Pilatusüberschreitung (extrem & ultra long version)
Der Brienzergrat gilt als der längste und schönste Voralpen-Grat. Über Schönheit lässt sich bekanntlich streiten, doch bezüglich Länge lässt sich mit etwas topografischer Fantasie eine Gratwanderung konstruieren, welche den Brienzergrat auch in Sachen Höhenmeter bei weitem übertrifft. Der Pilatus kann ja schliesslich nichts dafür, dass der Grat vom Schimbrig bis zur Schwändiliflue als logische Fortsetzung der Pilatuskette durch die Grosse Entle derart abgetrennt wurde. Dies ist die Idee hinter meiner extremen und langen Version der Pilatusüberschreitung, der wohl anstrengendsten Route von Stansstad nach Flühli.
Kurz vor fünf Uhr wandere ich von Stansstad (Pt 436) los in die Dunkelheit Richtung Kapelle Acheregg. Nur langsam beginnt es zu dämmern, erst nach zwanzig Minuten kann ich die Stirnlampe ausmachen. Die Ehre des ersten Gipfels des heutigen Tages und meiner Pilatusüberschreitung gebührt natürlich „meinem“ Haslihorn (961m). Dieses besteige ich vom Wanderweg aus direkt auf der Falllinie entlang der Kantonsgrenze. Im Aufstieg kann ich durch den lichten Wald die Berner 4000er in der Morgendämmerung bestaunen, auf dem bewaldeten Gipfel ist das Panorama leider sehr eingeschränkt. Der Abstieg erfolgt durch das hohe Gras auf dem Normalweg.
Auf dem Wanderweg geht es zum Renggpass (886m) und weiter auf dem Grat dem Pilatus entgegen. Ein kurzer Abstecher auf das Chrummhorn (1254m) darf natürlich nicht fehlen. Auf diesem Gipfel überrasche ich drei Wanderer, sie mich ebenfalls. Sie sind rund eine Stunde früher aufgebrochen und durften wohl einen traumhaften Sonnenaufgang erleben. Dieses Erlebnis ist mir leider unterwegs im Wald vergönnt geblieben. Auf dem gleichen Pfad steige ich wieder ab zum Wanderweg und erreiche auf diesem die Tellenfadlücke (1382m).
Von diesem Sattel führen deutliche Pfadspuren der Kantonsgrenze entlang hoch zur Windegg (1673m). Auch der weitere Verlauf hoch zum Steiglihorn (1968m) ist nicht zu verfehlen, ab hier sind zudem blaue Markierungen vorhanden. Allerdings verpasse ich das Steiglihorn wohl knapp, denn statt der südlichen Erhebung, besuche ich die höhere, nördliche Kuppe. Dies ist wohl aber eher die Rosegg (1972m).
Hier erhalte ich endlich einen Einblick in die Esel-Ostwand. Eine logische Route durch diese Flanke kann ich von hier aus nicht erkennen, doch wenn man den blauen Markierungen und den deutlichen Wegspuren folgt, kann nichts schiefgehen. Dem Wandbuch nach wird die Route auch regelmässig begangen. Nach etwas weniger als vier Stunden nach dem Start erreiche ich den Esel (2118m) und kann es kaum glauben: Ich habe diesen Touristengipfel für mich ganz alleine! Erst im Abstieg kommen mir die ersten Bahntouristen entgegen.
Nach einer kurzen Pause im Restaurant sprinte ich noch rasch aufs Oberhaupt (2106m), bevor ich die Wanderautobahn zum Tomlishorn unter die Bergschuhe nehme. Alsbald der Gipfel in Sicht ist, möchte ich abkürzen und steche direkt rechts die Grasflanke hoch. Doch leider biege ich etwas zu früh ab und muss noch zweimal in etwa fünf Meter tiefe, felsige Einschnitte runterklettern. Die Zeitersparnis dieser Variante ist somit gleich Null, aber Spass hat es trotzdem gemacht. Und der höchste Punkt der Pilatuskette ist mit dem Tomlishorn (2128m) erreicht!
Auf dem Bergweg geht es weiter zum Gemsmättli. Ich tauche wohl als erster Wanderer des heutigen Tages auf, jedenfalls stehen zwei Steinböcke noch gemütlich auf dem Weg. Ich quere unter der imposanten Felswand des Widderfeldes hindurch zum Stollenloch. In der Südflanke hoch zum Gipfel verliere ich allerdings die blauen Markierungen aus den Augen. Dies ist vorerst kein Problem, im gut gestuften Gras kann auch ziemlich direkt hochgestiegen werden (T5). Allerdings muss ich dann kurz vor dem Ziel noch eine ziemlich heikle, etwa 3m hohe Felsstufe erklimmen. Zwar sind die Griffe einigermassen solide und die Kletterei ist technisch relativ einfach (II), doch die Ausgesetztheit über der Südwand fordert die Psyche stark heraus. Doch nach einigen kräftigen Zügen und einem kurzen Steilgrasstück stehe ich schon beim Steinmann des Widderfeld (2076m).
Schnell steige ich auf dem Normalweg wieder hinunter und folge weiter dem Wanderweg Richtung Westen. Der Rot Dossen will bei dieser Überschreitung natürlich auch mitgenommen werden. Dessen Ostgrat sieht zwar steil, aber machbar aus. Offensichtlich bin ich nicht der Erste mit diesem Gedanken, auf dem Grat sind schon einige Trittspuren auszumachen. Eine kurze aber feine T6-Route führt über Steilgras mit genügend botanischen Griffen hoch zum Steinmann des Rot Dossen (1777m).
Beim Abstieg lasse ich mich von den Pfadspuren verleiten, auf welche wohl für gewöhnlich der Rot Dossen bezwungen wird. So steige ich wieder zum Bergweg ab, statt einfach dem Grat weiter zu folgen. Aber dennoch erreiche ich kurz vor Mittag das Mittaggüpfi (1917m).
Nach einer halbstündigen Mittagspause geht es zügig weiter dem Grat entlang. Auf diesem Abschnitt herrscht etwas mehr Wanderverkehr. Bei den Holzleitern und Seilen vor der Tripolihütte (1763m) gerate ich sogar in einen kleinen Stau. Der folgende Aufstieg zum nächsten Gipfel der Pilatuskette muss ich etwas gemächlicher angehen, langsam machen sich die Beine bemerkbar. Deshalb gönne ich mir nach Erreichen der Stäfeliflue (1922m) nochmals eine kurze Pause.
Auch auf dem folgenden flachen Abstieg inmitten der herrlichen Landschaft zum Blaue Tossen (1802m) kann ich mich etwas erholen. Von hier bis zum Risetestock (1759m) ist es nur noch ein Katzensprung. Dieser letzten Gipfel der „offiziellen“ Pilatuskette ist etwas enttäuschend: Gipfelkreuz, Steinmann oder Gipfelbuch sucht man vergebens.
Von hier steige ich direkt durch den Wald in südöstlicher Richtung ab und treffe ziemlich genau beim Abzweiger zum Alpeli wieder auf den offiziellen Bergweg. Diesem folge ich bis nach Hindergfelle (1043m), unterwegs fülle ich bei der Alp Mittlisthütte wieder meine Wasserreserven.
Kurz nach 14 Uhr starte ich also zum „Nachmittagsprogramm“. Übers Brüedermättli an der Kapelle Brüedere (1079m) vorbei erreiche ich bald die Passstrasse zum Glaubenberg. Bei regem Töffverkehr laufe ich etwa 400m an der Strasse entlang, bis ich bei Wanegg (1074m) wieder auf den Wanderweg abbiegen kann. Wobei Wanderweg bei diesem sumpfigen Kuhpfad teilweise etwas übertrieben ist. Nach ca. 550m steige ich entlang der Trockenrinne direkt über die Kuhweide zum blau-weiss markierten Bergweg hoch. Die ersten Höhenmeter auf diesem komme ich noch zügig vorwärts, aber bald machen sich die Anstrengungen vom Morgen immer mehr bemerkbar. Mühsam schleppe ich mich hoch zum Hengst (1809m) und von dort zum Hauptgipfel des Schimbrig (1815m). Beim Anblick der geplanten Fortsetzung der Tour zur Schafmatt entschwindet meine Hoffnung, dass ich das Projekt wie geplant durchziehen kann. Ich fühle mich erschöpft und überlege mir schon, wie ich die Tour nun beenden soll. Da ich zum Essen noch zu ausgelaugt bin, wandere ich noch ein Stück dem Grat entlang Richtung Südwesten. Bei einem schönen Graspölsterchen setze ich mich nieder und gönne mir eine halbstündige Pause. Während dieser kommt auch der Appetit wieder und ich verpflege mich ausreichend.
Um 16:30 mache ich mich wieder auf die Socken. Kurz vor Pt 1647 biege ich links vom Wanderweg ab und marschiere über den gut erkennbaren Pfad direkt über die Wiese zur Oberen Looegg (1469m) hinunter. Hier muss ich mich nun entscheiden, ob ich die Tour nun wirklich abbrechen oder doch noch weiter wandern soll. Unterdessen fühle ich mich wieder fit und auch die noch verbleibende Zeit stimmt mich positiv. Es ist kurz vor fünf Uhr, es sollte noch über vier Stunden hell bleiben.
Auch auf dem folgenden leicht steigenden Weg zur Toregg (1485m) fühlen sich die Beine noch gut an. Kurz vor dem Stall bei Pt 1524 beginne ich mit dem direkten Aufstieg zur Torflue. Zwar schmelzen die Höhenmeter nun nicht mehr so rasch dahin wie am Morgen, doch komme ich in einem mich zufriedenstellenden Tempo vorwärts. Auf dem Grat angekommen, entdecke ich Pfadspuren, doch verlaufen sich diese immer wieder im Gestrüpp. Generell ist die Wegfindung hier auf dem Grat nicht einfach. Einige Kuppen werden überstiegen, einige Felszacken links oder rechts umgangen. Ich scheine aber immer den richtigen Riecher zu haben und erreiche ohne jemals umkehren zu müssen das Gipfelkreuz der Äbnistettenflue (1815m).
Auch der weitere Gratverlauf bis zur Schafmatt ist ähnlich anspruchsvoll (T5), insbesondere bezüglich der Routenfindung. Hier folge ich grösstenteils der Südostflanke und lasse die meisten Gratkuppen aus. Obwohl ich auch diesmal ohne Verhauer durchkomme, erreiche ich den Gipfel der Schafmatt (1979m) erst ein Stunde nach dem letzten Gipfelerfolg. In der Zwischenzeit ist es halb sieben, es dürft wohl noch knapp drei Stunden hell bleiben. Das sollte für den restlichen Grat reichen.
Doch nicht nur die dahin rinnende Zeit zwingt mich zu einem raschen Aufbruch, sondern auch die beiden bellenden Herdenschutzhunde geben erst wieder Ruhe, als ich den Gipfel endlich wieder verlasse. Auf dem Wanderweg erreiche ich kurze Zeit später den Abzweiger Leitere (1829m). Von hier folge ich den Pfadspuren geradeaus dem Grat entlang. Die Wegfindung auf diesem Gratabschnitt ist etwas einfacher, zudem kenne ich diesen Teil bereits, wenn auch von der anderen Seite her. Der höchste Punkt der Baumgartnerflue (1920m) kann quasi im Vorbeigehen mitgenommen werden. Bald darauf stehe ich nach ein paar Kraxeleien beim Gipfelkreuz der Grönflue (1946m). Die Gipfelbuchgamelle hat leider immer noch keinen Deckel, das Gipfelbuch verwandelt sich deshalb trotz dreifacher Plastikverpackung immer mehr in eine schimmlige, feuchte Zellulosesammlung.
Ohne grosse Pause mache ich mich gleich an den Abstieg. Dieser verlangt nochmals die volle Konzentration (T6)! Zum Glück kenne ich das Südcouloir bereits von der vorherigen Begehung. Allerdings mach ich den Fehler, nicht im grossen Hauptcouloir abzusteigen, sondern in der schmalen, parallel (links) dazu verlaufenden, durch einen kleinen Sporn abgetrennten, Rinne. Diese scheint zu beginn weniger steil zu sein, doch dafür wird sie anschliessend kurzzeitig extrem steil. Das grosse Couloir wäre die bessere Wahl gewesen, dieses ist einfach durchgehend sehr steil. Auch die Kletterei beim Ausstieg (das kleine Geröllfeld sollte dort gemieden werden) ist nochmals heikel. Doch dann ist das Gröbste vorbei und die anschliessende Traverse problemlos zu meistern.
Beim Sattel bei Pt 1833 gönne ich mir nochmals eine Pause. Die folgenden Graterhebungen schenke ich mir und quere ohne grossen Höhenverlust in die Südwestflanke. Doch bald sehe ich, dass das Weiterkommen wegen den vielen Felsriegeln schwierig wird. Ich müsste nun doch aufsteigen, entscheide mich aber für einen Abstiegsversuch. Das Gelände ist zwar grasig steil, jedoch gut gestuft und griffig. Fast unten fordern mich mit Grasbändern durchsetzte Felsplatten nochmals heraus. Ich glaube zunächst eine Schwachstelle entdeckt zu haben, doch dort liegen die Griffe zu weit auseinander. So quere ich dann an kleinen Griffen kletternd etwa fünf Meter nach links, bevor ich endlich in einem Riss definitiv nach unten klettern kann. Von unten entdecke ich dann natürlich die unzähligen bequemen Abstiegsvarianten rechts und links der Platten. Über ein Geröllfeld steige ich weiter ab und treffe so auf den Bergweg. Auf diesem erreiche pünktlich zum Sonnenuntergang den Gipfel der Schwändiliflue (1796.7m).
Die schöne Sonnenuntergangstimmung bildet den krönenden Abschluss eines unglaublichen Tages. Ich lasse mich von dem Gebell der Herdenschutzhunde nicht irritieren, mache meinen letzten Gipfelbucheintrag für heute und gehe noch kurz mitten durch die Schafe zum Gipfelkreuz. Allzu lange kann ich den Erfolg aber nicht geniessen. Es ist kurz vor neun Uhr und noch wartet der Abstieg auf mich.
Mit eilenden Schritten schlängle ich mich durch den Dschungel aus Heidelbeerstauden. Die etwa 20cm breite Schneise weist zwar den Weg, aber wo man hintritt sieht man nicht, man hört es nur von Zeit zu Zeit („Pflatsch“). Bei Pt 1684 marschiere ich weiter geradeaus und entscheide mich somit für den knieschonenderen Abstieg (statt durchs Rüchiloch). Es ist schon fast dunkel als ich endlich aus dem Rüchiwald komme. Von der Alp Vorder Rüchi (1335m) wollte ich zunächst direkt weiter über die Kuhweide absteigen, doch das unebene Gelände, die Stacheldrahtzäune und die fehlenden Markierungen halten mich in der hereinbrechenden Dunkelheit davon ab. So wähle ich die sichere Route über die Alp Hinder Rüchi (1330m). Die Stirnlampe wird wieder umgeschnallt und angezündet. Aber auch so gestaltet sich der Abstieg auf diesem Kuhpfad nervenaufreibend. Leuchte ich nach den Bergwegzeichen suchend nach vorne, trete ich bestimmt in ein Sumpfloch. Mehr als einmal rutsche ich aus und kann mich nur durch eine akrobatische Einlage vor einem Schlammbad retten. Nach der flachen Traverse werden die Höhenmeter durch unzählige Kehren vernichtet. In der Dunkelheit ist bei diesem T3-Bergweg nochmals Vorsicht geboten. Die Erleichterung ist jedes Mal gross, wenn im Strahle der Stirnlampe ein Bergwegzeichen aufblitzt.
Ziemlich genau um 22:00, also 17 Stunden nach dem Aufbruch, treffe ich kurz nach Chrage (1002m) meine Freundin, welche hier schon über eine halbe Stunde auf mich wartet. Ich bin völlig durchgeschwitzt und schmutzig, mit dem ÖV möchte ich so nicht mehr heimreisen (zumal gar kein Postauto mehr nach Schüpfheim fahren würde). Nach einer kurzen Wäsche im Rotbach und einer Deo-Dusche darf ich zu meiner Freundin ins Auto steigen und mich nach Hause chauffieren lassen.
Fazit: Meine bisher längste und anstrengendste Tour! Vor dem Sonnenaufgang gestartet, nach über 40km Horizontaldistanz, fast 5000 Höhenmeter Auf- und über 4500Hm Abstieg nach dem Sonnenuntergang endlich am Ziel angekommen. Eine Wiederholung drängt sich nicht zwingend auf, ich empfehle sogar, die Tour auf zwei Etappen zu verteilen. So können die einzelnen Gratabschnitte viel intensiver genossen werden. Es ist auch überlegenswert, den zweiten Teil in der umgekehrten Richtung zu begehen, so hat man das heikle Südcouloir der Grönflue im Aufstieg.
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