Über elf 3000er vom Vals ins Misox (2/2)
|
||||||||||||||||||||
Gipfelsammeln über dem Paradies-Gletscher – gewaltige Wolkenstimmungen und ein eindrücklicher Marsch durchs hinterste Calanca-Tal
Tags zuvor hatte mich ein langer Wandertag über Grate, Pässe und Täler vom Valsertal an den Fuss des Paradies-Gletschers geführt. Der zweite Teil meiner Biwaktour sollte mich über die auf Hikr schon recht häufig beschriebenen Gipfel zwischen Hinterrhein und Val Malvaglia führen, eine Region, wo die «Gipfeldichte» ungewöhnlich hoch ist. Es ist eine wunderschöne und meist einfache Überschreitungstour um die Quelle des Hinterrheins. Dank den Gletschern und den Ausblicken aufs beherrschende Rheinwaldhorn fühlt sich die Runde wie eine richtige Hochtour an, ist jedoch gut ohne entsprechende Ausrüstung zu meistern. Höhepunkte waren die unglaublichen Wolken-Formationen, die mich den ganzen Tag umgaben, sowie der endlose Rückmarsch durch die Einsamkeit des Calanca-Tals.
Mit dem ersten Licht lasse ich meinen Biwak-Platz unter mir und steige auf der Moräne gegen die Gemskanzel. Der Anlaufschmerz in meinem lädierten Fuss zeigt sich hartnäckig nach den fast 3000 Höhenmetern gestern und ich frage mich, ob man so humpelnd wirklich auf eine lange Tour gehen sollte… Als die Sonne aufgeht, weiss ich allerdings, dass ich goldrichtig bin hier. Traumhafter Anstieg im Morgenlicht über Platten und Schneefelder in den Sattel hinter der Gemskanzel und in wenigen Schritten auf den schönen Gipfel (T4). Anschliessend quere ich mit geringem Höhenverlust den flachen, stark im Rückgang begriffenen Paradiesgletscher, und steige über grobe Blöcke hinauf zu Vogeljoch. Der Blick hinab auf die Tessiner Gipfel ist fantastisch. Leider drückt von Süden viel Feuchtigkeit hinauf und der wolkenlose Morgen hat sich im Nu in ein Tappen im Nebel verwandelt. So erreiche ich die Lògia über den SE-Grat (T4-T5) mit Null Sicht – schade. Immer noch im Nebel kraxle ich auf den Pizzo Baratin. Kurz vor dem höchsten Punkt eine kurze Kletterstelle (II), welche wegen der Nässe etwas Vorsicht erfordert.
Im Aufstieg zum Pizzo Cramorino lichtet sich die Nebeldecke etwas und ich entschliesse mich den Pizzo Nass mitzunehmen. Querung in rutschfreudigem Geröll und auf dem schönen Gneissgrat, absteigend, gegen den «Gipfel». Die Felsen können entweder überklettert (II), oder in der Ostflanke umgangen werden. Über den Südgrat, teils mit etwas Kraxelei auf den Pizzo Cramorino (T5), wo der blaue Himmel überhand nimmt – ein Bergsteigertraum! Im Aufstieg zum Vogelberg darf nochmals etwas geklettert werden. Die Aufschwünge sehen zwar steil aus, sind aber gut gestuft und einfach (T5). Nach einer Rast bei fast wolkenlosem Himmel und grandiosen Ausblicken auf die Feuchtigkeit, die rundherum quellt, verfolge ich den Grat zum Rheinquellhorn weiter. Auch dieser ist einfach (T4, Wegspuren). Im Abstieg vom Rheinquellhorn (mit nettem Gipfelbuch, erstaunlicherweise erst zweiter Eintrag im 2016) muss an einer Felsstufe nach Pt 3145 etwas geklettert werden (T5, II). Ich steige ostseitig auf den Gletscher ab um schneller vorwärts zu kommen. Via Zapportpass zum Pass de Stabi, wo ich den Rucksack deponiere. Kurzer Abstecher zum Piz de Stabi, welcher ohne Probleme über Schutt und einen breiten Grat erreichbar ist (T4). Ebenfalls ohne Schwierigkeiten kann man zum sehr schönen Puntone dei Fraciòn wandern, der Nordgrat erfordert nur an einigen Stellen etwas Kraxelei (T4-T5). Erster Eintrag im Gipfelbuch im 2016 (was am schimmligen Zustand des Buchs liegen kann).
Zurück im Pass de Stabi bereite ich mich auf den langen Rückweg in die Zivilisation vor. Fast vier Stunden um den reservierten Bus in San Bernardino zu erreichen, müssten ja bei weitem ausreichen… Das erste Problem stellt sich aber schon beim Abstieg auf den Ghiacciaio de Stabi. Zaza hatte, die Stelle schon als heikel bezeichnet, aber 2012 von der geplanten Anbringung eines Fixseiles berichtet. Erfreut stelle ich fest, dass dies geschehen ist, sogar unterstützt mit einem fetten Wanderweg-Zeichen. Kein Problem also? Als ich 10m über dem Gletscher am abrupten Ende der rostigen Kette hänge, beantwortet sich die Frage von selbst… Mist! Entweder ist die Kette gebrochen oder, wahrscheinlicher, durch den Gletscherrückgang ist das Seil einfach zu kurz. Extrem mühsam kann ich mich im übersteilten Sand hinabkrallen, ein paar brüchige Griffe freilegen und mit einem Sprung den Eisresten ausweichen (T6). Fast ironisch prangt daneben das Bergwegzeichen… Ich rate niemandem nach Abschmelzen des Schnees (Mitte Juli) hier durchzugehen. Im Abstieg abseilen, bzw. Steigeisen anziehen um im Sand halt zu finden. Besser wäre es wohl durch die Ostflanke direkt zum N-Grat des Puntone dei Fraciòn hochzusteigen.
Angenehmer Abstieg über ausgedehnte Schneefelder über den Gletscher. Geschickt wäre es schon früh nach rechts auszuweichen. Ich bleibe allerdings im Tal und muss feststellen, dass das Gelände bald felsig und steil wird. Im Zickzack finde ich einen gangbaren Weg durch die eindrückliche Stufe (T5). Auf 2400 m.ü.M. hält man etwas rechts und trifft auf einen schwachen Pfad, mit dem sich die letzte Stufe überwinden lässt. Ich hatte mir vorgestellt auf dem eingezeichneten Weg nun gemütlich zum Pass dei Omenit wandern zu können. Von diesem ist jedoch nichts mehr zu erkennen. Nach der (momentan zwingenden) Überquerung einer gewaltigen Schneebrücke (mit einem etwas unguten Gefühl) treffe ich auf schwache, alte Wegmarkierungen und kaum mehr kenntliche Trittspuren. Nun, wer sollte sich denn schon so weit ans hinterste Ende des Calanca-Tals verirren? Hier gibt es nicht einmal Schafe. Der Pfad führt durch wunderschöne, völlig unberührte Landschaft auf eine Hochebene mit Bergsee und dann weiter durch die steile Flanke zum markanten Felskopf der Guardia (T4). Den Gipfelsteinmann kann man über ein kurzes exponiertes Grätchen erreichen. Anschliessend weiter zu den drei grossen Steinmännern auf dem Pass dei Omenit – was für eine Erleichterung diesen Eckpunkt der Tour zu erreichen. Das dauerte länger als gedacht und war auf dem undeutlichen Weglein ziemlich anstrengend. Abstieg ins Skigebiet von San Bernardino – schon fast ein Kulturschock nach der vielen Einsamkeit. Überrascht stelle ich fest, dass die Bergbahnen in Betrieb sind, wandere aber doch bis hinunter ins Dorf, wo ich wegen einer sinnlosen Wegweiser-Angabe hinaus ins Nirwana eine Viertelstunde in den Sand setzte noch fast den Bus verpasst hätte.
Durchgangszeiten:
Zapport (Biwak): 5.35
Lògia: 7.20
Vogelberg (inkl. Pizzo Nass): 8.55
Puntone dei Franciòn: 10.30
Passo dei Omenit: 13.10
San Bernardino: 14.25
Comments (2)