Das Reich der Fánes - auf der Suche nach einem Mythos


Publiziert von Nik Brückner , 21. Juni 2019 um 21:23.

Region: Welt » Italien » Trentino-Südtirol
Tour Datum:19 Juni 1998
Wandern Schwierigkeit: T3+ - anspruchsvolles Bergwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: I 
Zeitbedarf: 8:00
Aufstieg: 1200 m
Abstieg: 1200 m
Strecke:18km
Unterkunftmöglichkeiten: Ücia de Fanes, Lavarellahütte.
Kartennummer:"Die freundliche südtiroler Wanderkarte" 18, Pragser Dolomiten.

Das Reich der Fánes! Die Mythen um den Falza Rego, Dolasílla, Ey de Nét und den Zauberer Spina de Mùl stammen aus uralten Zeiten - und bilden bis heute das Nationalepos der Ladiner. 1953 meinte Georg Innerebner, die sagenumwobene Burg der Fánisleute in der Nähe des 2657m hohen Ciastel de Fanes wiederentdeckt zu haben. Das wollten wir uns natürlich ansehen!


Das Ladinische

"Falza Rego", "Dolasílla", "Ey de Nét", "Spina de Mùl" - urtümliche Namen sind das. Sie sind ladinisch. Als ladinisch oder dolomitenladinisch (von "latinum", 'lateinisch') bezeichnet man eine Gruppe romanischer Dialekte, die in mehreren italienischen Alpentälern rund um den Sellastock gesprochen werden: In Gröden und dem Gadertal/Enneberg, dem Fassatal, Fodom sowie in Buchenstein und Cortina d’Ampezzo. In diesem Gebiet leben heute etwa 30.000 Personen, die diese Sprache sprechen.

Beim Ladinischen handelt es sich um eine auf das Vulgärlateinische zurückgehende Sprachvariante des romanischen Alpenraums. Die seit dem 6. Jahrhundert aus dem Norden vorrückenden Bajuwaren verdrängten das rätoromanische Idiom aus weiten Teilen seines ehemaligen Verbreitungsgebietes. Später wich dieser Sprachraum auch im Süden zugunsten des Italienischen allmählich zurück. Dieser Prozess schritt soweit fort, dass die Sprache heutzutage nur noch in den Tälern rund um den Sellastock gesprochen wird.



Die Suche nach dem Reich der Fánes

Der Volkskundler Karl Felix Wolff (1879 - 1966) sammelte als erster ladinische Sagen, daurnter auch die vom Reich der Fánes. Diese Sage ist heute ein wichtiger Teil der ladinischen Literatur. Sie schildert den Konflikt zwischen den aggressiven männlichen Angehörigen des Königshauses und den friedliebenden weiblichen. Die Schauplätze dieser Sage gruppieren sich um die auch heute noch "Fánes" genannte Hochfläche in den Südtiroler Dolomiten: der Pragser Wildsee, die Pralongia, die Eisengabel, die Armentara - die Burg der Fánes aber soll sich mitten auf der Fánis-Hochebene befunden haben, in 2600 Metern Höhe. Bis heute trägt ein Gipfel dort den Namen "Ciastel de Fanes" - "Fánesburg".

Der betreffende Berggipfel, eine bizarre Felsbastion aus dunklem Dolomit, heißt bis in unsere Zeit hinein traditionell auch "Burgstall", also 'Stelle, an der sich einst eine Burg befand'. Nach alter Überlieferung befand sich oben auf der Fánesalpe ein Königsschloss , das später in einem furchtbaren Krieg vernichtet worden sei.

Schon Wolff hatte die Erzählungen vom König der Fánes für historisch überprüfbar gehalten. Der Gedanke, dass diese mehr als nur Volksmärchen sein könnten, trieb später auch den Bozener Ingenieur und Hobby-Archäologen Georg Innerebner ins Gebirge. Viele Jahre nach Wolffs Aufzeichnungen, 1953, entdeckte er in der breiten Einsenkung zwischen Burgstall und den Steilhängen des Zehnerkofels auf 2600m Höhe dann die Überreste einer vorgeschichtlichen Wallburg. Schon seine oberflächlich durchgeführten Schürfungen brachten Scherben von Gefäßen zutage. Innerebner deutete seine Funde auf die späte Bronzezeit (etwa 1000 bis 800 v. Chr.).

Innerebner beschrieb den Fundort im "Schlern" so:


"In dieser letzteren Mulde findet sich inmitten eines gigantischen steinernen Meeres der Überrest eines mächtigen, fast horizontal ausgerichteten Ringwalles von über 60 m Durchmesser, der in seinem Südteil auf einer Länge von über 50 m noch glänzend erhalten ist und damit eine gute Rekonstruktion des Grundrisses der Anlage ermöglicht . . . Innerhalb des Walles läßt sich trotz der teilweisen Überschüttung durch herabgestürzte Felstrümmer der dazugehörige, ebenfalls ringförmige Graben von im Mittel 7 m Breite und heute 2 m Eintiefung fast rundum gut verfolgen. Der Mittelteil der Siedlung ergibt sich dabei als eine fast regelmäßig geformte, schön ausgeprägte, aber gänzlich von Steintrümmern übersäte Kalottenkuppe, deren höchster Punkt angenähert in der Mitte des Kuppenkreises und dabei 4 m über Wallmauerhöhe liegt. Es könnte sich hier ohne weiteres um die Reste eines in sich zusammengestürzten, vom weiten Wall umgebenen, gigantischen Turmes handeln, dessen Grundrißanordnung mich an die sardischen Nuraghi erinnert." (Quelle)


Innerebner hatte seinem Bericht eine Zeichnung des Ringwalls und ein Foto beigefügt. Die Publikation erregte damals viel Aufmerksamkeit im Tal. Viele Einheimische durchkämmten in der Folge die Gegend. Es wird gemunkelt, dass sie dabei einen Schädel (oder vielleicht auch nur einen schädelförmigen Stein) gefunden haben sollen. Fundierte archäologische Untersuchungen oder gar Grabungen im Bereich des Ciastel de Fanes hat es allerdings keine gegeben. Dennoch ist die Fundstelle in unserer Südtiroler Wanderkarte mit dem Vermerk "Ausgrabungen" eingetragen.


Unser Plan

Mein Vater und ich hatten von den Sagen rund um die Fánesleute gehört, und sie hatten unser Interesse geweckt. Dann entdeckten wir die Eintragung in unserer Wanderkarte. Unser Plan war, die in unserer Karte markierte Stelle am Ciastel de Fánes aufzusuchen, und uns dort nach der von Innerebner beschriebenen Wehranlage umzusehen. Dazu würden wir uns weglos in der riesigen Steinwüste der Kleinen Fánesalm bewegen müssen. Aber das Ciastel de Fánes ist ein markanter Gipfel, der uns die Ori erleichtern würde.

Abgesehen davon waren in unserer Karte noch zwei Höhlen eingetragen, die wir vielleicht würden entdecken können. Und womöglich würden uns diese ja den Zugang zum unterirdischen Teil des Fánesreichs ermöglichen....



Die Tour

Damals konnte man von Pederü aus mit einem Bergsteigertaxi hinauf zu den beiden Hütten auf der Fánesalpe fahren: Zur Fáneshütte bzw. zur Lavarellahütte. Und so machten wir uns eines Tages auf ins Tamersc-Tal, Ars Novas "REU NU PERT EM HRU" im Player, zum Berggasthaus Pederü (1540m). Dort stiegen wir in das Bergsteigertaxi, ein altgedienter VW-Bus, der uns in haarsträubendem Tempo hinauf auf die Fánesalm brachte.

Mit jeder Kehre ging es höher hinauf, und wir betraten das Reich der Fánes...


Die Sage vom Ursprung der Fánes

Vor Urzeiten lebte eine alte Anguana, eine jener Wald- und Wasserfrauen, in einer Höhle am Fuße des Berges, der heute "Croda Rossa" heißt. Jeden Morgen begrüßte sie, umgeben von Murmeltieren, die aufgehende Sonne am Ufer eines kleinen Sees. Eines Tages kam eine einheimische Frau namens Molta aus einem fernen Land zurück, und brachte ihr neugeborenes Mädchen mit. Die Anguana hieß sie willkommen, doch die erschöpfte Molta starb bald darauf. Die Anguana adoptierte das Mädchen, nannte es Moltina, und es wuchs zusammen mit den Murmeltieren auf. Sie lernte die Sitten und Gebräuche der Murmeltiere, und entdeckte schließlich sogar, dass sie sich in eine von ihnen verwandeln konnte.

Eines Tages begegnete der Prinz der Landrínes auf der Jagd dem Mädchen Moltina, und verliebte sich in sie. Gegen die Einwände seiner Familie beschlossen die beiden, zu heiraten. Und die Murmeltiere wie auch der Berg gaben ihren Segen. Nach ihrer Heirat lebte Moltina still für sich auf der Burg der Landrínes. Jede Nacht zündete sie ein Feuer an, um ihren Berg und die Anguana zu grüßen.

Eines Tages trafen sich mehrere Königinnen auf der Burg zu einem Fest. Im Verlaufe dessen wurde eine jede gebeten, die Geschichte ihrer Vorfahren zu erzählen. Moltina aber kannte ihre Herkunft nicht, und schämte sich fürchterlich dafür. Doch die Situation wurde gerettet: Wie ihr Gesicht, so färbte sich auch der Berg, der Moltinas Gefühle teilte, plötzlich purpurrot. Moltina nutzte den daraufhin entstehenden Aufruhr, und floh zurück in ihre Berge.

Sieben Tage lang suchte der Prinz nach ihr, und als er sie fand, weigerte sie sich, zu seiner Burg zurückzukehren. Und so beschloss er, bei ihr am Berg zu bleiben. So vergingen mehrere Jahre.

Eines Nachts hörten die beiden Waffengeräusche: In der Nähe übten sich Krieger im Kampf. Doch es fehlte ihnen an Geschicklichkeit. Der Prinz sprach die Krieger an, und sie erklärten ihm, sie seien die friedliebenden Fánesleute, die sich gegen einen Feind rüsteten, der sie bedrohte. Allerdings fehle es ihnen an Übung ebenso wie an Führung. Und so kam es, dass der Prinz einwilligte, sie zu trainieren, ja, er führte sie danach sogar in die Schlacht.

Als die Fánesleute den Sieg davontrugen, ernannnten sie den Prinzen zu ihrem König. Später erbaute er eine Festung auf den Cunturines und ließ als Emblem ein Murmeltier an der Wand anbringen. Moltina und er wurden damit die Ahnherren der königlichen Dynastie der Fánes. Die alte Anguana sagte ihnen Herrlichkeit und Größe voraus - doch weil Moltina nie mehr an den Hof der Landrínes zurückkehrte, behielt die Croda Rossa bis heute ihre rote Farbe.


Uralte Motive klingen hier an: die Wasser- und Fruchtbarkeitsgottheit Anguana, ein Sonnenkult, die Murmeltiere als Totemtiere, rituelle Feuer, und die Matrilinearität, also die Vererbung von sozialen Eigenschaften und Besitz ausschließlich über die weibliche Linie von Müttern an die Töchter: Der Prinz fügt sich in Moltinas Welt ein, nicht umgekehrt. Königin der Fánes wird Moltina, ihr Gatte schützt lediglich als Krieger die Grenzen und sorgt für den Nachwuchs. Nach der Sage begründen die beiden die Tradition, dass sich die Königin einen Gatten fremdländischer Herkunft wählt. Er bleibt seinem Ursprungsland verbunden, hat keinen Anspruch auf das Reich, und kann auch nicht die Gestalt des Murmeltiers annehmen.

Moltina und ihr Mann machen das Murmeltier zum Totemtier der Fánes. Immer wieder wird die Sage auf diese Verbindung hinweisen, etwa wenn eine Kriegstaktik darin besteht, loszuschlagen, wenn die Feinde schwach sind, und sich in unterirdische Tunnel zurückzuziehen, wenn sie stark sind. Das Murmeltier wird, beginnend mit Moltina, zum Totemtier der Fánes. Es ist an die weiblichen Vertreterinnen des Herrscherhauses gebunden.

Vorstellungen einer Tierabstammung sind oft mit dem Motiv der „Mahrten-Ehe“ verknüpft, der Ehe eines Menschen mit einem Naturwesen oder eben einem Tier. Meist wird in solchen Geschichten großer Wohlstand an eine Bedingung geknüpft, an ein Tabu, oft ein Verbot (z. B. an einem bestimmten Tag den übernatürlichen Partner zu sehen, zu berühren etc. Ein Beispiel ist die Melusinensage). Ein solches Motiv könnte auch hinter der Geschichte Moltinas stecken. Wenn dem so ist, dann hat Moltina sich ursprünglich wohl weniger geschämt, vielmehr versuchte sie wohl, ein Gebot zu befolgen: Sie durfte niemandem ihre Herkunft verraten.
 

Das waren die Gedanken, denen wir nachhingen, während wir mitten hinein ins Fánesreich fuhren.


An den Hütten angekommen, stiegen wir aus, und machten uns sofort auf den Weg.


Die Fánis

Wolff unterschied: Fánes - das Volk; Fánis - das Land. Die Fánis, oder auch (Kleine und Große) Fánisalm, ist ein gigantischer Kessel von etwa vier Kilometern Durchmesser in den Pragser Dolomiten, der sich von Höhen um die 2000 Meter bis hinauf auf etwa 2700 Meter erstreckt, umgeben von bis zu 3000 Meter hohen Gipfeln: im Nordwesten der Heiligkreuzkofel (2907m, Sas dla Crusc), der Zehner (3026 m, Sas dles Diesc), im Norden der Neuner (2968m, Sas dles Nü) und die Antoniusspitze (2655m, Piz de Sant’Antone), im Osten der Col Bechei (2794m), im Süden der Monte Stiga (2786m), der Piz Parom (2954m) und der Piz Lavarela (3055m), und im Westen der Piz de Medesc (2709m) und der Piz di Zuber (2718m). Der gesamte Kessel ist im Naturpark Fánes-Sennes-Prags unter Schutz gestellt.

Der Name der Hochfläche ist bereits um das Jahr 1000 belegt: als "Uanna". Daraus haben sich im Lauf der Jahrhunderte die Formen "Pfannes" (1434) und "Fannes" (1448) entwickelt.


An der Lavarellahütte (2042m) führt Weg Nr. 13 hinauf auf die Plan dles Safrënes, wo es nach links Richtung Gragn Ciamplac weitergeht. Dort angekommen, verließen wir die markierte Route, die sich hier nach Südwesten wendet (Richtung  Lavarella-Sattel/Forcella de Medesc), und wechselten auf einen kleinen, unmarkierten Pfad, der westwärts hinauf zur Kleinen Fánesalm (Piceres Fánes) führt. Doch auch diesen verließen wir bald darauf, um im weglosen Gelände nach zwei Höhlen zu suchen, die in der Nähe einiger kleiner Seen auf etwa 2300m zu finden sein sollten. Die Höhlen fanden wir nicht, dafür ragte vor uns die Fánesburg auf.

Dann erschraken wir.

Ein Pfiff! Gellend, laut - nur zu sehen war nichts. Was konnte das gewesen sein? War noch jemand hier oben unterwegs, in dieser menschenleeren Einöde? Oder sollte es ein Raubvogel gewesen sein? Ein Adler womöglich? Wir konnten aber keinen sehen! Dann kamen wir drauf: Ein Murmeltier! Das musste ein Murmeltier gewesen sein. Eine Seltenheit damals. In diesem Gebiet waren sie nahezu ausgestorben, weil sie im Gebirgskrieg als Nahrungsmittel für Soldaten gedient hatten...

Und wir mussten unwillkürlich an die uralten Bündnisse der Fánesleute mit den Murmeltieren und den Adlern denken.


Die Sage vom Austausch der Zwillinge

Jahrhunderte später heiratete eine Kronprinzessin der Fánes, wie es Tradition war, einen fremdländischen Prinzen. Doch sie wagte es nicht, dem stolzen Mann die geheime Allianz zwischen den Fánes und den Murmeltieren zu enthüllen, wie sie es eigentlich hätte tun sollen.

Eines Tages gelang es dem König, einen jungen Adler lebendig zu fangen. Da wurde er von dessen Vater angegriffen, einem großen Adler mit goldenen Krallen, der Flammen aus seinem Schnabel spie. Dieser offenbarte sich ihm als der König einer abgelegenen Insel, die von einarmigen Menschen bewohnt war. Und er bot dem Fáneskönig im Tausch gegen seinen Sohn ein geheimes Bündnis an, das nach dem Brauch der Fánesleute durch einen Austausch von Zwillingen besiegelt werden sollte. Der Fáneskönig willigte ein, behielt dieses Bündnis jedoch für sich. Er verbarg es selbst vor seiner eigenen Frau.

Tatsächlich brachte die Königin der Fánes eines Tages zwei Zwillingsmädchen zur Welt: Lujànta und Dolasílla. Am nächsten Morgen jedoch geschah etwas seltsames: an Lujàntas Stelle lag ein weißes Murmeltierbaby. Die Königin, die um die uralte Verbindung mit den Murmeltieren wusste, wunderte das nicht, und sie verschwieg ihrem Gemahl das Geschehnis.

Der König, der sein Versprechen einzuhalten gedachte, befahl nun einem Diener, die Zwillinge hoch oben im Gebirge zu dem Flammenadler zu bringen, damit dieser eine von ihnen auswählte. Als die Königin davon erfuhr, richtete sie es so ein, dass niemand erkennen konnte, dass eine der Zwillinge in Wirklichkeit ein Murmeltier war. Und so kam es, dass der Flammenadler das Murmeltier wählte. Doch kurz darauf entkam das Tierchen, und verschwand in einer Felsspalte. Der Adlerkönig schämte sich daraufhin sehr, das Kind seines neuen Verbündeten verloren zu haben.

Einige Zeit später brachte der Adlerkönig einen jungen Adler, seinen Sohn, ins Fánesreich, um seinen Teil des Austauschs zu erfüllen. Doch auch der Fáneskönig verlor seinen Zwilling, bei einem Unfall auf dem Rückweg. Als er zu seinem Schloss zurückkehrte, stellte er jedoch fest, dass die Königin unterdessen einen Jungen zur Welt gebracht hatte. Das Kind war einarmig, und so wusste der König: es war der Adlerprinz. Er war erleichtert, und befahl, das Murmeltier, das auf die Burgmauern gemalt war, durch einen Adler ersetzen.


Interessant ist hier die Gegenüberstellung der Königin und des Königs. Während in der Ursprungssage von Königinnen die Rede ist, und ein König erst relevant wird, wenn das Volk einen Kriegsherren braucht, wechselt nun die Rolle des Mannes. Die Königin, eine Nachfahrin Moltinas, trägt die Tradition des Bündnisses mit den friedliebenden Murmeltieren weiter, symbolisiert durch die Zwillingsgeburt Dolasíllas und eines Murmeltiers. Dem gegenüber steht der Anspruch des Königs, das Murmeltier durch den Adler als Totemtier der Fánes zu ersetzen: Ein Zeichen für einen gesellschaftlichen Wandel hin zu einem patriarchalischen, kriegerischen Modell, reflektiert durch eine neue mythologische Ausrichtung des Stammes? Zumindest ein Warnsignal für das Matriarchat. Dolasílla wird ihre Ansprüche gegen ihren Bruder durchsetzen müssen.

Aber wie kommt es, dass der König überhaupt eine Möglichkeit sieht, seinen Machtanspruch durchzusetzen?

Die Königin verhält sich zunächst korrekt: Sie wählt, entsprechend der auf Moltina zurückgehenden Tradition, einen sippenfremden Mann, und sie vererbt das Totem an ihre Kinder. So weit, so gut, kein Gebot wurde verletzt. Aber warum heißt es in der Sage, die Königin hätte ihrem Mann die Allianz mit den Murmeltieren enthüllen müssen? Würde es nicht viel mehr Sinn ergeben, wenn sie diese Verbindung, genau wie ihre Vorfahrin Moltina, geheimhalten müsste?

Vermutlich ist hier wirklich über die Jahrhunderte des Wieder- und Wiedererzählens etwas durcheinandergeraten. Der Frevel von Dolasíllas Mutter dürfte nicht darin bestanden haben, dass sie ihrem Mann die Verbindung mit den Murmeltieren verschwieg, sondern darin, dass sie sie ihm verriet. Nur ein solcher Frevel wäre schwerwiegend genug, um den bevorstehenden Untergang ihres ganzen Reiches nach sich zu ziehen: Sie hätte damit das Totemtier beleidigt, das daraufhin den Fánes seinen Schutz entzog.


Ein Krieger braucht eine Burg. Und so machten wir uns nun auf zu der breiten Einsenkung zwischen Ciastel de Fánes und den Steilhängen des Zehnerkofels, wo Innerebner 1953 auf 2600m Höhe die Überreste einer vorgeschichtlichen Wallburg entdeckt haben will.

Ein mühsames Unterfangen in diesem weglosen Gelände. Karst, soweit das Auge reicht, bedeckt von endlosem Geröll. Gletscher hatten vor tausenden von Jahren das riesige Becken der Fánesalm geschaffen, und es mit Moränen bedeckt. Wie sollte man hier oben Spuren menschlicher Behausungen finden? Zauberkräfte müsste man haben...


Die Sage von Ey de Nét und Spina de Mùl
 
Ein Junge, der ein Krieger werden wollte, langte in der Abenddämmerung aus dem Land der Duránni an den Grenzen des Territoriums der Fánes an, als nicht weit entfernt der Diener, der mit Dolasílla vom Treffen mit dem Flammenadler zurückkehrte, von dem mächtigen Zauberer Spina de Mùl (d. h. Maultiergerippe), angegriffen wurde. Spina de Mùl, aus dem Volk der Lastoyères, konnte die Gestalt eines halb verwesten Maultierkadavers annehmen und war unbesiegbar. Der Junge, der von alldem nichts wusste, griff ihn in der Dunkelheit an, verletzte den Zauberer wiederholt mit Steinen, und schaffte es schließlich, ihn in die Flucht zu schlagen. Der Zauberer gab ihm daraufhin den Namen "Ey de Nét" ("Auge der Nacht") und floh in die Dunkelheit. Ey de Nét fand einen herrlichen Edelstein, die Rayéta, den der Zauberer im Kampf verloren hatte. Weil er sah, dass dieser Stein sie zu beruhigen vermochte, schenkte er ihn der kleinen Dolasílla, die ob der Ereignisse heftig weinte.

Ey de Nét besiegt Spina de Mùl im Kampf – doch der ist ihm deshalb offenbar nicht weiter böse. Anstatt sich an Ey de Nét zu rächen, gibt Spina de Mùl ihm einen Namen, und überlässt ihm die Rayéta. Und wer ist Ey de Nét eigentlich? Er wird hier als einer der Duránni beschrieben, später sogar als Duránni-Prinz, doch seine Bindung an dieses Reich spielt im weiteren Verlauf keine Rolle. Offenbar steckt mehr hinter hinter der Figur und ihrer Verbindung zu Spina de Mùl...
 
Die gesamte Kampfszene ist nichts anderes als ein Initiationsritus: Um seinen Namen zu erhalten, der ihm Zugang zur Gesellschaft der Männer gewährt, muss der Knabe seine Ängste besiegen und den Geist des Todes niederschlagen. Der Schamane des Stammes hat sich deshalb als halb verwestes Maultiergerippe gewandet, um Tod und Verwesung zu repräsentieren, die der Junge auf dem Weg zum Mann zu überwinden hat. Archaische Züge, selbst im Rahmen der Fánis-Sagen. Vermutlich liegt hier eine noch viel ältere Erzählschicht vor, von einigen Gelehrten wird sie sogar in die Steinzeit datiert. Wie das Totemtier ist auch der Schamane kein Element einheimischer Kultur, sondern dürfte entweder auf eine ältere Bevölkerung zurückgehen, oder (z. B. in der Zeit der Völkerwanderung) in den Dolomitenraum importiert worden sein. In beiden Fällen wurde das jeweilige Element nicht mehr gemäß seines ursprünglichen Sinnes verstanden, sondern im Rahmen der neuen Kultur uminterpretiert.


Wir umrundeten nun das Ciastel de Fánes, den Kompass in der Hand, und hielten Ausschau nach dem Ringwall Innerebners. Auf der Ostseite war schon einmal nichts zusehen, deshalb entschieden wir, auf einem grünen Buckel eine erste Pause zu machen. Wir verspeisten unsere Marende, holten zum vielten Male unsere Karte hervor, setzten den Kompass darauf, und diskutierten darüber, wo sich der Hauptsitz des Fánesreichs einst befunden haben mag. Es musste doch hier irgendwo sein....



Die Sage vom Reich der Fánes

1. Die Zauberpfeile

Dolasíllas Vater war ein machthungriger Mann, und immer auf der Suche nach Silber und Gold. Eines Tages, als er mit seinen Leuten in der Nähe von Canazei am Silbersee (Lech d'Ardyént) wieder nach Schätzen grub, raubte er einer Gruppe von Zwergen einige wertvolle Gegenstände. Dolasílla aber taten die Zwerge leid, und sie gab ihnen heimlich das Raubgut wieder zurück. Die Zwerge schenkten ihr daraufhin aus Dankbarkeit einen weißen Panzer, der sie vor Pfeilen schützen würde, und sie sagten ihr voraus, dass sie damit eine große Kriegsheldin werden würde. Aber sie warnten Dolasilla auch: Sollte sich der Panzer einmal dunkel verfärben, dürfe sie keinesfalls in den Kampf ziehen - denn sonst müsse sie sterben. Außerdem weissagten die Zwerge, dass Dolasílla nur so lange eine Kriegsheldin sein werde, wie sie nicht heirate - danach würden ihre übernatürlichen Kräfte verfallen. Daraufhin streuten sie ein Pulver in den See, und sagten voraus, dass dort am Ufer bald etwas heranwachsen werde. Dann zogen sie von dannen.

Als der König erfuhr, was Dolasílla getan hatte, wurde er zunächst sehr wütend auf seine Tochter. Doch als er hörte, dass sie eine große Kriegsheldin werden würde, beruhigte sich sein Gemüt. Später ließ er nachsehen, was da am Silbersee herangewachsen sei. Die Männer des Königs fanden rund um den See Schilf aus Silber. Und die Fánesleute entdecken, dass man daraus unfehlbare Zauberpfeile herstellen konnte.

Warnungen davor, es könne auf Dauer nicht gutgehen, mit Zauberei in den Kampf zu ziehen, schlug der König in den Wind, und in den nächsten Jahren stürmten die Fánesleute mit Dolasílla und den unfehlbaren Zauberpfeilen von Sieg zu Sieg. Aus Dankbarkeit dafür ließ der König seine Tochter auf dem Kronplatz mit der Rayéta krönen, jenem Stein, den Ey de Nét einst Spina de Mùl abgenommen hatte.


Ja, die Zauberpfeile! Dolasíllas Waffen (Bogen, Pfeile) sind ja eigentlich keine Kriegs-, sondern Jagdwaffen. Sie tragen symbolische Bedeutung: Die dreizehn Pfeile verweisen auf die dreizehn „Monde“ im Mondkalender, und der silberne Bogen, mit dem sie sie abschießt, ist ein Verweis auf die Mondsichel, ein Symbol der Jungfräulichkeit. Dolasílla wird damit als jungfräuliche Jägerin erkennbar, die als zukunftsgewisse Schutzgöttin des Reichs seine unbesiegbare Herrlichkeit und die Unverletzlichkeit seiner Grenzen symbolisiert.

Zwei wundersame Eigenschaften werden den Pfeilen zugeschrieben: Sie haben eine außergewöhnliche Durchschlagskraft, und sie sind unfehlbar. Der historische Hintergrund mag darin bestehen, dass hier neue Waffen aus neuen Materialien ins Spiel kommen. Nicht umsonst bekommt Dolasílla ihre Ausrüstung von Zwergen, mythischen Umformungen von Bergleuten (kleine Menschen konnten sich weitaus besser in den niedrigen Stollen bewegen): Diese Bergleute schürften Metalle, und aus diesen konnte man durchschlagskräftigere Waffen herstellen. Und die metallenen Schäfte sind natürlich auch weitaus zielgenauer als andere Materialien.

Dolasílla, die ihre Ansprüche gegen ihren Bruder durchsetzen muss, kann mit diesen Waffen beweisen, dass sie die beste Kämpferin ist. Und ihr Plan geht auf: Tatsächlich krönt der König sie, und nicht den Adlerprinzen nach dem siegreichen Feldzug auf dem Kronplatz.


2. Das Bündnis Spina de Mùls

Unterdessen versuchte Spina de Mùl, ein neues, großes Bündnis gegen das Fánesreich zu schmieden. Er konnte neben seinen eigenen Lastoyères die Peleghétes und die Duránni davon überzeugen, dass die von Sieg zu Sieg eilenden Fánes auch ihre Grenzen bald bedrohen würden. Er selbst hatte es allerdings auf die Rayéta abgesehen, mit der Dolasílla auf dem Kronplatz gekrönt worden war.

Spina de Mùl konnte den kampferprobten Duránniprinzen Ey de Nét überzeugen, auf der Seite des Bündnisses zu kämpfen, unter der Bedingung, dass Dolasílla nichts geschehe, denn Ey de Nét wollte nicht gegen eine Frau kämpfen. Doch der wahre Plan des Zauberers bestand darin, die Rayéta zu rauben und Dolasílla zu töten.

An der Seite ihres Bruders, des Adlerprinzen, ritt sie in die Schlacht. Als Ey de Nét im Kampf Dolasílla auf dem Schlachtross in ihrem weißen Panzer erblickte, war er tief von ihr beeindruckt, ebenso Dolasílla, die den jungen Kämpfer zu kennen glaubte. Spina de Mùl nutzte diesen Moment, und schoss, hinter dem Rücken Ey de Néts verborgen, einen Zauberpfeil auf Dolasílla, der sie schwer verletzte. Offensichtlich konnte ihr Panzer zwar normale Pfeile abwehren, aber keine Zauberpfeile. Ey de Nét erkannte, dass er von Spina de Mùl hintergangen worden war, und wandte sich gegen ihn. Dolasílla wurde fortgebracht, und die Fánes gewannen die Schlacht.


Warum ist Dolasílla plötzlich verletzlich? Na klar, Spina de Mùl schoss nicht mit einem normalen Pfeil auf sie, sondern mit einem Zauberpfeil. Aber es steckt wohl mehr dahinter: Ursprünglich dürfte es der vermutliche Tabubruch der Mutter gewesen sein (falls sie in einer älteren Fassung tatsächlich ihrem Mann das Geheimnis des Totemtiers verraten hatte). Sie hätte damit das Totemtier beleidigt, das daraufhin den Fánes seinen Schutz entzog. Dies würde nun symbolisiert durch die Verletzlichkeit Dolasíllas.



3. Die Prophezeiung der Tsikúta

Als die Schlacht geschlagen war, verließ Ey de Nét die Duránni und durchstreifte die Wälder, Dolasílla nachsinnend. Eine Anguàna warnte ihn, sich mit ihr einzulassen, Dolasíllas Vater werde sie ins Verderben stürzen. Doch das bestärkte ihn nur in seinem Wunsch, Dolasílla zu beschützen. Eine Krähe wies Ey de Nét den Weg zum Megón de Megòyes, wo er auf einem von rotem Mohn bewachsenen Hügel der widerwärtigen Tsikúta begegnete, einer Schwester Spina de Mùls. Diese hatte einst gehofft, der heutige Fáneskönig werde sie heiraten, und als er sich anders besann, hatte sie beschlossen, sich an ihn zu rächen. Sie sprach verächtlich von dem König und Dolasílla, und prophezeite ihm, dass Dolasílla ihm eines Tages ein Versprechen brechen würde. Doch gegen Ey de Nét selbst hegte sie keinen Zorn, und so riet sie ihm, sich von den Zwergen im Làtemar einen schweren Schild schmieden zu lassen, der auch Zauberpfeile abhalten konnte, um Dolasíllas Schwäche auszugleichen.

Der neue Schild war so schwer, dass allein Ey de Nét ihn zu tragen vermochte. Und so wurde er von den Fánesleuten in ihre Reihen aufgenommen. Von nun an zog er zusammen mit Dolasilla in die Schlacht, und trug ihren Schild. Sie versprach ihm, niemals ohne ihn in die Schlacht zu ziehen.


Noch einmal: Ey de Nét und Spina de Mùl. Warum sucht Spina de Mùl ausgerechnet bei Ey de Nét nach Unterstützung? Worin besteht da die Beziehung? Und auch zur Tsikúta besteht eine interessante Verbindung: Ey de Nét wird der schwer zu findende Weg zu ihr gewiesen, sie empfängt ihn freundlich, obwohl sie als eine widerwärtige Person beschreiben wird, und zudem in ihm einen Gegner ihres Bruders erkennen müsste, und schließlich gibt sie ihm auch noch einen guten Rat, der ihm hilft, Dolasílla zu beschützen, obwohl sie allen Grund hätte, ihren Vater und seine Sippe zu hassen.
 
Was also steckt hinter der besonderen Beziehung zu Spina de Mùl und der Tsikúta? Ulrike Kindl hat vorgeschlagen, in Ey de Nét wenn nicht den Sohn Spina de Mùls, so doch zumindest seinen Neffen zu sehen: Den Sohn der Tsikúta. Dies würde die Hilfsbereitschaft der beiden erklären.
 
Und wer könnte sein Vater sein? Die Sage erzählt, dass der spätere Fáneskönig zunächst eine Verbindung mit der Tsikúta erwogen hatte. Könnte in ihm der Vater Ey de Néts zu erkennen sein?
 
Vor dem Hintergrund all dessen: Wie stehen Spina de Mùl und die Tsikúta eigentlich zur Murmeltiersippe? Auf jeden Fall wird die Tsikúta in ihre Nähe gerückt: sie haust unter der Erde, und die rote Farbe ihrer Mohnblumen verweist auf Moltina. In Spina de Mùl wiederum wäre der Schamane der Murmeltiersippe zu erkennen. Auch das würde die Hilfsbereitschaft der beiden erklären. Angenommen, die beiden gehörten tatsächlich zur Murmeltiersippe, und Ey de Nét wäre in einer verlorenen ursprünglichen Version der Erzählung der Sohn der Tsikúta – dann wäre auch er ein Murmeltier. Und da Dolasílla durch den vermutlichen Tabubruch ihrer Mutter beschädigt ist, liegt die Hoffnung der Murmeltiersippe nun auf ihm: Ey de Nét ist es, ihr Mit-Murmeltier, der ihren Schutz wiederherstellen kann, mit seinem schweren Schild, dass den erneuerten Schutz des Totemtiers repräsentiert. Doch seine Nähe zu Dolasílla birgt auch neue Risiken. Denn eine Verbindung mit Dolasílla wäre ein Frevel. Das ist der Grund, warum die Tsikúta ihn warnt, sich mit Dolasílla einzulassen. Mal sehen, was nun geschieht...
 

4. Der Verrat des Königs

Zunächst waren Dolasilla und Ey de Nét nur Kampfgefährten, doch schließlich hielt Ey de Nét bei ihrem Vater um Dolasíllas Hand an. Aber der König erinnerte sich an die Weissagung, dass Dolasílla ihre Kampfkraft verlieren werde, wenn sie heirate, und lehnte ab. Immer weiter steigerte sich der Zwist zwischen den beiden Kriegern und dem König, da sann er auf eine List: Lange schon hatte er den versunkenen Schatz in der Auróna begehrt. Doch um diesen heben zu können, bedurfte es vieler tausender Arbeiter, mehr als die Fánesleute aufzubringen vermochten. Und so schloss der König ein Bündnis mit seinen Feinden, den Cayùtes: Wenn sie ihm helfen würden, den Schatz zu finden, würde er in die Auróna ziehen, und sein Reich den Cayùtes überlassen. Da die Fánes dem niemals zustimmen würden, sollten die Cayùtes sie angreifen. Der Fáneskönig würde dafür sorgen, dass Dolasílla nicht kämpfte.

Um das zu bewerkstelligen, verbannte er Ey de Nét aus seinem Reich. Dann
zog er sich, wie mit den Cayùtes verabredet, an den Berg Lagazuoi zurück, um die Niederlage seines Volkes abzuwarten.

Als Dolasílla von Ey de Néts Verbannung erfuhr, weigerte sie sich, in den Kampf zu ziehen. Doch der Heermeister, ihre Mutter und die Fánesleute erflehten inständig ihren Beistand, so dass sie schließlich nachgab, und damit ihr Versprechen an Ey de Nét brach, niemals mehr ohne ihn in die Schlacht zu ziehen. Die Tsikúta hatte Recht behalten.

Am Vorabend der Schlacht ritt Dolasílla traurig und entmutigt durch die Wälder.
Da begegnete sie auf den Armentàrawiesen einer Gruppe von fremden, verwahrlosten Kindern. Die Kinder bettelten solange, bis Dolasílla aus Mitleid jedem einen ihrer unfehlbaren Pfeile gab, bis sie am Ende keinen mehr übrig hatte. Dolasílla ahnte nicht, dass die Kinder von dem Zauberer Spina de Mùl und seiner Schwester Tsikúta geschickt worden waren, um ihr die unfehlbaren Zauberpfeile durch diese List abzunehmen. Die beiden standen mit den Cayùtes im Bunde, die sich wiederum mit den Lastoyères und den Peleghétes verbündet hatten, den alten Feinden des Fánesreichs. Ihnen übergaben sie die Zauberpfeile, mit denen die Feinde nun, da Ey de Nét fort war, Dolasílla besiegen konnten.

Als die Entscheidungsschlacht auf der Pralongià unmittelbar bevorstand, verfärbte sich plötzlich Dolasíllas Zauberpanzer schwarz. Doch wieder konnte sie sich dem Flehen der verzweifelten Fánesleute nicht verschließen, und sie ritt, trotz des schlimmen Omens, ohne ihre Zauberpfeile und ohne Ey de Nét an der Seite ihres Bruders, des Adlerprinzen, in die Schlacht.

Die Feinde, die ja nicht ahnten, dass sich Dolasíllas Panzer schwarz verfärbt hatte, konnten sie so unter den Kämpfern der Fánesleute nicht gleich entdecken, und glaubten, dass der falsche, verräterische König Wort gehalten hatte. Doch schließlich erkannten sie sie doch, und erst mit Hilfe der Zauberpfeile, die Spina de Mùl Dolasílla abgenommen hatte, töteten sie sie, nach einen hartem, erbitterten Kampf und unter großen Verlusten. In diesem Moment kehrte Ey de Nét zurück, der von all dem gehört hatte. Doch er kam zu spät: Am Ende rangen die Feinde alle Kämpfer des Fánesreichs nieder. Die Königin und der schwer verwundete Adlerprinz konnten sich in die Fánesburg retten, die Sache der Fánesleute aber war verloren, in einer Schlacht, von der sich das Reich der Fánes nie wieder erholt hat.

Dolasíllas Vater ahnte von all dem nichts. Er wartete, wie vereinbart, am Lagazuoi, in der Meinung, der Sieg sei den Feinden in den Schoß gefallen, und hoffte auf seine Belohnung. Doch die Feinde fühlten sich ihrerseits von ihm hintergangen, da Dolasílla entgegen seinen Versprechungen am Ende doch gekämpft, und ihnen große Verluste beigebracht hatte. Sie dachten gar nicht daran, dem falschen König das versprochene Gold zu übergeben. Daraufhin verwandelte sich der König in Stein. Bis heute kann man den "Falschen König" (falza rego) noch am Falzaregopass sehen...


Der König weiß, dass nach der Tradition der Fánes allein Dolasílla und ihren Kindern die Erbfolge gebührt. Wenn er die Herrschaft übernehmen will, dann geht das nur, wenn Dolasílla unverheiratet bleibt. Denn sobald sie heiratet, geht die Kriegerfunktion auf ihren Gatten über, und die Erbfolge auf ihre Tochter. Bleibt Dolasílla aber unverheiratet, bricht die Fruchtbarkeit der Murmeltiersippe ab. Der König versucht also offenbar, das Murmeltier gegen den Adler zu tauschen, seinen Sohn in die Erbfolge einzusetzen, und damit die Matrilinearität zu durchbrechen: Darin besteht der Verrat des Königs.

Warum betritt aber Dolasílla trotz aller Warnungen und Omen überhaupt das Schlachtfeld? Ihr Motiv dürfte ihre Absicht sein, die Matrilinearität zu bewahren, und ihre Rechte auf den Thron zu verteidigen. Schließlich hatte ihr Vater dafür gesorgt, dass ein Adler als Emblem auf die Burgmauer gemalt worden war.

Doch Dolasílla stirbt schließlich. Es ist zum einen der vermutliche Tabubruch ihrer Mutter, zum anderen die gefährliche Nähe zu Ey de Nét, die Dolasílla und ihr Reich bedrohten. Hätten die beiden ihre Verbindung vollzogen (worüber die Sage schweigt), dann hätte nach diesem Frevel das Totemtier der Sippe seinen Schutz entzogen, und das Reich muss nun untergehen.

 

Hier auf der Kleinen Fánisalm ist von alldem nichts zu sehen. Gar nichts. Weder im Osten, noch im Norden, noch im Süden des Ciastel de Fanes. Wir stiegen sogar noch auf den Gipfel - es gibt eine Steigspur, die, von Süden kommend, den Nordwesthang zum Gipfel hinauf führt - aber auch von oben war nichts zu sehen: Gefunden haben wir nur ein endloses Meer an Geröll und Felsblöcken - von menschlichen Bauten keine Spur. Sollte es sich bei Innerebners Befunden nur um eine Über-, oder gar eine Fehlinterpretation handeln?

Nun, Georg Innerebner (1893-1974) war kein professioneller Archäologe, sondern so eine Art leidenschaftlicher Amateur. Wie sich herausstellte, war seine "Expedition" zum Ciastel de Fánes 1953 nicht viel mehr als ein Sonntagsausflug, den er zusammen mit seinen Töchtern unternahm. Man braucht kein Geologe zu sein, um vor Ort zu erkennen, dass die Bergfestung in Wirklichkeit nichts anderes ist als ein Moränenwall. Tatsächlich haben Geologen die Stelle unter die Lupe genommen, und dort nichts entdeckt, was auf irgendeine menschliche Bautätigkeit schließen lässt. Ein Moränenwall, nichts weiter.

Das zweite Indiz, das Innerebner vorgefunden hatte, die "Scherbenstücke in grober Ausführung", existieren offenbar nicht, es ist jedenfalls nicht bekannt, dass sie irgendwo aufbewahrt würden. Was Innerebner dazu bewogen haben mag, seine Entdeckungen in die späte Bronzezeit zu datieren, ist also unklar. Was immer er gesehen haben mag, vermutlich datierte er es aufgrund keiner anderen Anhaltspunkte, als dass es grob aussah, und deshalb alt sein müsse.

Es gab seit Innerebners Bericht 1953 im "Schlern" dementsprechend keine archäologischen Untersuchungen der angeblichen Festungsruine am Ciastel de Fánes. Es stellt sich auch die Frage, was mit einer derart großen Anlage, einem Turm mit einer 200 Meter langen Wehrmauer, in diesem unzugänglichen, strategisch unsinnigen, und zur Besiedlung ungeeigneten Gelände hätte bezweckt werden sollen? In 2600 Metern Höhe? Allein die Versorgungsfrage: Die Fánes-Alm ist ein Karstbecken, bis auf ein paar Seelein versickert da jeder Tropfen Wasser auf der Stelle.

Eine Burg hat es dort oben also nicht gegeben. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass auch in vor- und frühgeschichtlicher Zeit in den Sommermonaten Hirten ihre Tiere in niedrigeren Lagen der Fánes-Alm weideten, ganz ähnlich wie heute. Und vor dem Hintergrund von Steinzeitfunden aus dem Latemargebiet und aus Gröden ist auch denkbar, dass bereits mesolithische Jäger diese Landschaft auf Jagdzügen betreten haben. Eine feste Burg aber ergibt dort oben keinen Sinn - außer man ist Atlantologe, die vermuten hier nämlich einen Stützpunkt der Atlanter. Nun ja...


Wir beschlossen, es dabei zu belassen, und an diesem Tag lieber noch einen Gipfel zu besteigen. Unsere Wahl fiel auf den Heiligkreuzkofel, ladinisch Sass dla Crusc. Zu diesem Zweck wandten wir uns nach Südwesten, und hielten auf den Wanderweg zu, der dort, von den Hütten her kommend, zur Kreuzkofelscharte (Ju dla Crusc) verlief.

Da donnerte es plötzlich, genau über uns. Schon eine ganze Weile waren dunkle Wolken über uns hinweggezogen, nun hatten sie angehalten, um uns ein Gewitter zu bescheren. Hatten wir uns zu tief ins Reich der Fánes vorgewagt?

Wir fanden Schutz unter einem Überhang, wie er einst auch steinzeitlichen Jägern als Schutz gedient haben mag. Länger als eine Stunde mussten wir hier ausharren, bis sich das Gewitter verzogen hatte, und die Luft wieder hell und klar geworden war. Dann machten wir uns an den Weiterweg.

Nach einem schier endlosen Marsch durch die Steinwüste gelangten wir in der Nähe der Scharte auf den gut markierten Wanderweg. Wir stiegen hinauf in die Kreuzkofelscharte (2612m) und wandten uns nach rechts, hinauf zum Heiligkreuzkofel.

Ein Steig führt aus der Kreuzkofelscharte immer in der Nähe des senkrechten Abbruchs zur Linken hinauf zum Gipfel. An einigen Stellen kann man problemlos an die Kante vortreten, und, wenn man sich traut, einen schwindelerregenden Blick in die Tiefe wagen. Es geht hunderte von Metern lotrecht hinunter...

Dann geht es über Schrofen, und zuletzt über schuttigen Fels hinauf zum Gipfel des Heiligkreuzkofels (Sass dla Crusc, 2907m). Ein leichter Wanderberg, von dieser Seite aus, und unsere Blicke schweiften sehnsüchtig hinüber zum schwierigeren Zehner.

Und überhaupt in die Runde! Denn der Sass dla Crusc ist ein toller Aussichtsberg!

Unter anderem zu sehen: der Großvenediger und – zwischen Zehner und Neuner - der Großglockner, davor Steingrubenkogel und Kreuzspitze, Regenstein und Rappler, dann der Ankogel, in den Dolos die Hohe Gaisl, die Sextener Rotwand, Elfer und Zwölfer, Paternkofel und die Drei Zinnen, Monte Cristallo und Pomagagnon, Antelao und Sorapiss, die Tofanen, Civetta, Marmolada,
Piz Boe, 110 Kilometer entfernt Königspitze, Zebru und Ortler, Wildspitze, Watzespitze,  Olperer - einfach fantastisch!

Doch unsere Zeit wurde knapp, und so kehrten wir zurück in die Kreuzkofelscharte, und wanderten von dort aus, diesmal den südlicheren Weg nehmend, zurück zu unserem Ausgangspunkt. Und während wir über die grünen Matten wanderten, schweiften unsere Gedanken noch einmal zurück zur letzten Schlacht der Fánesleute.


Die Sage von der Wiederkunft des Fánesreichs
 
1. Die Rückkehr Lujàntas


Eine Version der Sage erzählt von der überraschenden Rückkehr von Dolasíllas Schwester Lujànta im Augenblick höchster Not. Während der letzten Schlacht, just als die Feinde die Burg der Fánes angriffen, erschien plötzlich Lujànta, die von der Fàneskönigin einst gemäß dem alten Brauch des Zwillingstauschs den Murmeltieren, den alten Verbündeten der Fànesleute übergeben worden war. Lujànta schlug die Feinde in die Flucht. Doch die Fánesburg war trotzdem verloren.

Die Königin erneuerte das Bündnis mit den Murmeltieren, und sie erklärten Lujànta, wie man die letzten Verteidiger über einen unterirdischen Pfad aus der Burg evakuieren könne. Und sie weissagten ihr eine Chance, ihr verlorenes Königreich wiederzugewinnen. Und so flohen die letzten Verteidiger der Burg durch die unterirdische Passage. Schließlich erreichten die Fliehenden eine große Halle, in der die Murmeltiere überwintern.


Luyànta ist ursprünglich wohl nur ein Beiname Dolasíllas, mit der Bedeutung ‚die Leuchtende‘. Hier wurde also einst wohl von der Wiederkunft Dolasíllas erzählt. Mal sehen, ob die Fánesleute dadurch eine zweite Chance bekommen:



2. Der Wiederaufstieg der Fánes

Währenddessen plünderten die Feinde das Land und verwüsteten alles. Dabei fand auch Spina de Mùl mit Hilfe einer Krähe seine Rayéta wieder. Doch genau so wie die Murmeltiere es prophezeit hatten, kämpften die Fánes sieben Sommer lang tapfer weiter, und eroberten Jahr für Jahr einen weiteren Berggipfel zurück. Die Fánes errangen ihre Siege durch ihre uralte Taktik: Sie schlugen überraschend zu, und verschwanden dann in ihren Höhlen, in denen sie auch alle Winter verbrachten. Nur der Adlerprinz, versessen auf sein Erbe, das der alte König mit Hilfe seiner Tochter Dolasílla erobert hatte, war bestrebt, ausnahmslos sämtliche Eroberungen der Fánes zurückzugewinnen. Als er keine Unterstützung fand, verließ er die Fánes.
 
Nach sieben langen Jahren erklärten die Murmeltiere, dass der Krieg zu Ende sein würde, wenn Lujànta Ey de Nét heiraten könnte. Doch der Held hatte den Verlust Dolasíllas verwunden, und war bereits mit Soreghina vermählt.

Unterdessen war auch der Adlerprinz auf der Insel der Einarmigen ein glücklicher Ehemann geworden. Eines Tages jedoch erschien der Flammenadler auf der Insel, und eröffnete ihm, dass es eine Möglichkeit gebe, Dolasíllas Zauberpfeile wiederzugewinnen. Da zögerte der Adlerprinz keinen Moment, und verließ mit dem Flammenadler die Insel.


Andernorts waren die Fánes und ihre Feinde endlich zu einer Friedensregelung gekommen: Sie würden das Land zurückbekommen, das seit jeher ihr Territorium gewesen war, aber keine ihrer späteren Eroberungen.


3. Der Untergang der Fánes

Als dieser Pakt kurz vor der Besiegelung stand, kehrte plötzlich der Adlerprinz zurück, und lehnte die Einigung ab. Nichts weniger als das gesamte Reich zum Zeitpunkt von Dolasíllas Tod forderte er. Als sich daraufhin jede weitere Vereinbarung als unmöglich erwies, wurde erneut der Krieg erklärt.
 
In einer letzten verzweifelten Schlacht, die im Herzen ihres Landes, um die Fúrtya dai Fèrs (die Eisengabel), stattfand, kamen den Fánes überraschend ihre Verbündeten, das Volk der Einarmigen, zu Hilfe. Sie stiegen in Aldermänteln vom Himmel herab, jeder ein Schwert in der Hand, und stürzten sich auf die Feinde der Fànis. Dennoch wurden die Fánes am Ende von einer ungeheuren Koalition, die sich aus allen ihren Feinden zusammensetzte, besiegt. Wölfe, Krähen und Geier stürzten sich auf die Leichen der Fánesleute: Männer und Frauen, Alte und Kinder, die alle während der Schlacht ihr Leben verloren hatten.


Ein letztes Mal wird der Konflikt zwischen den Frauen und den Männern der Fánesleute deutlich: Die Königin übernimmt die Führung nach dem Verschwinden des Königs. Als die Verteidigung der Burg zu scheitern droht, erneuert sie das alte Bündnis mit den ursprünglichen Totemtieren der Fánes, den Murmeltieren, und führt die Reste ihres Volks in deren unterirdisches Reich.

Später sind es die Königin und ihre Murmeltier-Tochter Lujànta, die einen Frieden aushandeln. Doch die junge Generation der Krieger mit ihrem neuen Totemtier, repräsentiert durch den Adlerprinzen, will sich nicht mit dem Vereinbarten zufrieden geben, und alles zurückgewinnen, einschließlich ihrer späteren Eroberungen. Und so ist das Schicksal der Fánes besiegelt.



4. Eine letzte Hoffnung

Lediglich zwanzig Menschen, nur Frauen und Kinder, darunter die Königin und Lujànta, konnten dem Massaker entkommen, indem sie sich unter den Murmeltieren versteckten. Da traf der Flammenadler bei ihnen ein, und brachte ihnen einen kleinen Jungen: Es war der Sohn des Adlerprinzen. Und er sagte den Fánesleuten voraus, dass das Königreich wiedergeboren werde, falls der Junge in der Lage wäre, die unfehlbaren Zauberpfeile zurückzugewinnen, und am richtigen Ort zu sein, wenn silberne Posaunen die "Große Stunde" ankündigten. Daraufhin brachte er den Knaben nach Contrín, wo er von König Odolghes, der auch "Sábya da Fög", Feuerschwert, genannt wurde, zum Krieger ausgebildet werden sollte.

Die Königin und Luyànta aber zogen sich zurück in jenen See, aus dem ein Felsentor in unbekannte Tiefen führt. Dort wollten sie auf das Erklingen der silbernen Posaunen und die Ankunft des jungen Helden warten, auf dessen Schultern die Hoffnung der Fánesleute ruhte. Doch Odolghes verlor sein Reich, und Lidsanèl, der Fánesprinz, dem geweissagt war, er könne das Königreich der Fánes wiederauferstehen lassen, schlug drei Mal die Möglichkeit aus, die ihm eine Vivèna ihm bot, die unfehlbaren Zauberpfeile zurückzugewinnen. Und so kamen seit jener Zeit die Königin und Lujànta vergeblich Jahr für Jahr bei Mondschein aus dem Steintor unter der Sass dla Porta (d. h. "Gipfel des Tors") heraus, ruderten um den Pragser Wildsee, und warteten darauf, dass der Enkel der Königin mit den unfehlbaren Pfeilen zurückkehrte.

Und eines Nachts kam die Große Stunde, und zum letzten Mal ertönte von jedem Berggipfel eine silberne Posaune. Doch Lidsanèl war tot, und niemand war mehr da, ihren Ruf zu beantworten. Die Königin lauschte ihm ein letztes Mal, dann verschwand sie, um für immer auf dem Seegrund zu schlafen. Das Königreich der Fánes war versunken.


Der Adlerprinz will sich nicht mit dem Vereinbarten zufrieden geben. Als das geschieht, ist das Reich der Fánes dem Untergang geweiht. Die Zauberpfeile gehen verloren, Spina de Mùl holt sich die Rayéta zurück, und damit sind die Attribute der rechtmäßigen Herrschaft dem Herrscherhaus entzogen. Erst ein neuer, gereinigter Träger des Murmeltier-Totem könnte sie zurückgewinnen. Aber Lidsanel versagt. Warum?

Die Männer verursachen den Untergang: Der König durch seine Habsucht, der Sohn durch seinen Stolz, der Enkel durch seinen Ichbezug - aber auch durch seine Geburt: Sie können, gleich wie sehr sie sich anstrengen, den Untergang gar nicht verhindern, denn nach der Logik der Erbfolge ist zwar der Adlerprinz ein Murmeltier, nicht aber sein Sohn Lidsanel, weil das Totem nur über die Schwester weitervererbt werden kann. Lidsanel scheidet also aus der Erbfolge aus. Er ist, als Träger eines anderen Totems und damit im Grunde Sippenfremder, gar nicht in der Lage dazu, das Reich wiederzuerrichten, weil ihm die Legitimation und die Unterstützung durch die Murmeltiere fehlt.



5. Die Verheißung

Doch eines Tages wird die verheißene Zeit kommen, die Zeit des Friedens und der Gerechtigkeit, in der alle auferstehen, die gelitten haben in den Bergen, und für immer in Frieden leben werden.


Das war die Geschichte der Fánesleute, die uns an diesem Tag (und in den Wochen davor) beschäftigt hatte. Die Fánesburg hatten wir nicht gefunden, auch die verborgenen Höhlen der Murmeltiere nicht. Aber wir durften die faszinierende Landschaft der Fánesalm entdecken, einzigartig, selbst für die Dolomiten.

Und doch - wir hatten am Ende vielleicht doch etwas entdeckt: Die Murmeltiere. Gesehen hatten wir sie zwar nicht, aber wir hatten sie gehört. Es gab sie also noch, die alten Verbündeten der Fánisköniginnen...

Für Karl Felix Wolff bestand der historische Hintergrund der Sage vom Reich der Fánes in der Auseinandersetzung zwischen matriarchalischen und patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen: Die Jäger und Sammler seien matriarchalisch organisiert gewesen. Dabei sei die eigentliche Grundlage der Ernährung von den weiblichen Sammlerinnen mit ihren Gärten bereitgestellt worden, die von den Männern betriebene Jagd nur eine zusätzliche, unsichere Ernährungsquelle gewesen. Mit der Erfindung des Pflugs sei es zu einer Umwälzung gekommen: Nun konnte ein (männlicher) Bauer erheblich mehr Nahrungsmittel erzeugen, dafür war aber auch erheblich mehr Fläche nötig, als beim Gartenbau. Damit waren verschiedenen Stämme zum Gebietsausbau gezwungen. Die Folge seien kriegerische Auseinandersetzungen in einem patriarchalischen Zeitalter gewesen. Die Sagen, so Wolff, berichteten von diesen Umwälzungen.

Aber die Sagen vereinen Elemente, die unterschiedlich alt sind: Sonnenriten, Wassergottheiten, Schamanen, Initiationsriten und Totemtiere scheinen auf steinzeitliche Gesellschaften zurückzugehen. Der metallurgische Hintergrund der magischen Pfeile, der Zauberrüstung und des Schilds verweist in die Bronzezeit. Und die Konfrontationen mit den anderen Völkern scheinen in die Zeit größerer Besiedelungswellen im Dolomitenraum, vielleicht in die Völkerwanderungszeit zu weisen. Die Geschichten nennen die Namen jener Völker, die vom Fánes-König bedrängt wurden: Cayùtes, Peleghétes, Lastoyères, Duránni, dazu kommen die Landrínes und einige andere. Die Sagen um die Fánesleute reichen also in einen großen Zeitrau zurück, der um 1000, 1500 v. Chr. beginnt.

Diese verschiedenen Konfliktpotenziale werden zu einem Kreis von Geschichten vereint, die sich letztlich um den sozialen Konflikt zwischen den Befürwortern einer nicht-aggressiven Politik (den „Murmeltieren“) und den aggressiven Partisanenkämpfern (den "Adlern") drehen. Während die eine Gruppe, repräsentiert durch die Königin, für die Lebensweise der Jäger und Sammler steht, die sich im Konfliktfall den Murmeltieren gleich in die Höhlen der Berge zurückzogen, steht die andere, repräsentiert durch den König und den Adlerprinzen, für eine aggressive Lebensweise, die darin besteht, dass man benachbarte Stämme überfällt, und ihnen das raubt, was man zum Leben braucht: Metalle, Gold, Waffen. Das das auf Dauer nicht gutgehen konnte, wusste man offenbar schon in der Steinzeit. Könnt' man ja mal was draus lernen...



Ausrüstung

Ordentliche Schuhe, Zauberpfeile, Panzer, Zauberschild.


Literatur

  • Wolff, Karl Felix: Dolomitensagen. Sagen und Überlieferungen, Märchen und Erzählungen der ladinischen und deutschen Dolomitenbewohner. Mit zwei Exkursen Berner Klause und Gardasee. Unveränderter Nachdruck der 1989 in der Verlagsanstalt Tyrolia erschienenen sechzehnten Auflage. Bozen 2003 [1913].

  • Kindl, Ulrike: Märchen aus den Dolomiten. München 1992.

  • Kindl, Ulrike: Kritische Lektüre der Dolomitensagen von Karl Felix Wolff. Band II: Sagenzyklen – Die Erzählungen vom Reich der Fanes. Istitut Ladin Micurà de Rü. San Martin de Tor 1997.

  • Thalmann, Monika: Die Fanessage – Nationalepos der Ladiner. Frei nach Wolff, Karl Felix, Dolomitensagen, Tyrolia Verlag, Innsbruck 1989, S. 453 - 551. Siehe auch hier.




  • Memola, Federico/Federico Vicentini, Teresa Marzia: Im Reich der Fanes. Bozen 2018. Yep, das ist ein Comic!

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Kommentare (8)


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georgb hat gesagt: Respekt Nik
Gesendet am 22. Juni 2019 um 09:12
Du weißt mehr von den ladinischen Sagen als die Ladiner selber! Ich bin beruhigt, dachte schon, du hättest die Wallburg gefunden und alle Steinscherben und Schädelknochen mitgenommen ;-)
So bleibt die Fanesburg weiter ein Geheimnis. In den neuen Karten ist die Ausgrabungsstätte wieder verschwunden. Übrigens braut der Wirt auf der Lavarellahütte inzwischen sein eigenes Bier (ich habe es getestet und für sehr gut befunden) und es gibt dort auch eine Sauna. Für den Fall, dass du nochmal in die Gegend willst!
Wenn du die Zauberpfeile noch hast, bring sie bitte beim nächstenmal mit ;-)
Grüße

Nik Brückner hat gesagt: RE:Respekt Nik
Gesendet am 23. Juni 2019 um 09:33
Servus Georg!

Naaa, die Ladiner sind und bleiben die wahren Experten auf dem Gebiet. Einen Schädel habe ich jedenfalls nicht zuhaus. Aber ein Murmeltier... Aber es heißt Vinzenz, ist also kein ladinisches. Ich bin und bleibe also ein Laie.

Ja, dass die Ausgrabungsstätte aus den Karten verschwunden ist, das glaube ich gern - schließlich hat es sie nie gegeben. ;o} Aber so läuft das eben. Und in hundert Jahren noch werden die Atlantologen und Präastronautiker mit diesen Karten herumwedeln und sagen: Aber da oben muss etwas sein! Und die Wissenschaft will nicht, dass wir es entdecken, weil nicht sein kann, was nicht sein darf! Schaut her, sie haben es sogar aus den Karten löschen lassen!

Es hört nie auf, und so muss sich auch der Wirt auf der Lavarellahütte keine Sorgen um seine Besucherzahlen machen. Ich war viele Jahre später auch nochmal dort oben, Judith7 und ich sind auf dem Weg von Wien nach Monaco dort durchgekommen, und haben dort Mittagspause gemacht. Das Bier auf der Lavarellahütte haben wir allerdings nicht probiert. Vielleicht beim nächsten Mal. Danke für den Tipp!

Herzlichen Gruß,

Nik

Nic hat gesagt:
Gesendet am 22. Juni 2019 um 12:09
Habe zugegebenermaßen den Text nicht ganz gelesen, da zu lang und zu wenig Zeit. In den Stubaier Alpen gibt es auch einen Berg mit dem Namen "Hoher Burgstall". Ob da in früherer Zeit auch mal eine Burg stand? Ziemlich exponiert und abgeschieden.

Nik Brückner hat gesagt: RE:
Gesendet am 23. Juni 2019 um 09:25
Servus Nico!

Wie, Du hast nicht alles gelesen! Also sowas!

;o}

Ja, diese Berge, die "Burgstall" heißen - das ist so eine Sache. Berge erhalten ihre Namen oft nach dem Aussehen (Rote Spitze, Weißkugel), könnte also sein, dass ein Gipfel auch mal an eine Burg erinnert. Aber Burgstall? Das ist komisch. Und man weiß, dass Bergnamen oft vom Tal hinaufgewandert sind (irgendwo stehen Kühe -> das Kar über der Weide wird "Kühgund" genannt -> der Gipfel über dem Kühgund bekommt den Namen "Kühgundspitze"). Vielleicht befindet sich der Burgstall also einfach weiter unten. Im Gebirge haben Burgen meist Passübergänge geschützt, oder sollten Bergbau absichern. Im letzteren Fall macht eine Burg auch in einem abgelegenen Gebiet Sinn. Ich kann aber auch ganz falsch liegen, ein Experte bin ich auch nicht. In diesem Fall, im Fall der Fánissagen, liegt die Vermutung nahe, dass die Berge nach den Ereignissen der Sagen benannt wurden, und nicht umgekehrt. Die meisten Bergnamen sind nämlich noch gar nicht so alt. Viele stammen erst aus dem 19. Jahrhundert.

Gruß,

Nik

orome hat gesagt:
Gesendet am 22. Juni 2019 um 14:34
Wahnsinn, was du dir da für eine Arbeit mit den Berichten machst! Deine sagensammlung macht auf jeden fall spass!
Grüße manu

Nik Brückner hat gesagt: RE:
Gesendet am 23. Juni 2019 um 09:03
Mal dem Vala zuerst antworten. Servus Orome!

Ja, war viel Arbeit, aber es hat auch viel Spaß gemacht, das Gedächtnis wieder mel ein bisschen aufzufrischen - war eine wunderbare Tour damals, und die Geschichten sind großartig. Das macht's dann weniger anstrengend. ;o}

Gruß,

Nik

Schubi hat gesagt:
Gesendet am 22. Juni 2019 um 18:35
Servus Nik.
Auch von mir großes Lob für diesen wunderbaren Text, richtig schöne Mischung aus Tourenbericht und sauber rausrecherchierter Kulturgeschichte/Volkssage.
Bis baldamol, Frank

Nik Brückner hat gesagt: RE:
Gesendet am 23. Juni 2019 um 09:05
Servus Frank!

Danke Dir! Das freut mich. Musst mal hin, wenn Du die Gegend noch nicht kennst, ist wirklich schön da.

Gruß,

Nik


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