden Dämmerung gut zu finden. Der Rot Nollen (2309m) als erster „Gipfel“ des heutigen Tages wird im Vorbeigehen erobert. Der folgende felsige Aufschwung ist dank den Fixseilen gut zu meistern. So stehe ich bald auf dem Schafberg (2522m). Der Tag kündet sich bereits durch den violett gefärbten Horizont an.
Da ich das Klettersteigset aus Gewichtsgründen zu Hause gelassen habe, verzichte ich auf die ungesicherte Besteigung des eigentlichen Klettersteiges (Pfeiler). Stattdessen steige ich etwa 250 Höhenmeter im Geröll nach Westen ab. Bei diesen Lichtverhältnissen eine mühsame Unternehmung. Die Schwachstelle im Felsriegel ist schon von weitem zu erkennen, bald tauchen die ersten blauen Markierungen auf. Dieser Pfad wird normalerweise von den Klettersteig-Benutzern im Abstieg begangen, ich erreich auf diesem wieder den Grat. Der Himmel ist nun bereits leuchtend rot. Doch den Gipfel des Graustock (2661.8m) erreiche ich gerade noch rechtzeitig um wieder einmal mehr Zeugen dieses allmorgendlichen Naturschauspiels sein.
Von oben sieht der direkte Abstieg Richtung Norden machbar aus. In dieser Geröllflanke tauchen dann aber noch ein paar felsige Absätze auf, die an geeigneter Stelle einfach abgeklettert werden können. Gegen Ende kann in einer schuttigen Rinne abgestiegen werden, die restlichen Höhenmeter werden auf einem Schneefeld vernichtet. Nun geht alles fast flach dem breiten Karst-Grat entlang weiter. Am Fikenloch komme ich wohl vorbei, sehe es aber nicht. So einen obszönen Namen möchte ich auch nicht in meiner Wegpunktliste haben. In genüsslicher Kraxelei erreiche ich das Schwarzhorn (2639m) direkt über den Ostgrat.
Mein Interesse gilt nun dem Heglihorn (2589m). Ein kleiner aber feiner Klettergipfel, der direkt über den Nordostgrat erobert werden kann. Die beiden kleinen Türme zu Beginn habe ich im Aufstieg südseitig umgangen, im Abstieg bin ich darüber geklettert. Einfach Genuss pur diese kleine Erhebung und auch vom Gestein her ein interessanter Ausflug.
Über Geröll und Felsen quere ich hinüber zur Tannenchäle. Auf etwa 2560m beginne ich über ein Schneefeld mit dem Aufstieg zum nächsten Gipfel. Auch hier dominiert die Farbe Grau: Im Geröll rutsche ich bei jedem Schritt etwa die Hälfte der gewonnen Höhe wieder ab, im Felsen geht es deutlich schneller nach oben zum Rotsandnollen (2700m).
Der Abstieg führt mich zunächst Richtung Nordwesten. Auf dem zweiten Schneefeld (ca. 2550m) steige ich in steilem aber perfektem Trittschnee gegen Nordosten ab. Wildspuren leiten übers Kies zu einem treppenartig gestuften Felsabsatz, über welchen der Geröllkessel zwischen Rotsandnollen und Hanghorn erreicht wird. In diesem Kiesfeld wühle ich mich mühsam gegen die Fullücke hoch. Da mir diese Wühlerei zu anstrengend ist, wechsle ich schliesslich auf den markanten Kalksteinriegel, der sich durch seine helle Farbe deutlich vom restlichen Gestein abhebt. Auf diesem soliden Felsen werden die Höhenmeter deutlich einfacher und genussvoller erobert. Für den Schlussanstieg wechselt die Gesteinsart nochmals schlagartig. Das nächste Gipfelchen ist fein säuberlich mit Schieferplatten geschichtet worden. Auf der rauen Oberfläche der Platten finden die Vibram-Sohlen perfekten Halt. Für die letzten paar Höhenmeter zum Hüenderbergli (2630m) wechsle ich in die ausgesetzt Ostflanke, die zur Abwechslung mal ein paar grasige Stellen aufweist.
Von hier oben ist das Hanghorn zum Greifen nahe, der direkte Aufstieg über den Südgrat sieht einladend aus. Allerdings muss dazu zuerst zum Einstieg abgeklettert werden. Als Alternative müsste ich wieder gegen Westen auf etwa 2350m absteigen, ein Höhenverlust von fast 300m. Da möchte ich der direkten Variante zumindest eine Chance geben. Von oben sieht diese machbar aus, die Schieferschichtung scheint viele Tritte und Griffe zu bieten. Vorsichtig klettere ich nach Norden ab, die ersten Höhenmeter etwas links vom Grat haltend. Die Felsqualität ist überraschenderweise äusserst gut. Die Oberfläche ist sehr rau, was bei den Händen für ein unangenehmes Peeling sorgt, dafür den Schuhen perfekten Grip bietet. Auch die einzelnen herausstehenden Schieferplatten sind meist solide und halten der Belastung stand, müssen aber sehr sorgfältig geprüft werden. Auf breiteren Absätzen kann immer wieder etwas durchgeatmet werden. Für den mittleren Teil wechsle ich etwas in die Ostflanke. Diese ist zwar weniger steil, dafür umso ausgesetzter. Die letzten Höhenmeter klettere ich wieder direkt an der Gratkante ab. Beim Blick zurück kann ich kaum glauben, dass ich dort soeben runtergekommen bin.
Der Eindruck vom Hüenderbergli aus hat nicht getäuscht. Die Felsqualität am Südgrat zum Hanghorn ist perfekt. Meist direkt am Grat entlang über der fast 300 Meter hohen Felswand erreiche ich nach leider viel zu kurzer aber genussreicher Kraxelei das Hanghorn (2679m).
Nun folgt die grosse Höhenmeter-Schlacht. Über den Rot Sand vernichte ich meist knieschonend durch Geröllsurfen oder auf Schneefeldern rutschend innert kurze Zeit 500 Höhenmeter. Auf etwa 2160m befindet sich der Einstieg zum Pfad aufs Ober Fed. Die rote Markierung ist schon von weitem zu erkennen. Die roten Striche ziehen sich in regelmässigen Abständen bis nach oben durch, Seilsicherungen erleichtern zudem den Aufstieg. Einige der soeben wieder zurückeroberten Höhenmeter werden nun in einem kurzen Abstieg wieder vergeben. Weglos quere ich den breiten Geröllkessel ober dem Zigertal, immer leicht aufsteigend. Auf etwa 2320m befindet sich eine von weitem sichtbare Schwachstelle im Felsriegel unter dem Zahm Geissberg. Von hier wird der Grat über die steile Grasflanke erreicht, wo ich den Pfadspuren zum Gipfel folgen kann. Punkt Mittag stehe ich auf dem Huetstock/Wild Geissberg (2676m).
Der Abstieg erfolgt auf dem gleichen Weg, wobei ich natürlich noch dem Zahm Geissberg (2514m) einen Besuch abstatte. Beim Juchli (2171m) mache ich einen kurzen Abstecher zur Nünalp. Hier hoffe ich, bei einem Brunnen meine Wasserreserven wieder auffüllen zu können. Doch dieser Umweg ist vergebens gewesen, es ist kein fliessendes Wasser vorhanden. Von der Alp beginne ich direkt mit dem Aufstieg auf das Nünalphorn (2385m).
Über sehr steile Bergwiesen steige ich direkt nach Westen ab, wo ich auf den mit roter Farbe markierten und mit Drahtseilen gesicherten Pfad durchs Worbiloch stosse. Nun bin ich seit fast vierzehn Stunden unterwegs und noch keiner Menschenseele begegnet. Dafür habe ich umso mehr Wild beobachten können. So scheuche ich auch hier bei der Querung zum Gruebi (2024m) etwa fünfzehn Gämsen auf. Auch bei dieser Alphütte finde ich kein Wasser. Doch im Aufstieg zum Sattel Bocki-Rotsand (2204m) treffe ich auf einen sprudelnden Brunnen. Das kühle Nass schmeckt herrlich frisch, auch wenn ich anschliessend in den aufgefüllten PET-Flaschen kleinste Partikel oder Lebewesen erkennen muss. Mit gefüllten Wasserreserven ist der Rucksack zwar wieder schwerer geworden, aber die Gewissheit, nun über genügend Flüssigkeit für den weiteren Weg zu verfügen, gibt mir zusätzlichen Auftrieb. Der Widderfeldstock (2351m) ist so bald erreicht.
Auf dem wiederum mit roten Strichen markierten Pfad begebe ich mich über den Chrachen zur Storegg (1742m). Von hier sieht das Storegghorn spektakulär aus. Bei der Vorbereitung zu der heutigen Tour habe ich diesen Felsbug völlig übersehen. Ein direktes Erklettern scheint nicht in Frage zu kommen. Für solche, nicht den Erfolg versprechenden, Experimente habe ich weder die Zeit noch Kraft. Ich folge dem Pfad zum Lachengrätli. Kurz nach dem Eintauchen in den Wald erblicke ich eine steile Grasrampe, die auf den Gipfel zu führen scheint. Ich steige auf dieser empor. Das Band verengt sich immer mehr und führt in die Südwand. So muss ich zwei kleinere Felsriegel auf Wildwechsel nach links überklettern, bis ich über einen mässig steilen Grasrücken aufs Storegghorn/Lachenhörnli (1872m) komme.
Weglos wandere ich weiter dem Grat entlang nach Norden und treffe nach einem kurzen Abstieg wieder auf den Pfad zum Lachengrätli. Es folgt nochmals ein steiler Anstieg hinauf zum Chrüzibödmer. Hier oben präsentiert sich mir die wunderbare Gratlandschaft des Schluchigrat (2088m). Die Stimmung wird etwas getrübt durch die im Westen über dem Brienzersee auftauchenden Regenwolken. Noch machen die mir keine Sorgen, so eine kleine Abkühlung würde mir gerade gut tun.
Beim Wagenleis ist der Steg abmontiert worden, es muss in den tiefen Graben hinab und wieder hinauf geklettert werden. Eine spektakuläre Wegführung, welche bestens mit Drahtseilen gesichert ist. Auf dem Schluchberg (2106m) angekommen, ist die Regenfront schon ziemlich nah und sieht auch nicht mehr so friedlich und erfrischend aus. Donnergrollen ist zu hören und als ich einen Blitz in der Nähe von Flüeli einschlagen sehe, wird mir der Ernst der Lage voll bewusst. Im Laufschritt renne ich bei einsetzendem Regen hinunter zur Laucherenalp (1938m).
Unter dem Dach der Alphütte schaue ich dem Regen zu und warte auf eine Entspannung der Situation. Das Donnergrollen wirkt nicht gerade beruhigend, scheint aber noch weit weg zu sein. Nach etwa zwanzig Minuten hört es auf zu regnen und die Sonne beginnt wieder zu scheinen. Ich denke schon ans Aufbrechen, doch die dunkeln Wolken sind immer noch nahe und lassen mich noch etwas zuwarten. Und dies ist die richtige Entscheidung: Keine fünf Minuten später setzen Sturmböen und sintflutartige Regenfälle ein. Die Blitze schlagen nun in unmittelbarer Nähe ein, so dass ich in den kleinen Geräteschuppen der Alp flüchte, wo ich mich ein wenig sicherer fühle. Etwas mehr als eine halbe Stunde harre ich hier aus.
Was nun? Es ist in der Zwischenzeit 18:45. Wenn ich nun wieder zurück zum Grat steige und die Tour fortsetze, wäre ich etwa um acht Uhr beim Ächerlipass und etwa 90 Minuten später auf dem Stanserhorn. Für den Abstieg müssten nochmals zwei Stunden eingerechnet werden, so dass ich erst gegen Mitternacht in Stans eintreffen würde. Könnte ich um diese Uhrzeit noch mit einem warmen Empfang bei meiner Schwägerin in Stans rechnen? Und überhaupt: bleibt das Wetter nun stabil oder kommt nochmals eine Gewitterzelle?
Der Entschluss fällt mir schwer, doch ist es wohl die einzig vernünftige Entscheidung. Ich breche das Projekt ab, im Wissen, dass ich es wohl nicht nochmals in Angriff nehmen werde. Meine Frau organisiert unterdessen meine Schwägerin, welche mich netterweise im Wirzweli abholen kommen wird. Etwas desillusioniert und antriebslos mache ich mich auf den Weg dorthin. Bei der Chälenhütte (1137m) kommt die Sonne wieder zum Vorschein und zaubert farbintensive Regenbogen an den Himmel. Der Brisen ist weiss vom Hagel. Zügig aber ohne Hast wandere ich auf der Alpstrasse zum Hinter Gummen (1579m). Das Restaurant hat Ruhetag, folglich fährt auch die Bahn nicht Es folgt also nochmals ein intensiver Abstieg, bei welchem sich mein „Problemknie“ vermehrt bemerkbar macht. Wie es wohl auf die fast 1500 Höhenmeter Abstieg vom Stanserhorn reagiert hätte?
Kurz nach acht Uhr treffe ich bei der Talstation der Gummenalp-Bahn (1215m) ein. Nach über 19 Stunden unterwegs bin ich müde und erschöpft am „Ziel“. Doch richtig glücklich und zufrieden bin ich nicht. Erst als meine Schwägerin mit dem Auto eintrifft, erhellt sich meine Stimmung etwas. Herzlichen Dank nochmals für den netten Taxidienst!
Fazit: Das eigentliche Ziel, eine weitere „längste Voralpen-Grattour“ zu überschreiten, habe ich nicht erreicht. Ob ich es ohne den erzwungenen Abbruch geschafft hätte, kann ich nicht sagen. Aber ich durfte einen langen und äusserst intensiven Tag in einer abwechslungsreichen Bergwelt erleben. Der Aufstieg durch die dunkle Nacht, die vom Mond fahl erleuchtete Landschaft, der prächtige Sonnenaufgang, die wilden Felsen und Grate, die blühenden Alpwiesen und zu guter Letzt noch die farbenprächtigen Regenbogen. Also keineswegs ein gänzlich misslungener und verlorener Tag!
Ursprünglich hatte ich diese Tour in der Gegenrichtung geplant. Allerdings kann ich davon einem allfälligen Nachahmer nur abraten: Die Schwierigkeiten wären so alle gegen Ende der Tour und meist im Abstieg zu überwinden. Nach geschätzten fünfzehn Stunden wandern, dürfte das Wühlen im Geröll nicht mehr als angenehm empfunden werden. Und bei einem plötzlich auftretenden Nachmittagsgewitter wäre man im wilden Gebiet um den Huetstock ohne Schutz ziemlich auf sich alleine gestellt…
Tourengänger:
Tobi

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