Weitwandern vom Feinsten: 63 km von Worb nach Kandersteg
Einleitung
Wie ich kürzlich aus diesem Bericht von
quacamozza erfahren habe, gibt es mittlerweile organisierte Langstreckenwanderungen, die sich allem Anschein nach einer zunehmenden Beliebtheit erfreuen. Da ich mich selber von derlei Massenveranstaltungen immer fern gehalten habe, kann ich darüber nur schmunzeln, vor allem wenn es dann – wie im beschriebenen Fall – in skurille Rahmenbedingungen ausartet, wie die, dass «Powerwandern nicht erwünscht» sei. Aber jedem das seine! So oder so hat mich der Bericht angespornt, selber wieder einmal eine weite Strecke zurückzulegen. Nachdem ich letztes Jahr aus gesundheitlichen Gründen nicht die Möglichkeit dazu hatte, kam mir das verlängerte Auffahrtswochenende nun sehr gelegen, zumal für den Freitag Sonnenschein und wolkenloser Himmel vorausgesagt wurde. Meine bisherigen Langstreckenwanderungen habe ich immer in der zweiten Nachthälfte gestartet, um der Tageshitze möglichst aus dem Weg zu gehen. Aktuell sind die Temperaturen tagsüber noch sehr erträglich, trotzdem hat das nächtliche Wandern seine Vorteile, vor allem, dass man meist alleine unterwegs ist und ungestört das gewünschte Tempo gehen kann. Um die Sache interessanter zu gestalten, plante ich, sogar schon am Abend loszumarschieren. So lässt sich auch erkunden, wie der Körper mit der aufkommenden Müdigkeit zurecht kommt.
Vorbereitung
quacamozza hat in seinem Bericht die Risiken des Langstreckenwanderns detailliert aufgeführt. Da ich dieses Jahr mit Ausnahme der regelmässigen Märsche Arbeitsplatz – Zuhause (Details siehe hier) bisher nur einmal 30 km am Stück gewandert bin, gab es durchaus einige Unwägbarkeiten. Die Devise lautete daher: keine Experimente. Ich wählte also zum einen eine gut bekannte Strecke mit breiten und gut begehbaren Wegen oder Strässchen, und zum andern jenes Schuhwerk, mit dem ich sonst vom Arbeitsplatz nach Hause marschiere. Die Sohlen sind zwar inzwischen völlig glatt geschliffen, weshalb damit mehr als T1 nicht mehr möglich ist. Das Wanderziel liess ich bewusst offen, aber die gewählte Strecke erlaubt es, an fast beliebigen Stellen abzubrechen und mit dem nächsten Zug zurück zu fahren – dies allerdings natürlich erst ab etwa 06:00 Uhr morgens. Als Proviant packte ich die 2 Liter-Flasche in den Rucksack, die ich bei Bedarf an bekannten Stellen nachfüllen kann. Eine Thermosflasche, die einem halben Liter Kaffee fasst, kam ebenfalls ins Gepäck, sowie etwas Brot, ein Stück Kuchen und Trockenfrüchte. Am Abend des 9. Mai 2024, ca. um 20:45 Uhr ging es los.
Tourenbeschrieb
Wettermässig ist Auffahrt (Christi Himmelfahrt) dieses Jahr eine Enttäuschung. Eine graue Hochnebeldecke erinnert mehr an den Herbst als an den Frühling. Aber nun scheint sich die Sache zu bessern, und im letzten (und einzigen) Sonnenlicht des Tages leuchten die Gipfel der fernen Blüemlisalp am Horizont, während ich Worb südwärts verlasse. Bis an die Aare ist alles Hartbelag und ausser dem kurzen Waldstück vor der Kiesgrube Rubigen, bin ich in offenem Gelände unterwegs. So komme ich auch nach dem Eindunkeln noch gut ohne Lampe zurecht. Dies ändert sich, als ich an der Hunzigenbrücke die Aare erreiche. Ab hier verläuft der Weg im Naturschutzgebiet Aarelandschaft Thun-Bern fast ausschliesslich durch den Wald. Diese Strecke ist tagsüber mal mehr mal weniger von Spaziergängern mit oder ohne Hunden bevölkert, was für Langstreckenwanderer lästig sein kann. Nachts jedoch ist das gleichmässige Wandern entlang des rauschenden Flusses sehr entspannend. Die Befürchtung, dass es auch ermüdend sei, erweist sich als unbegründet; im letzten Tageslicht und im Strahl der Lampe gibt es immer mal wieder etwas zu sehen und wenn ich eine geeignete Auflagefläche für die Kamera finde, mache ich ein paar Nachtaufnahmen mit Langzeitbelichtung. Der Himmel ist nun völlig klar geworden, und da gerade Neumond ist, trübt ausser der üblichen Lichtverschmutzung nichts den Blick in den grossartigen Sternenhimmel. So ist für Abwechslung gesorgt, die Stunden vergehen und lange nach Mitternacht erreiche ich die Aussenquartiere von Thun im Bereich der Gemeinden Heimberg und Steffisburg.
Da huscht plötzlich unmittelbar vor meinen Füssen ein grosses, pelziges Tier aus dem Feld links des Weges. Um es nicht unnötig zu erschrecken, richte ich die Lampe sofort in Richtung Himmel, trotzdem erkenne ich gut, dass es sich um einen Biber handelt. Einen Augenblick später ist er bereits im Gebüsch rechts des Weges, wo das Gelände zur Aare abfällt, verschwunden. Ein tolles Erlebnis!
Die Lampe brauche ich nun für eine Weile sowieso nicht mehr. Durch Thun hindurch sind alle Strassen hell erleuchtet, aber die Stadt selbst ist fast menschenleer. Auch der Verkehr ist fast ganz zum Erliegen gekommen, ausser Taxis sind kaum noch Autos unterwegs. In Pfaffenbühl verlasse ich die Strasse und betrete die schöne Parklandschaft im Gwatt, wo ich eine Pause einlege. Vor allem muss ich mir jetzt die Faserpelzjacke überziehen und die Mütze aufsetzen; im Verlauf der letzten Stunde ist die Temperatur spürbar gesunken. Wandern im T-Shirt liegt so nicht mehr drin. Ein weiterer Aspekt der aufkommenden Kälte ist der Tau, der dafür sorgt, dass die Ruhebänke klatschnass sind. Zum Glück finde ich eine Steinmauer, die diesbezüglich weniger anfällig ist. Bei meinem alten Android 2-Handy wird ein Akkuwechsel fällig. Der GPS-Tracker zeigt knapp 30 zurückgelegte Kilometer an und körperlich fühle ich mich in tadelloser Form, insbesondere verspüre ich keinerlei Beschwerden in den Füssen. Das motiviert für den Weiterweg.
Die Region Thun liegt am Eingang zum Berner Oberland und so ändert entsprechend auch die Topographie meiner Wanderstrecke. Ging es bislang mehr oder weniger flach dahin, so sorgt nun der 80 m-Anstieg auf die Gwattegg für Abwechslung. Beim Übergang auf Pt. 634 lässt sich die Region Thun nochmals wunderbar überblicken, während auf der anderen Seite einmal mehr die Autobahn zu unterqueren ist. Im Vergleich zum letzten Mal vor über 2 Stunden hat inzwischen auch hier der Verkehr deutlich nachgelassen. Durch das Glütschbachtal gelange ich nach Hani und auf die Hauptstrasse. Gute 2 km folge ich dieser nun und begegne dabei keinem einzigen Wagen. Es folgt die über 100 m lange gedeckte Holzbrücke Kapf, welche die 25 m tiefer fliessende Simme überquert und bald darauf erreiche ich Wimmis, zu Füssen des Niesen. Dessen Gipfellicht, welches auch von zuhause aus gut sichtbar ist, hat mir mehr oder weniger die ganze Nacht hindurch den Weg gewiesen. Um es ganz zu erreichen, müsste ich jetzt auf den Berg hinaufsteigen, aber das geht mit diesen Schuhen natürlich nicht!
Von der zunehmenden Kälte war bereits die Rede; hier in Wimmis kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Aus dem engen Einschnitt des Simmentals weht mir ein bissiger Wind entgegen. Während in den Alpentälern tagsüber der Wind talaufwärts bläst (Talwind), dreht sich das System nach Einbruch der Nacht um, und der Wind strömt talabwärts (Bergwind). Zwar sei dieser schwächer als der Talwind, allerdings wirkt der Engpass zwischen Simmenflue und Burgflue wie eine Düse, die den Luftzug deutlich verstärkt. Details zur Berg- und Talwind-Zirkulation sind hier nachzulesen. Dass dies ein lokales Phänomen ist, spüre ich beim Übergang ins Kandertal, wo der Wind bald wieder nachlässt. Inzwischen hat sich im Norden der Himmel aufgehellt und somit kündet sich bereits um etwa 04:30 Uhr der neue Tag an. Bis zum Sonnenaufgang dauert es aber noch gut anderthalb Stunden.
Nach dem Abstieg ins Kandertal verläuft der Weg fortan wieder einem Bach entlang, der Kander. Ihr Gefälle ist hingegen deutlich grösser als dasjenige der Aare zuvor, entsprechend gewinne ich nun kontinuierlich Höhenmeter. Mehr als 10 Stunden nach dem Abmarsch wird die Blüemlisalp, die sich majestätisch hinter Reichenbach erhebt, von den ersten Sonnenstrahlen beleuchtet – Erinnerungen an den Abmarsch kommen hoch. Weiterhin bin ich alleine unterwegs, erst kurz vor Frutigen lassen sich die ersten Spaziergänger und Jogger ausmachen.
In Frutigen wird eine Standortbestimmung fällig: Wanderung beenden oder weitermarschieren? Die Beine sind mittlerweile doch etwas müde geworden, aber die Füsse brennen oder schmerzen noch überhaupt nicht, daher entscheide ich mich, weiter zu gehen. Dies im Wissen, dass die Strecke nach Kandersteg nun mit ordentlich Höhenmetern aufwartet, aber ich werde mir – wie bisher – Zeit lassen. Zunächst ist jetzt eine Stärkung fällig. An der Adelrainstrasse, kurz nach Pt. 781 stosse ich auf eine trockene Bank unter einer Felswand und geniesse meinen Proviant, auch wenn der Kaffee nach fast 12 Stunden nur noch lauwarm ist. Man kann nicht alles haben!
Von Frutigen nach Kandersteg bin ich schon viele Male gewandert (auch in der Gegenrichtung) und es gibt dazu mannigfaltige Möglichkeiten. Die meisten beinhalten allerdings zahlreiche Extra-Höhenmeter. Das ist in der momentanen Situation nicht empfehlenswert, daher folge ich einfach dem Strässchen, welches sich westlich der Kander, meist etwas erhöht, durch das Tal von Kandergrund hinzieht. Der Talboden ist abgesehen von einigen markanten Hügeln flach, aber beidseitig ragen die Berge sehr hoch und steil in die Höhe und sorgen dafür, dass es noch lange Zeit schattig bleibt, während weiter talabwärts längst die Sonne dominiert. In diesen Berghängen zur Rechten (in Marschrichtung) wurde während des 2. Weltkriegs Steinkohle gefördert, entnehme ich dem Wanderbuch (Klopfenstein, Hans. Berner Wanderbuch 11, Kandertal. Kümmerly+Frey, Bern 1954/1973). Wo genau steht nicht, daher weiss ich auch nicht, welche Spuren man davon heute noch finden könnte. Überhaupt ist diese westliche Flanke des Kandertals eine ausserordentlich wilde Gegend, in der die aktuelle Karte kaum noch Wege zeigt. Auch auf Hikr findet sich bislang nur ein Tourenbericht, der diese Zone berührt, dabei gäbe es für ambitionierte Alpinwanderer sicherlich einiges zu entdecken.
Alpin geht es für mich nicht weiter, jedoch zunehmend steiler. Nach dem Wasserkraftwerk Kandergrund mit seinen imposanten Druckleitungen und der Standseilbahn, steigt der Talweg kontinuierlich an, und endlich erreicht nun auch die Sonne den Talboden. Die Wetterfrösche haben nicht zuviel versprochen – es ist ein Traumtag! Da vergisst man auch die Beine, die nun doch etwas zu schmerzen begonnen haben. Aber irgendwann ist der lange Anstieg geschafft und bei der Einmündung in die Risetistrasse überblicke ich den Talboden von Kandersteg. Der Bahnlinie entlang ist es nun nicht mehr weit bis zum Bahnhof, den ich nach rund 13 Stunden und 63 zurückgelegten Kilometern erreiche.
Erkenntnisse
Die Strecke Worb – Kandersteg ist definitiv Weitwandern vom Feinsten, wie ich nun nach 14 Jahren zum zweiten Mal erleben durfte. Vom Hügelland der Alpennordseite gelangt man auf diese Weise mitten hinein ins Herz der alpinen Bergwelt; mehr Abwechslung ist fast nicht vorstellbar. Die Vorbereitung hat sich ausbezahlt; der Proviant hat gereicht, Wasser war immer genügend vorhanden (total habe ich rund 5 Liter gebraucht) und die alten Schuhe haben sich bestens bewährt, auch wenn ich mit ihnen noch nie so lange am Stück marschiert bin. Vermutlich sind die Schuhe einfach dann am besten eingelaufen, wenn sie kurz davor sind, auseinander zu fallen. Die «Nachfolger» stehen schon bereit, aber damit werde ich dann zunächst kleinere Strecken zurücklegen.
Definitiv als gute Idee hat es sich erwiesen, abends loszuziehen. Genügend Schlaf in den vorherigen Nächten scheint zu reichen, um ein solches Unterfangen durchzuziehen, ohne dass einem unterwegs die Augen zufallen. Das ist natürlich meine persönliche Einschätzung und nicht allgemein gültig. Gerade in Hinblick auf immer extremere Hitzesommer ist dies aber eine wichtige Erkenntnis. Bei 30 – 40 Grad am Tag hat man sonst fast keine andere Möglichkeit mehr, wandern zu gehen – sieht man mal von grosser Höhe ab, wo man aber auch erst hingelangen muss.
P.S. Die Uhrzeit der Kamera stimmt nicht, weshalb zu jedem Bild in der Bildlegende die korrekte Zeit vermerkt ist.
Wie ich kürzlich aus diesem Bericht von

Vorbereitung

Tourenbeschrieb
Wettermässig ist Auffahrt (Christi Himmelfahrt) dieses Jahr eine Enttäuschung. Eine graue Hochnebeldecke erinnert mehr an den Herbst als an den Frühling. Aber nun scheint sich die Sache zu bessern, und im letzten (und einzigen) Sonnenlicht des Tages leuchten die Gipfel der fernen Blüemlisalp am Horizont, während ich Worb südwärts verlasse. Bis an die Aare ist alles Hartbelag und ausser dem kurzen Waldstück vor der Kiesgrube Rubigen, bin ich in offenem Gelände unterwegs. So komme ich auch nach dem Eindunkeln noch gut ohne Lampe zurecht. Dies ändert sich, als ich an der Hunzigenbrücke die Aare erreiche. Ab hier verläuft der Weg im Naturschutzgebiet Aarelandschaft Thun-Bern fast ausschliesslich durch den Wald. Diese Strecke ist tagsüber mal mehr mal weniger von Spaziergängern mit oder ohne Hunden bevölkert, was für Langstreckenwanderer lästig sein kann. Nachts jedoch ist das gleichmässige Wandern entlang des rauschenden Flusses sehr entspannend. Die Befürchtung, dass es auch ermüdend sei, erweist sich als unbegründet; im letzten Tageslicht und im Strahl der Lampe gibt es immer mal wieder etwas zu sehen und wenn ich eine geeignete Auflagefläche für die Kamera finde, mache ich ein paar Nachtaufnahmen mit Langzeitbelichtung. Der Himmel ist nun völlig klar geworden, und da gerade Neumond ist, trübt ausser der üblichen Lichtverschmutzung nichts den Blick in den grossartigen Sternenhimmel. So ist für Abwechslung gesorgt, die Stunden vergehen und lange nach Mitternacht erreiche ich die Aussenquartiere von Thun im Bereich der Gemeinden Heimberg und Steffisburg.
Da huscht plötzlich unmittelbar vor meinen Füssen ein grosses, pelziges Tier aus dem Feld links des Weges. Um es nicht unnötig zu erschrecken, richte ich die Lampe sofort in Richtung Himmel, trotzdem erkenne ich gut, dass es sich um einen Biber handelt. Einen Augenblick später ist er bereits im Gebüsch rechts des Weges, wo das Gelände zur Aare abfällt, verschwunden. Ein tolles Erlebnis!
Die Lampe brauche ich nun für eine Weile sowieso nicht mehr. Durch Thun hindurch sind alle Strassen hell erleuchtet, aber die Stadt selbst ist fast menschenleer. Auch der Verkehr ist fast ganz zum Erliegen gekommen, ausser Taxis sind kaum noch Autos unterwegs. In Pfaffenbühl verlasse ich die Strasse und betrete die schöne Parklandschaft im Gwatt, wo ich eine Pause einlege. Vor allem muss ich mir jetzt die Faserpelzjacke überziehen und die Mütze aufsetzen; im Verlauf der letzten Stunde ist die Temperatur spürbar gesunken. Wandern im T-Shirt liegt so nicht mehr drin. Ein weiterer Aspekt der aufkommenden Kälte ist der Tau, der dafür sorgt, dass die Ruhebänke klatschnass sind. Zum Glück finde ich eine Steinmauer, die diesbezüglich weniger anfällig ist. Bei meinem alten Android 2-Handy wird ein Akkuwechsel fällig. Der GPS-Tracker zeigt knapp 30 zurückgelegte Kilometer an und körperlich fühle ich mich in tadelloser Form, insbesondere verspüre ich keinerlei Beschwerden in den Füssen. Das motiviert für den Weiterweg.
Die Region Thun liegt am Eingang zum Berner Oberland und so ändert entsprechend auch die Topographie meiner Wanderstrecke. Ging es bislang mehr oder weniger flach dahin, so sorgt nun der 80 m-Anstieg auf die Gwattegg für Abwechslung. Beim Übergang auf Pt. 634 lässt sich die Region Thun nochmals wunderbar überblicken, während auf der anderen Seite einmal mehr die Autobahn zu unterqueren ist. Im Vergleich zum letzten Mal vor über 2 Stunden hat inzwischen auch hier der Verkehr deutlich nachgelassen. Durch das Glütschbachtal gelange ich nach Hani und auf die Hauptstrasse. Gute 2 km folge ich dieser nun und begegne dabei keinem einzigen Wagen. Es folgt die über 100 m lange gedeckte Holzbrücke Kapf, welche die 25 m tiefer fliessende Simme überquert und bald darauf erreiche ich Wimmis, zu Füssen des Niesen. Dessen Gipfellicht, welches auch von zuhause aus gut sichtbar ist, hat mir mehr oder weniger die ganze Nacht hindurch den Weg gewiesen. Um es ganz zu erreichen, müsste ich jetzt auf den Berg hinaufsteigen, aber das geht mit diesen Schuhen natürlich nicht!
Von der zunehmenden Kälte war bereits die Rede; hier in Wimmis kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Aus dem engen Einschnitt des Simmentals weht mir ein bissiger Wind entgegen. Während in den Alpentälern tagsüber der Wind talaufwärts bläst (Talwind), dreht sich das System nach Einbruch der Nacht um, und der Wind strömt talabwärts (Bergwind). Zwar sei dieser schwächer als der Talwind, allerdings wirkt der Engpass zwischen Simmenflue und Burgflue wie eine Düse, die den Luftzug deutlich verstärkt. Details zur Berg- und Talwind-Zirkulation sind hier nachzulesen. Dass dies ein lokales Phänomen ist, spüre ich beim Übergang ins Kandertal, wo der Wind bald wieder nachlässt. Inzwischen hat sich im Norden der Himmel aufgehellt und somit kündet sich bereits um etwa 04:30 Uhr der neue Tag an. Bis zum Sonnenaufgang dauert es aber noch gut anderthalb Stunden.
Nach dem Abstieg ins Kandertal verläuft der Weg fortan wieder einem Bach entlang, der Kander. Ihr Gefälle ist hingegen deutlich grösser als dasjenige der Aare zuvor, entsprechend gewinne ich nun kontinuierlich Höhenmeter. Mehr als 10 Stunden nach dem Abmarsch wird die Blüemlisalp, die sich majestätisch hinter Reichenbach erhebt, von den ersten Sonnenstrahlen beleuchtet – Erinnerungen an den Abmarsch kommen hoch. Weiterhin bin ich alleine unterwegs, erst kurz vor Frutigen lassen sich die ersten Spaziergänger und Jogger ausmachen.
In Frutigen wird eine Standortbestimmung fällig: Wanderung beenden oder weitermarschieren? Die Beine sind mittlerweile doch etwas müde geworden, aber die Füsse brennen oder schmerzen noch überhaupt nicht, daher entscheide ich mich, weiter zu gehen. Dies im Wissen, dass die Strecke nach Kandersteg nun mit ordentlich Höhenmetern aufwartet, aber ich werde mir – wie bisher – Zeit lassen. Zunächst ist jetzt eine Stärkung fällig. An der Adelrainstrasse, kurz nach Pt. 781 stosse ich auf eine trockene Bank unter einer Felswand und geniesse meinen Proviant, auch wenn der Kaffee nach fast 12 Stunden nur noch lauwarm ist. Man kann nicht alles haben!
Von Frutigen nach Kandersteg bin ich schon viele Male gewandert (auch in der Gegenrichtung) und es gibt dazu mannigfaltige Möglichkeiten. Die meisten beinhalten allerdings zahlreiche Extra-Höhenmeter. Das ist in der momentanen Situation nicht empfehlenswert, daher folge ich einfach dem Strässchen, welches sich westlich der Kander, meist etwas erhöht, durch das Tal von Kandergrund hinzieht. Der Talboden ist abgesehen von einigen markanten Hügeln flach, aber beidseitig ragen die Berge sehr hoch und steil in die Höhe und sorgen dafür, dass es noch lange Zeit schattig bleibt, während weiter talabwärts längst die Sonne dominiert. In diesen Berghängen zur Rechten (in Marschrichtung) wurde während des 2. Weltkriegs Steinkohle gefördert, entnehme ich dem Wanderbuch (Klopfenstein, Hans. Berner Wanderbuch 11, Kandertal. Kümmerly+Frey, Bern 1954/1973). Wo genau steht nicht, daher weiss ich auch nicht, welche Spuren man davon heute noch finden könnte. Überhaupt ist diese westliche Flanke des Kandertals eine ausserordentlich wilde Gegend, in der die aktuelle Karte kaum noch Wege zeigt. Auch auf Hikr findet sich bislang nur ein Tourenbericht, der diese Zone berührt, dabei gäbe es für ambitionierte Alpinwanderer sicherlich einiges zu entdecken.
Alpin geht es für mich nicht weiter, jedoch zunehmend steiler. Nach dem Wasserkraftwerk Kandergrund mit seinen imposanten Druckleitungen und der Standseilbahn, steigt der Talweg kontinuierlich an, und endlich erreicht nun auch die Sonne den Talboden. Die Wetterfrösche haben nicht zuviel versprochen – es ist ein Traumtag! Da vergisst man auch die Beine, die nun doch etwas zu schmerzen begonnen haben. Aber irgendwann ist der lange Anstieg geschafft und bei der Einmündung in die Risetistrasse überblicke ich den Talboden von Kandersteg. Der Bahnlinie entlang ist es nun nicht mehr weit bis zum Bahnhof, den ich nach rund 13 Stunden und 63 zurückgelegten Kilometern erreiche.
Erkenntnisse
Die Strecke Worb – Kandersteg ist definitiv Weitwandern vom Feinsten, wie ich nun nach 14 Jahren zum zweiten Mal erleben durfte. Vom Hügelland der Alpennordseite gelangt man auf diese Weise mitten hinein ins Herz der alpinen Bergwelt; mehr Abwechslung ist fast nicht vorstellbar. Die Vorbereitung hat sich ausbezahlt; der Proviant hat gereicht, Wasser war immer genügend vorhanden (total habe ich rund 5 Liter gebraucht) und die alten Schuhe haben sich bestens bewährt, auch wenn ich mit ihnen noch nie so lange am Stück marschiert bin. Vermutlich sind die Schuhe einfach dann am besten eingelaufen, wenn sie kurz davor sind, auseinander zu fallen. Die «Nachfolger» stehen schon bereit, aber damit werde ich dann zunächst kleinere Strecken zurücklegen.
Definitiv als gute Idee hat es sich erwiesen, abends loszuziehen. Genügend Schlaf in den vorherigen Nächten scheint zu reichen, um ein solches Unterfangen durchzuziehen, ohne dass einem unterwegs die Augen zufallen. Das ist natürlich meine persönliche Einschätzung und nicht allgemein gültig. Gerade in Hinblick auf immer extremere Hitzesommer ist dies aber eine wichtige Erkenntnis. Bei 30 – 40 Grad am Tag hat man sonst fast keine andere Möglichkeit mehr, wandern zu gehen – sieht man mal von grosser Höhe ab, wo man aber auch erst hingelangen muss.
P.S. Die Uhrzeit der Kamera stimmt nicht, weshalb zu jedem Bild in der Bildlegende die korrekte Zeit vermerkt ist.
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