Auf's Korn genommen: Corn da Tinizong


Publiziert von lorenzo , 10. Oktober 2012 um 00:06.

Region: Welt » Schweiz » Graubünden » Albulatal
Tour Datum: 3 Oktober 2012
Wandern Schwierigkeit: T3 - anspruchsvolles Bergwandern
Hochtouren Schwierigkeit: WS+
Klettern Schwierigkeit: II (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-GR 
Zeitbedarf: 8:00
Aufstieg: 2090 m
Abstieg: 2225 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Bergün/Bravuogn
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Tinizong, Tga Communala
Unterkunftmöglichkeiten:Chamonas d'Ela CAS
Kartennummer:LK 258/1236; Manfred Hunziker, Clubführer Bündner Alpen 6, SAC 2000

Bei der Durchreise auf der Albulastrecke oder der Julierpassstrasse hatte ich mir schon wiederholt vorgenomen, endlich den sagenhaften Parc Ela zu besuchen. Nach eingehendem Karten- und Führerstudium sollte es diesen Sommer endlich soweit sein, bis dann die ergiebigen Schneefälle Ende August meine Pläne abrupt zunichte machten. Anstelle einer beschaulichen mehrtägigen Durchquerung des Parks entschied ich mich deshalb, bei nächster Gelegenheit wenigstens eine abgekürzte Variante zu versuchen, die, wie ich den Berichten von Delta und karstencz entnehmen konnte, nicht allzu schwierig sein sollte, sofern nicht schattseitig schon Schnee lag...

5 Uhr 13 setzt sich der Schnellzug in Bewegung und rollt bald mit Höchstgeschwindigkeit Richtung Zürich. Mit der Lektüre von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" komme ich indessen nur langsam voran, und ich bin immer wieder versucht, das Buch wegzulegen und im "20 Minuten" zu blättern. Mit der Morgendämmerung um 7 Uhr wird die 4-stündige Zugfahrt durch Aussichten aus dem Zugfenster zwar aufgelockert, aber auch von meiner wachsendern Skepsis begleitet: schon in Ziegelbrücke sehe ich am Gross Kärpf zuoberst Schnee liegen, und später erkenne ich vom Domleschg aus 
auch am Piz Beverin Schneereste. In Filisur dann die unvermeidliche Gewissheit: auch das obere Drittel der Tinzenhorn N-Flanke ist noch eingeschneit. Ich beginne an meinem Vorhaben ernsthaft zu zweifeln und stelle mich auf eine beschauliche eintägige Herbstwanderung ein...Endlich hält der Zug in Bergün und ich klappe das Buch zu: der verlorenen Zeit könnte ich später auf der Rückfahrt wieder nachstudieren, jetzt gilt es zunächst einmal, keine Zeit mehr zu verlieren...

Aufstieg: von der Staziun Bravuogn auf der Strasse ins Dorf hinunter und auf dem weiss-rot markierten Hüttenweg (die Abkürzung zu P. 1989 war wegen Holzschlag gesperrt) über die Chamanna d'Uglix (Zahlencode für Schlüsselfach) und den Pass 2385 zu den Chamonas d'Ela, und weiter nach S bis ca. 2300m. Nach W über felsdurchsetztes Gras steil hinauf zur Geröllhalde N von Bot Radond (2509m), und Pfadspuren und Steinmännern folgend zum Beginn der von P. 2854 des NE-Grats (Fil da Stidier) herunter ziehenden breiten Felsrippe, T3. Weiter nach W zuerst auf Pfadspuren über Geröll, dann auf Bändern unter dem NE-Grat (Steinmänner) bis ca. 3000m unterhalb einer Gratscharte (Stockdepot). Einfach auf den Grat und über diesen zum Gipfelaufbau. Horizontale Querung auf einem Band nach links in die SE-Flanke zu einer Felsstufe. Durch den rechten von 3 Kaminen ca. 5m hinauf (II+, Schlinge, Absteilstelle) und auf einem Band nach links auf eine geneigte Terrasse. Auf dieser über Geröll und Felsen links haltend hinauf und durch eine Rinne (II) auf eine weitere geneigte Terrasse. Links über eine Felsrippe hinauf (II) und durch eine enge Rinne (II) auf den Gipfelgrat. (Steinmänner für verschiedene Varianten; die beschriebene Route verläuft ab dem Band zuerst kurz rechts, dann links von der von Delta eingezeichneten Route). Ein erster Gendarm wird überklettert (II), dann ca. 2m ausgesetzt hinunter auf ein abschüssiges Band NW vom Grat (bei Schnee Sicherungsmöglichkeit an Felszacken). Auf dem Band zu einer griffigen Felsstufe und über diese und Bänder nach links zurück auf den Grat (II) und einfach zum Gipfel, WS+, II+.

Abstieg: auf der gleichen Route bis ca. 2550m hinunter (die Abseilstellen können bei trockenen Verhältnissen abgeklettert werden), dann Querung der E-Flanke auf Geröll nach S auf den weiss-rot markierten Bergweg und diesem folgend hinauf zum Pass digls Orgels. Auf dem Bergweg am wunderschönen Lai Tigiel vorbei und E des Ragn Tigiel hinunter nach Bartg und zur Brücke 1659, dann zuerst S, nach einer weiteren Brücke N des Ragn d'Err hinunter nach Tinizong, T3.

Ausrüstung: Helm, 20m Reepschnur, Leichtpickel. Für Seilschaften 30m Seil und etwas flexibles Sicherungsmaterial.

Fahrplan: 9.13 Ankunft Bergün/Bravuogn, 13.45 Gipfel, 17.40 Abfahrt Tinizong.

Auf der Rückfahrt durch das Oberhalbstein konnte ich die Suche nach der verlorenen Zeit wieder fortsetzen, diesmal aber ohne Buch und vor mich hindämmernd, denn für die komplexen, mehrstimmig komponierten Sätze war ich einfach zu müde. Erst in Zürich war ich wieder wach genug, um wenigstens den "Blick am Abend" durchzublättern...

"Doch wird man sehen, wie gewisse flüchtige und zufällige Eindrücke viel besser noch in die Vergangenheit führen, mit einer subtileren Genauigkeit, einem Flug, der leichter, immaterieller, schwindelnder, unfehlbarer und unvergänglicher ist als solche organische Verrenkungen." (Guermantes)

"Die verlorene Zeit wird nur bei den Reichen wiedergefunden. Für die Armen verzeichnet sie nur die undeutlichen Spuren des Weges zum Tode." (Albert Camus, Der erste Mensch)

Tourengänger: lorenzo


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Kommentare (8)


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mde hat gesagt: Skitour?
Gesendet am 10. Oktober 2012 um 09:00
Hatte immer mal damit geliebäugelt, das Tinzenhorn im Winter als "Skitour" zu machen? Wie schätzt Du das ein?

lorenzo hat gesagt: RE:Skitour?
Gesendet am 10. Oktober 2012 um 09:49
Hallo Marcel

ich könnte mir vorstellen, dass bei guten Verhältnissen - genügend Schnee, kalte Temperaturen, früher Aufbruch - sowohl die Normalroute bis hinauf zum NE-Grat, als auch die Nordwand bis mind. 2800m hinauf mit Ski befahren werden könnten. Der Weiteraufstieg zum Gipfel besteht dann bei beiden Routen wohl aus mehr oder weniger anspruchsvollem Mixedgelände.

Viel Glück und Erfolg, ich bin gespannt!

lorenzo

Bombo hat gesagt: Zeitreisen
Gesendet am 10. Oktober 2012 um 16:40
Hi Doc (Dr. Emmett L. Brown)

Toller Bericht, bei welchem durchaus auch geschmunzelt werden darf - ich würde fast schon sagen, Deine sauber formulierte und bildlich festgehaltene Zeitreise war vielleicht nur ein kleiner Schritt für Dich, aber ein grosser für die Menschheit :-)


Es grüsst
Marty McFly (der mit dem Fly


P.S. Teil 3 dieses Klassikers entspricht wohl am ehesten Deiner Zeitreisen :-)

lorenzo hat gesagt: RE:Zeitreisen
Gesendet am 10. Oktober 2012 um 21:43
Hy Marty

natürlich, ein Riesenschritt für die Menschheit, der das völlig egal ist...Zum Glück haben Post, RhB und SBB einen Fluxkompensator, sonst wäre ich wohl irgendwann in den 60er oder 70er stecken geblieben...

Dank Dir habe ich jetzt wenigstens erkannt, dass meine Bildungslücken noch viel tiefer sind, als ich zu glauben gewagt habe...Für verregnete Wochenenden ist damit zumindest schon vorgesorgt...

Es dankt

Doc Brown

Alpin_Rise hat gesagt: Proust Nägeli,
Gesendet am 10. Oktober 2012 um 19:10
schöne Tagestour, da galt es keine Zeit zu verlieren! Obwohl die Suche nach ebendieser in der RhB immanent ist, als langsamster Schnellzug der Welt... die Reise zu den drei Dolomitenstöcken ist nie nur Verlust.

Gerne möcht ich verlorene Erinnerungen auffrischen, die eine oder andere schöne Route offeriert der Berg noch... die Skibesteigung dürfte evtl. von Westen auch gelingen, dort ist der Klotz am wenigsten steil.

G, Rise

lorenzo hat gesagt: RE:Proust Nägeli,
Gesendet am 10. Oktober 2012 um 21:30
Hallo Rise

Du hast recht: Zeit zu vertrödeln ist doch das Schönste, was es gibt. Deshalb muss das Verhältnis mit mindestens 1:1 stimmen: 8h Zugfahren - 8h Seckle...Noch langsamer als die Viafer Rhetica ist wahrscheinlich nur die Vigezzina bzw. Centovallibahn, wo man die Zeit auch wieder finden kann. Das wäre dann Band 7...

Von Westen: ab Alvaneu Bad über Schaftobel und Westflanke (sieht aber auf der Karte steil aus) oder Westgrat?

Grüsse

lorenzo




fuemm63 hat gesagt: Von Proust
Gesendet am 11. Oktober 2012 um 09:05
zu "Blick am Abend" - was für ein T6-Abstieg, das schaffen nur gute Kletterer ;-)

gr Fümm

lorenzo hat gesagt: RE:Von Proust
Gesendet am 11. Oktober 2012 um 20:30
Hinunter war ja einfach, wieder hinauf bedeutend schwieriger...

Grüsse

lorenzo


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