Die Vorzüge dieser Tour werden im Churfirstenführer aus dem Jahre 1994 nicht auf den ersten Blick sichtbar: Attribute wie "meist etwas brüchig", "stark grasdurchsetzt" oder etwa "nur sehr wenige Haken" lassen vermuten, dass sich an der Südwand des Seluns die Besucherströme in Grenzen halten. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass genau diese Touren noch manche Tage nachwirken und die erlebte Freude eine ganze Zeit lang zu konservieren vermögen.
Allgemeines zur Hauptgipfel Südwand: Was von weitem wie eine kompakte graue Mauer aussieht, entpuppt sich aus der Nähe als senkrecht servierter bunter Blattsalat mit einigen eingesetzten Kühlschränken, welche bei sich unsachgemässer Belastung gerne mal aus der Verankerung lösen: Die landschaftlich grossartige Churfirstentour fordert eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit den Elementen: Sie empfiehlt sich dem stark bergsteigerisch orientierten Kletterer oder dem etwas kletterorientierten Bergsteiger. Wer sich dieser Ambiance gerne aussetzt, über grosse klettertechnische Reserven verfügt und Freude daran hat, die Absicherung über weite Strecken in die eigene Hand zu nehmen, der wird hier mit einem wunderbaren Erlebnis beschenkt.
Neben sehr viel Gras bietet die Route durch die Wand einige plattige Kletterstellen sowie eine wirklich schöne Seillänge in rauhem, rissigem Kalk. In der Mitte der Wand lockt eine etwas einfachere Gratpassage über schönes, blockiges Gelände. Die Absicherung ist an vielen Stellen möglich, doch sollte der Fels darum herum gut geprüft werden: Vor allem Schlingen können vielerorts eingesetzt werden. Von den im Führer eingezeichneten Haken haben wir auf acht Seillängen nur gerade sieben Stück gesehen, davon vier in gutem Zustand.
Zustieg (T6, II): Der Zustieg alleine ist eine Tour wert. Gestartet wird bei Pkt. 1388 zwischen Schrina und Schwaldis. Die ersten Meter dem Wanderweg folgend, verlässt man diesen bald und strebt -stets die einfachste Linie suchend- im steiler werdenden Gras unter die Selun Südwand. Etwas links haltend (nach Westen), erblickt man unterhalb des sogenannten Stockzahns eine kleine Schlucht, deren erste Stufe im zweiten Grad erklommen wird. Anschliessend hält man nach rechts auf eine freistehende Tanne zu. Siehe dazu auch die Bilderreihe. Für Heuschnupfen-Allergiker hart an der Schmerzgrenze.
1. SL V: Leicht rechtshaltend grasig-felsigen Bändern folgend, bis eine plattige Stelle (drei Haken) überwunden wird. Gleich nach der Platte geht's einige Meter nach links zum Stand (zwei rostige Haken, Stand mit Keil verstärken). Einige heikle Kletterstellen, knappe 30m.
2. SL V+: Kurze SL. Gleich zu Beginn plattige Stelle mit einem frendlicherweise guten Haken. Danach einige Meter nach links in eine Nische, wo an einem grossen Block Stand gemacht werden kann (Originalstand mit eingezeichneten Haken haben wir verpasst). teilweise heikel, gute 10m.
3. SL V-: Zuerst gerade (bzw. ganz leicht links ausholend) eine Verschneidung in akzeptablem Fels hoch, dann weiter gerade aufwärts, später einfacher rechtshaltend in Richtung einiger Pfeilerköpfe. Hier irgendwo Stand machen. keine Haken, knappe 40m.
4. SL III: Über die Pfeilerköpfe im Stile einer Gratwanderung bis unter einen markanten Felsblock, wo man kurz davor an einem (zum Zeitpunkt der Tour) noch guten Haken Stand machen kann. knappe 40m, keine Haken bis zum Stand.
5. SL V: Eine echte Kletterlänge in tollem Fels. Den grossen Block umklettert man links, hinter dem Block erklimmt man dann durch einen Kamin ein ausgesetztes Spitzchen. Vom Spitzchen aus rechtshaltend entlang von gutgriffigen Rissen aufwärts, bis das Felsgelände in Gras übergeht. Hier irgendwo Stand machen. ca. 45m, keine Haken.
6. SL T6/I+: Gerade hoch zu einzelner Tanne (hier Schlinge legen), dann leicht linkshaltend über Gras bis in eine weite offene Grasnische, wo man an einem Riss einen Stand basteln kann. Viele Trittspuren (vom Wild??).
7. SL IV: Aus meiner Sicht eine Refenztour für den Grad " T7/ III+". Zuerst erklimmt man einen felsdurchsetzten Graskamin, anschliessend geht's über Steilstgras, Trittspuren und unglaublich schmale Bänder hoch und an einzelnen Tännchen vorbei bis hinaus auf den markanten Südgrat. Hier Stand machen, keine Haken, ca. 30m.
Die Originalführe würde bei der zweiten Tanne Stand machen und von dort weg durch eine Verschneidung im oberen fünften Grad durch vermutlich guten Fels zum Ausstieg führen. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit entscheide ich mich für die einachere Variante, indem ich bis auf den Grat unweit eines dritten Tännchens traversiere, was sich später als klug erweisen wird.
8. SL II: Über den felsigen Grasgrat hochsteigen. Irgendwann macht man Stand und beschliesst -man sieht hier bereits den Schlussgrat bis zum Gipfel- das Seil einzupacken und gemeinsam den Gipfel zu gewinnen.
Zur Krönung folgt ein ca. 150m langer Grasgrat (T6) mit kurzen Kletterstellen im zweiten bzw. ersten Grad. Man erhält nochmals Gelegenheit, in diese wilde Welt hinabzugucken und diese ein letztes Mal mit einem tiefen Atemzug in sich aufzunehmen.
Abstieg über den Ostgrat (T6): Auch diese Linie empfiehlt sich als eigenständige, vollwertige Tour. Wir folgen dem Grat bis zum Selun Ostgipfel (T5 bis T6). Bald nach dem Ostgipfel kann an verschiedenen Ständen durch eine Verschneidung in der Südwand auf ein Graspodest abgeseilt werden, von wo aus man wieder auf den Grat zurückquert und zum Rappenloch absteigt. Anstatt durchs Rappenloch abzusteigen, entdecken wir wenig oberhalb am Grat eine Abseilstelle, von der wir mit unseren 60m-Halbseilen weit in den Graskessel unter dem Rappenloch abseilen können (50m-Halbseile würden gerade reichen). Wir steigen weiter durch den Graskessel ab bis zu einem sehr ausgeprägten, einfach begehbaren Grasband (bis hier noch T5). Nun queren wir unter die Silberi Südwand, von wo aus wir auf guten Trittspuren zum Wanderweg "Tschingla-Schwaldis" absteigen, T4.
Fazit: Für mich eine sehr eindrückliche, wunderschöne Tour in ursprünglicher Umgebung. Eine bleibende Erfahrung und vermutlich die Krönung der gesamten Saison 2011.
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