Flucht vor dem Wintereinbruch durch Dunkelheit, Fels und Eis


Publiziert von alpensucht , 17. November 2013 um 16:35.

Region: Welt » Österreich » Zentrale Ostalpen » Ötztaler Alpen
Tour Datum:10 Oktober 2013
Wandern Schwierigkeit: T5 - anspruchsvolles Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: WS
Klettern Schwierigkeit: I (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: A 
Aufstieg: 600 m
Abstieg: 1700 m
Strecke:Hütte - Joch - Hochtal - Huben

Wetterprognosen unserer zwei Kontakte in der „Zivilisation“ teilen uns am Vorabend mit, dass ab dem nächsten Tag der Wintereinbruch über die Alpen hereinbrechen würde. Uns drohen dann also Tempereratursturz, Schneefall und vereiste Felsen. Wir wollen möglichst von der Rüsselsheimer Hütte über das Weißmaurachjoch ins Ötztal hinab. Am Vortag waren drei von uns auf der Hohen Geige. Schon am Vorabend bekomme ich ein mulmiges Gefühl und hoffe, wir müssen nicht den Hüttenweg ins Pitztal absteigen.

 

Die unruhige Nacht des Zweifelns

Gegen 23 Uhr packen Joe und ich noch unsere Rucksäcke weitgehend und räumen auf. Die beiden anderen schlafen schon. Wir vereinbaren gegen 5 Uhr morgens die Hütte zu verlassen. Gegen 0 Uhr schaffe ich es letztendlich auch etwas Ruhe zu finden. Gegen 2 Uhr erwache ich erneut, auch Joe konnte nicht gut schlafen. Eine Wetter-SMS sagte konkret aus, dass sogar schon morgens der Niederschlag beginnen kann.

 

Draußen könnte die Nacht nicht friedlicher und wolkenloser sein. Ein starker Drang befällt mich, es noch vor dem Wintereinbruch über das Joch zu schaffen. Joe stimmt der Idee zu, eher aufzubrechen. Er geht nochmal etwas schlafen. Ich bekomme kein Auge mehr zu, schaue auf die Karte, wäge ab und warte unruhig bis mein Wecker klingelt. Kopien aus meinem zu schweren AVF werden zur bevorstehenden Tour zu Rate gezogen. Auch frage ich nach meiner Gewohnheit Gott, also ich bete, dass wir gute Entscheidungen treffen können.

 

2:45 Uhr ist Tagwache. LuNo und A_Thorne wissen noch nichts von dem veränderten Plan. Draußen umfängt mich eine sternenklare, kühle Nacht. In der Hütte liegen noch viele Sachen herum. 3:30 Uhr wollen wir die Hütte verlassen. Einige haltbare Nahrungsmittel lassen wir im Winterraum. Bis übermorgen hätten wir mehr als genügend Nahrung gehabt. Die Hütte zu verlassen, wie wir sie vorfanden, ist selbstverständlich und erfordert aber ca.20min Arbeit. 3:45 Uhr.

 

Gefährlicher Aufstieg bei eisigen Verhältnissen (T5, WS)

Still wandern wir den bekannten Weg bis zum Abzweig Richtung Mainzer Höhenweg / Weißmaurachjoch. LuNo's einfache Stirnlampe leuchtet nur sehr schwach und versagt teilweise ganz ihren Dienst. So läuft sie immer vor ihrem Bruder, der mit einer sehr starken Lampe ausgestattet ist. Beim Anstieg zum Moränensee teste ich das Laufen ohne Lampe, falls LuNo nicht klar kommt. Es geht, aber die Gefahr ist groß, eine Serpentine zu übersehen. Der Weg ist markiert und trasiert (T2). Mit Licht brauche ich weniger Konzentration bei jedem Schritt.

 

Es geht gut voran. Immer noch sind keine Anzeichen von Wolken zu sehen. Nachdem wir an meinem „Badesee“ von gestern vorbei gekommen sind, verläuft der Weg über weniger markiertes Moränengelände. Hier verlässt man bei Unachtsamkeit sicher schnell die Route in der Dunkelheit. Langsam steilt das Gelände auf. Bei etwa 2700m liegt eine dünne Schneeschicht auf dem Gestein. 5:30 Uhr.

 

Ein ca.35° steiles Schneefeld liegt mitten in unserer Route. Wir legen die Steigeisen an und steigen vorsichtig weiter auf. Nach ca. 30Hm queren wir links in das vereiste Schrofengelände. Dort ist die Route zu vermuten. Gute Tritte und eine relativ griffige Schneeschicht auf dem Fels veranlassen mich, die Steigeisen wieder von den Schuhen zu nehmen. Vorsichtig steigen wir weiter. Meine Profilsohle greift gut bei allen wohl gesetzten Schritten. So steigen wir langsam weiter. LuNo und Joe brauchen sehr lange. Häufig halte ich einige Zeit inne, beobachte den sich weitenden nordwestlichen Horizont und die Bewegungen meiner Tourenpartner. Hätten wir doch besser die Steigeisen anbehalten? Die anderen haben bisher kaum Übung mit den Geräten, deshalb bleibe ich dabei, ohne Steigeisen weiter zu gehen.

 

Da – bemerke ich einen sich über den nördlichen Kaunergrat schiebenden grauen Schleier. Der Wintereinbruch ist nahe!! Wir hätten keine Minute später aufbrechen dürfen!

 

Es ist sehr schwierig, die richtige Route auszumachen. Manchmal finde ich eine Markierung. Das Gelände wird aber nochmals steiler (T5, WS). Bei den letzten 70Hm meldet sich LuNo, sie habe Angst abzurutschen. Der letzte Abschnitt ist mit vereisten Ketten gesichert. Sofort setze ich meinen Rucksack ab, baue an einer Schlüsselstelle (aus dem Gelände in den gesicherten Abschnitt) mit der 10m Reepschnur eine Art Fixseil (Reepschnur im Doppelstrang mit eingeknüpften Handschlaufen). Danach steige ich zur einzigen Frau unter uns hinab, beruhige und motiviere sie, nehme ihren Rucksack und gehe direkt vor ihr, um ihr die besten Stufen und Haltepunkte zeigen zu können. Das Fixseil hilft schon mental wirklich ausgezeichnet.

Die beiden anderen sind auch froh an die Ketten zu kommen, wobei A_Thorne sie kaum benutzt. Ganz zum Schluss lehnt sich das Gelände wieder zurück.

 

Gegen 7:30 Uhr gelangen wir dann endlich alle wohlbehalten ins Weißmaurachjoch. Ein kleiner Hinkelstein fällt mir vom Herzen. Die umliegenden Bergketten sind alle schon mit Wolken verhangen, wirken aber nicht bedrohlich. Nun stellt sich die Frage, wo wir genau absteigen. Die gesamte Nordostflanke ist nämlich von einem steilen Firnfeld überzogen.

 

Abstieg in den Sonnenaufgang (T5-)

Wir legen wieder die Steigeisen an. Nach eingehender Prüfung des Firns und der Steilheit steigen wir an der flachsten Stelle in die Flanke ein. Eine griffige ca. 30cm tiefe Firnauflage erleichtert das Absteigen ungemein. Ich ermahne meine Partner zur Vorsicht, wegen der Stolpergefahr. Der Himmel um uns erhellt sich langsam. Schnell gelangen wir in flacheres Gelände und finden eine Markierung am immer noch vereisten Fels. Die Steigeisen legen wir wieder ab und suchen zügig trockenen Fels zu erreichen. 7 Uhr.

In den nächsten 20min erleben wir das ersehnte Naturschauspiel. Zwei Seen spiegeln die herrlichen Farben, in die sich alles um uns kleidet. Wir halten einfach inne und staunen. Alle Berge um uns sind mit Wolken verhüllt. Über uns ist blauer Himmel mit leichten Schleierwolken. Wir kommen nur selten in den Genuss eines solch schönen Sonnenaufgangs.

 

Wir fallen weit auseinander. Am linken Karrand erkennen wir einen trasierten Weg (T2), auf den wir in aller Ruhe zustreben. Kleine Eisgebilde am Boden überraschen den aufmerksamen Berggänger. Viel zu erzählen haben wir uns nicht. Wir alle sind müde, aber auch frohen Mutes. Zuversichtlich suchen wir etwas weiter unten bei fließendem Wasser auf 2600m einen Pausenplatz. Die Sonne scheint nicht und nur in Bewegung bleiben wir warm. Dennoch frühstücken wir ausgiebig am aussichtsreichen Logenplatz über dem Pollestal. 8:30 Uhr.

 

Abstieg durchs Pollestal bis Huben (T3)

Nach dem Geländebalkon, unserem Logenplatz, wird das Gelände wieder recht steil. Bei niedrigem Gehtempo, hält sich die Belastung für unsere Gelenke in Grenzen. Jedes grüne Pflänzchen und jedes herbstlich-bunte Kraut erfreut unsere Augen. Die Talsohle rückt schnell näher. Während jeder so hinter eigenen Gedanken her hängt, verändert sich die Sicht auf die immer gewaltiger erscheinenden Berge stetig. Hier und da öffnet sich ein Nebelfenster oder eine Wolke kriecht aus dem Tal hinauf. Im Tal beginnt eine angenehme Fahrstraße (Karrenweg), die jedoch bald eintönig wirkt. Wir weichen ab, hinab an den Pollesbach, wo ein kleiner Pfad nahe am Wasser entlang führt (T2).

 

Weiter unten begegnen uns im Jeep die ersten fremden Menschen seit über drei Tagen. Sie fragen uns, ob wir Gämse gesichtet hätten. Diese Frage können wir erst etwas später bejahen. Die Stimmung ist friedlich.

 

Nach zwei weiteren kleinen Pausen begegnen wir den ersten richtigen Bäumen. Der restliche Weg ist mir nun bekannt, denn hier bin ich letztes Jahr nach der Soloüberschreitung der Hohen Geige 3396m aus dem Pirchlkar abgestiegen. Nur liegen diesmal deutlich mehr Strapazen hinter uns.

 

Unterhalb der kleinen Kapelle beginnt der Sagenweg. Wir lesen die meisten Tafeln durch. An jeder Sage ist irgendetwas glaubwürdiges oder gar wahres dran. Vielleicht. Nach so einer Mehrtagetour ist man irgendwie offener für solche mysteriösen Dinge...

 

Weiter unterhalb wird es nochmal steil – nicht die letzte Herausforderung heute! Wir laufen wie ein loser Haufen und sind uns nicht ganz einige, wo wir nochmal pausieren, bevor wir in die „richtige Zivilisation“ zurück kehren. Weil wir nicht mehr alle beisammen sind, machen wir letztendlich gar keine echte Pause mehr. Der Campingplatz in Huben ist mir noch lebhaft in Erinnerung und hat sich kaum verändert.

 

Während wir auf den Bus warten kehren wir noch in ein extra für uns geöffnetes Restaurant ein und trinken wenigstens ein gutes Bier. Jeder, der das erlebt hat weiß: es schmeckt viel besser nach solch einer Tour.

 

Noch am selben Tag fahren wir bis ins Alpenvorland, wo es in der folgenden Nacht bis 600m hinab schneit. Wir sind also dem voreiligen Wintereinbruch entronnen. Wir alle sind sehr glücklich, dass wir es genauso gemacht haben, wie es war. Wenn ich das nächste Mal mit einer Gruppe in solch eine Situation nachts kommen sollte, werde ich definitiv die Steigeisen anbehalten bis das Joch erreicht ist.

 

Der Übergang und der lange Weg durch das Pollestal ist ein wunderschöner Ausklang einer (fast vollständigen) schönen Tourenwoche. Die gesammelten Erfahrungen sind für uns alle von unschätzbarem Wert. Es geht noch weniger mitzunehmen. Die Sozialkompetenz der Tourengänger ist enorm wichtig für das Gelingen einer solchen Woche.

 

Über konstruktive Kritik und sonstigen Kommentare von euch Hikrs würde ich mich sehr freuen.


Links zu den Touren der vorigen Tage:

Hinaus aus dem Wald bei Nebel und Regen - Geigenkammdurchquerung Tag 1

Geigenkammdurchquerung Tag 2 - Akklimatisierung am Luibiskogel 3112m  

Fünf-Jöcher-Übergang zur Rüsselsheimer Hütte mit über 80kg Gepäck


Tourengänger: alpensucht, A_Thorne, LuNo


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