1 Tag, 1 Grat, 1 Hikr


Publiziert von Tobi , 9. September 2010 um 23:34.

Region: Welt » Schweiz » Bern » Oberhasli
Tour Datum:21 August 2010
Wandern Schwierigkeit: T5 - anspruchsvolles Alpinwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: Brienzergrat   CH-BE   CH-LU   CH-OW 
Zeitbedarf: 13:00
Aufstieg: 3550 m
Abstieg: 3250 m
Strecke:32km

Dass der Brienzergrat nur bedingt als längster Voralpen-Grat gelten kann, dazu habe ich hier schon mein Statement abgegeben. Dass er der schönste sein soll, davon wollte ich mich nun selber mal überzeugen. Konditionell sollte diese Gratwanderung für mich nach der letzten Gewaltsleistung kein Problem darstellen, sogar wen ich vom Brünigpass aus startete und ohne Bahnunterstützung bis nach Interlaken hinunterlaufe. Es sollte für mich eine wahre Genusstour werden, ein würdiger Sommer-Saison Abschluss. Doch es kam dann anders...

Am Vorabend reise ich mit dem letzten Zug von Luzern her auf den Brünigpass. Ein kurzer Spaziergang bringt mich ins Hotel Brünig Kulm. Dort übernachte ich zum Spezialpreis (ohne Frühstück) in einem kleinen, meinen bescheidenen Ansprüchen aber vollkommen genügenden, Zimmer.

Um halb fünf läutet der Wecker einen Prachtstag ein. Top motiviert habe ich keine Mühe mit dem Aufstehen. Nach einem kurzen improvisierten Morgenessen packe ich mein Material und schleiche mich aus dem Hotel. Man will ja die anderen Gäste nicht wecken. Kurz vor fünf Uhr laufe ich vom Brünigpass (1008m) los in die Dunkelheit hinaus.

Eine gute Vorbereitung ist das A und O jeder Tour. So habe ich das Datum bewusst gewählt: kurz vor dem Vollmond. Doch leider bringt dies nichts, wenn dieser schon um vier Uhr das Feld bzw. den Himmel geräumt hat und nur noch die dunkle Nacht mit den unzähligen funkelnden Sternen zurücklässt. Doch die Stirnlampe leistet gute Dienste, zumindest auf den Kiesstrassen bis Schäri (1227m). Den Trampelpfad über die folgende Kuhweide finde ich nur mit grosser Mühe. Doch da kommt mir zu Gute, dass am selben Tag der Mountain Man stattfindet und ich eine zusätzliche Orientierungshilfe in Form von Fähnchen habe. Doch das nasse Grass und der sumpfige Untergrund durchnässen meine Bergschuhe arg.

Von den Hütten beim Schafplätz (1424m) geht es weiter Richtung Wilerhorn. Kurz vor Pt 1573 ist es endlich hell genug, um die Stirnlampe auszuknipsen. Doch nun muss ich mich beeilen, um bei Sonnenaufgang auf dem ersten Gipfel zu stehen. Im Taltrichter Oberberg scheuche ich die ersten Gemsen auf, das selbe Spiel wiederholt sich nun nach jedem Auftauchen hinter einer Erhebung. Gerade noch kurz bevor die Sonne mit ihrem allmorgendlichen Spektakel beginnt, erreiche ich um halb sieben das Wilerhorn (2005.4m). Hier geniesse ich meinen bisher schönsten, absolut wolkenlosen Sonnenaufgang. Die Bilder sprechen für sich.

Zügig geht es weiter, alles auf dem Grat entlang, wobei natürlich das Hörnli (1942m) auch noch mitgenommen wird. Weiter über Tüfengrat (1858m) zum Gibel (2040m), von wo aus der Höch Gummen (2205m) direkt über seinen Südgrat erklommen wird. Hier oben geniesse ich unter dem wachsamen Auge von zig Gemsen den Rest meines Frühstücks.

So gestärkt geht es weiter, immer noch unbeirrt dem Grat entlang. Der schmale und ausgesetzte Gratabschnitt bei Pt 2152 lässt fasst ein wenig T6-Feeling aufkommen. Wem dies nicht behagt, sollte lieber dem Wanderweg folgen. Auch vom Pt. 2086 hoch auf den nächsten Gipfel halte ich mich nicht an den von der Wanderwegkommission vorgesehen Zick-Zack-Kurs, sondern steuere stur dem Gratabbruch entlang auf den Arnihaaggen (2207m) zu. Die Schichtung der Felsen ist hier zwar suboptimal, aber entlang der Risse und Grasbändchen findet der Bergschuh genügend halt.

Nach einer weiteren Rast erreiche ich über den Eiseesattel gegen zehn Uhr den Start des eigentlich Brienzergrat: das Brienzer Rothorn (2349m).

In meinem nicht existierenden Zeitplan liege ich gut drin, der Genuss kann beginnen. Der
Schongütsch (2320m) wird überschritten. Die wilden Zacken des Grates um Pt 2163m beim Lättgässli siehen verlockend aus. Da deren Fortsetzung aber ungewiss ist, folge ich zur Ausnahme mal dem Wanderweg. Eine gute Entscheidung, denn der eigenwillige Wegbau beim Lättgässli (betonierte Treppe) sollte man mal gesehen haben. Doch noch mehr hätten mich die verpassten Steinböcke geärgert, welche ich auf dem Grat oben nicht gesehen hätte. Etwa zwanzig Stück lagen hier in der Flanke sehr fotogen herum.

A
b dem Chruterenpass (2053m) beginnt der schöne und saftig grasige Teil des Brienzergrates. Vom Briefehörnli (2165m) mache ich noch einen kurzen Abstecher zur Burg (2148m). Die heikelsten Stellen sind hier mit Stahlseilen entschärft. Wirklich lohnend ist dieser Abstecher nicht, vom Brienzersee sieht man hier nicht viel mehr, als während der restlichen Tour.

Wieder zurück auf dem Briefehörnli, ist der
Wannenpass (2071m) schnell erreicht. Bald folgt die Schlüsselstelle des Grates, wobei diese mit Stahlseilen bestens gesichert ist. Obwohl ein wolkenloser Tag vorausgesagt wurde, zieht langsam Nebel auf. Doch dieser sorgt für eine spezielle Atmosphäre und für eine nette Tourenbegleitung in Form einer Glorie.

Auf dem
Tannhorn (2221.0m) geniesse ich eine längere Mittagspause. Wobei „geniessen“ bei diesen vielen fliegenden Ameisen etwas gar blumig formuliert ist. Dass diese Plage, welche mich noch auf dem ganzen folgenden Grat begleiten sollte und jede Pause schon nach kurzer Zeit nicht mehr erholsam macht, bisher in keinem Bericht über den Brienzergrat erwähnt wurde? Oder sind alle vorherigen Berichteschreiber Insektenfetischisten, die sich in der Freizeit Bienenbärte aufsetzten lassen? Oder habe ich am Ende den einzigen Tag erwischt, an dem sich diese Viecher, aus welchen Trieben auch immer, auf jeden rastenden Wanderer stürzen?

Zu einer perfekt geplanten Tour gehört natürlich auch passendes Kartenmaterial. Dieses liegt allerdings sorgsam vorbereitet zu Hause auf dem Bürotisch. Und mit der Karte auf dem kleinen Handydisplay erhält man schlecht einen Gesamteindruck vom Rest des Grates. Im Glauben, das Gröbste nun hinter mir zu haben, mache ich mich gut gelaunt kurz nach 13 Uhr auf den vermeintlich eher flacheren zweiten Teil des Grates.

Das
Ällgäuwhoren (2047m) besteigt sich fast im Vorbeigehen. Doch schon auf dem folgenden ruppigen Abstieg hinunter zur Ällgäuwlicke (1918m) wird mir bewusst, dass der restliche Grat doch kein Sonntagsausflug ist. Die folgenden 150 steilen Höhenmeter hoch zum Schnierenhireli (2069m) gehen ordentlich in die Beine.

Von diesem Gratgipfel geht es zunächst wieder fast 200 Höhenmeter hinunter, um dann wieder fast gleich viel zum
Gummenhoren (2040.1m) anzusteigen. Der folgende Gratabschnitt zum Blasenhubel (1935m) verläuft dann etwa so, wie ich mir das Nachmittagsprogramm ausgemalt habe: angenehm hügelig. Doch dies ändert sich schlagartig beim Schlussanstieg zum letzten grösseren Gipfel des Grates. Spätestens hier wird auch der geduldigste Berggänger den Erschaffer des Brienzergrates verfluchen: Wiese konnte er (oder sie) die Gipfel nicht nach ihrer Grösser sortiert aufreihen?

Doch schlussendlich habe ich es doch noch geschafft. Kurz vor 16 Uhr stehe ich auf dem Augstmatthorn (2137m). Bis hierhin habe ich mit keinen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, zumindest mit keinen körperlichen. Jetzt folgt nur noch der Abstieg, das sollte keine Problem sein. Dieser Ansicht bin ich zumindest noch beim Loslaufen. Meine Schuhe und Socken sind seit dem intensiven Kontakt mit dem Tau im Morgengrauen nie wirklich trocken geworden. Meine lieb gewonnen Wandersocken (ein Geburtstagsgeschenk), welche mich treu in den letzten Monaten begleiten haben, lassen mich plötzlich im Stich. Bestimmt kennt jeder dieses unangenehme Gefühl, wenn es plötzlich zu drücken und scheuern beginnt. Die Socken werden nochmals hochgezogen, die Schuhe neu gebunden, doch nichts hilft.

Aber der Grat geht weiter und nimmt keine Rücksicht auf meine Leiden. Der
Suggiture (2085.2m) wird überschritten. Die grandiosen Tiefblicke auf den Brienzersee lenken nochmals etwas von dem Brennen an den Füssen ab. Weit sollte es nun ja nicht mehr sein. In Gedanken rechne ich mir sogar Chancen aus, noch einen Zug früher als geplant in Interlaken zu erwischen. Doch beim nächsten Wanderwegweiser kommt die Ernüchterung. Es soll noch über eineinhalb Stunden bis zum Harderkulm gehen. Was für eine Dämpfer, wenn man mit etwa der Hälfte der Zeit rechnet!

Ich beschleunigen meine Schritte, das Tempo hat keinen Einfluss auf die Schmerzen an den Füssen. Diese sind bei jedem Tritt präsent. Vielleicht ist die prognostizierte Wanderzeit ja nur eine Fehlinformation gewesen? Zudem kann ich mit meinem gewohnten Wandertempo diese Zeiten meist deutlich unterbieten. Mit dem Gefühl, dass die Haut an den Zehen langsam aber stetig abgescheuert wird, kann ich den restlichen Teil des Brienzergrates nicht mehr wie gewünscht geniessen. Eigentlich wollte ich ja wirklich jeden Gipfel des Grates besteigen, doch unter diesen Umständen lasse ich dies sein. Die
Roteflue wird so rechts liegen gelassen.

Da ich die Bahnfahrt vom Harder runter nach Interlaken nicht geplant habe, ist mir dieser Fahrplan auch gänzlich unbekannt. Aber irgendwie habe ich eine letzte Talfahrt um 17:00 im Hinterkopf. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass dieser Zeitpunkt nun gekommen wäre. Doch vom Kulm bin ich noch weit entfernt. Das wird eine Qual, mit den Füssen hinunter bis nach Interlaken zu marschieren!

Auch den Abstecher auf den
Wannichnubel schenke ich mir. Ich habe nun andere Sorgen als das penible Sammeln aller Gratgipfel. Nun beginnt mich auch noch der Durst zu plagen. Von meinen viereinhalb Litern ist nur noch wenig übrig. Dies möchte ich mir bis zum Harder und für den wohl folgenden Abstieg aufsparen. Doch je näher ich dem Harderkulm (1322m) komme, desto mehr Touristen in Halbschuhen begegne ich. Diese stimmen mich optimistisch, denn diese werden wohl kaum ohne Unterstützung der Bahn ins Tal kommen.

Die volle Terrasse des Restaurants Harderkulm gibt mir die definitive Gewissheit, noch mit einer Bahnfahrt rechnen zu können. Der Fahrplan erlaubt mir sogar noch, mir im Restaurant einen Liter Rivella zu genehmigen. Total erleichtert fahre ich um 18:10 mit der offiziell letzten Bahn zusammen mit zig Touristen hinunter nach Interlaken.

Doch das Leiden ist damit noch nicht zu Ende. Es folgt eine zweistündige Bahnfahrt über den Brünig nach Luzern. Bei dieser wage ich es nicht, meine Bergschuhe auszuziehen. Ich hätte dann wohl wegen dem Aroma einen ganzen Waggon für mich alleine gehabt, wäre dann aber sicher nie mehr in die Schuhe rein gekommen. Zu Hause bestätigen sich dann meine schlimmsten Befürchtungen. Die Füsse sehen noch schlimmer als vorgestellt: Jeder Zehen ist oben an mindestens einer Stelle aufgeschürft, an einigen fehlt auch unten ein Teil der Haut. Die Fusssohlen sehen nach einem langen Tag im immerfeuchten Schuh aus wie Wasserleichen: weiss und aufgedunsen. Die Fotos dazu erspare ich euch.


Fazit: Der Brienzergrat ist wahrlich einer der schönsten Voralpen-Grattouren! Allerdings darf seine Länge nicht unterschätzte werden. Nach dem Tannhorn ist das Gröbste noch lange nicht vorbei! Wer die Tour vom Brienzer Rothorn aus startet, sollte auch nie trödeln, wenn er die letzte Bahn vom Harderkulm noch erreichen möchte.


PS: Meine Füsse haben sich dank fürsorglicher Pflege meiner Freundin bestens erholt, so dass sie bereit am drauf folgenden Mittwoch wieder eine kleine Wanderung unternehmen konnten.

Tourengänger: Tobi
Communities: Monstertouren


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Kommentare (8)


Kommentar hinzufügen

alpstein hat gesagt:
Gesendet am 10. September 2010 um 06:24
Super Tour, super Bericht und klasse Fotos!

Gratulation

Hanspeter

AlpinHero hat gesagt: Lesens- und Lohnenswert
Gesendet am 10. September 2010 um 08:10
Hi Tobi

Vielen Dank für den wirklich lesenswerten Bericht über eine - wenn auch lange, so doch lohnenswerte Tour.
Feine Leistung....Kompliment

Ray hat gesagt: Tolle Touer
Gesendet am 10. September 2010 um 09:16
Super Bericht,klasse Leistung und tolle Fotos.
Danke dafür !

marmotta hat gesagt: Gratulation!
Gesendet am 10. September 2010 um 10:06
Schöner und gut geschriebener Bericht mit herrlichen Fotos über ein tolles Unternehmen, das auch schon länger auf meiner Wunschliste steht. Bei meinem bislang einzigen Besuch des Brienzergrats war mir ja leider die Aussicht auf die Berner Hochalpen durch den Nebel verwehrt worden..

Die von Dir zurückgelegte Strecke und die dabei eingesammelten Gipfel sehen in der Aneinanderreihung auf der Minimap schon beeindruckend aus! Da werde ich wohl noch ein wenig trainieren müssen... :-)

G.
marmotta

ADI hat gesagt:
Gesendet am 10. September 2010 um 11:42
Tolle Tour, gratuliere!
Ist ja nicht gerade ein Halbtagespensum, das Du da runtergerissen hast ;-)

LG! ADI

maawaa hat gesagt: Super !
Gesendet am 10. September 2010 um 17:07
Erneut eine Folge aus der " extrem & ultra long version by Tobi " - Reihe...

Meine Hochachtung vor Deiner Leistung! Die Fotos gefallen mir ebenfalls sehr!

Viele Grüsse & ein schönes Wochenende!
Marco

Tobi hat gesagt: Vielen Dank...
Gesendet am 10. September 2010 um 23:07
...für all die Gratulationen und das Lob!

@Axi: Ich wollte gerade den Wegpunkt Arnihaaggen hinzufügen und musste zu meiner Schande merken, dass ich gar nicht auf dem höchsten Punkt war! Auf dem direkten Grat liegt Pt 2207, der nördliche Gipfel (und erfasste Wegpunkt) misst aber 2212m. Diesen habe ich leider definitiv verpasst ;-(
Ja, das Tannhorn ist wirklich mein Brienzergrat-Gipfelfavorit.


Gruss an alle und weiterhin unfallfreie Touren,

Tobi

bulbiferum hat gesagt: Mit 3550 Hm an einem Tag
Gesendet am 11. September 2010 um 16:20
hast du eine super Leistung hingekriegt, mein Respekt.
Von fliegende Ameisen sind wir letztes Jahr zum Glück gänzlich verschont worden. Die Viecher sind wirklich lästig.

Viele Grüsse, Markus


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