♫♩Das Lied der Steine ♪♫ (Passo di Ghiacciaione)
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Vorbemerkung: Als Orientierungshilfe für Tourengänger sind weder mein Bericht noch die Fotoserie geeignet. Aber die Route ist ja markiert und man kann sich kaum verirren. Hingegen möchte ich einen Eindruck vermitteln von der wundervollen, phantastischen Urlandschaft am Passo di Ghiacciaione, so wie ich sie erlebt habe.
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Von meiner Tour von Polpiano (sopra Dalpe, Leventina) auf den Passo di Ghiacciaione und hinunter nach Chironico habe ich vor allem Eines in der Erinnerung behalten: Steine Steine Steine...!!! Der Titel passt also nicht schlecht zu meinem Tourenbericht.
Mit den Steinen haben wir Menschen es ja schon lange zu tun, und eine ganze Epoche wird nach ihnen benannt: die Steinzeit. Die ersten Werkzeuge, die diesen Namen verdienen, haben wir aus Steinen gebastelt, die ersten Waffen auch (neben den Knüppeln aus Holz). Steine kommen in vielen Redewendungen vor: Der Stein der Weisen, der Stein des Anstosses, der Stolperstein, das Herz aus Stein usw.
Aus Steinen baut man Brücken, Kathedralen, Stützmauern und Bachverbauungen, Cascine, Capanne, Cappelle, Chiese, Rustici und Steinmännchen. Steine kann man schleppen, werfen, hauen, bemalen und backen (Backsteine), sie können im Magen liegen oder vom Herzen fallen, man kann darüber stolpern oder auf ihnen sitzen - Letzteres mache ich in den Bergen oft und gerne, vor allem im Sommer, wenn sie nicht kalt sind. Steine werden in unzähligen Liedern besungen - und The Rolling Stones, immerhin nicht gerade die hinterste und letzte aller Rockbands, verwenden die Steine sogar in ihrem Bandnamen. Und ausserdem: Nicht nur die Menschen, auch die Steine singen Lieder - die aber niemand hören kann, weil die Töne zu tief sind für unsere Ohren (das kann ich zwar nicht beweisen, also müsst Ihr mir das einfach glauben).
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Unerwartet hatte ich ein Auto zur Verfügung, nutzte die Gelegenheit und fuhr am 6. August 2007, es war ein Montag, nach Dalpe (Leventina) und weiter durch den Wald nach Polpiano (1365m), wo ich das Auto auf einer Wiese neben der Piumogna (das ist der Talbach des Val Piumogna) stehen liess. Es war ungefähr 08:00 Uhr.
Eigentlich wollte ich ja nur ein wenig ins Val Piumogna hinein laufen und herausfinden, ob es etwas Neues gab und "einen Blick ins Tal werfen und sehen, woher der Wind weht". Diese Redewendung (frei übersetzt von mong, oh je!) kenne ich aus einem Lied von The Doors, einer amerikanischen Band aus den 60er Jahren. Jim Morrison, der Sänger, singt im Song L.A.Woman: "♩♫...Well, I just got into town about an hour ago, took a look around see which way the wind blow...♩♫". Diese Textstelle hat mir schon immer gefallen, ich benutze sie oft vor einer Wanderung, sie entspannt mich und ich komme oft weiter, als wenn ich mir sagen würde: Morgen muss ich von A nach B laufen, unbedingt, koste es, was es wolle.
Ich laufe also ins Tal hinein und hinauf zur Alpe di Gera, dann durch den Bosco del Lambro nach Sgnói. "Jetzt laufe ich noch um die Wegbiegung herum dort oben", sagte ich mir, "dann kehre ich um". Aber die Gegend ist phantastisch und das Wetter gut, es wird ein schöner Tag, und ich lasse die Bilder der archaischen, wilden Urlandschaft auf der anderen Talseite bei Böc di Comasné in mich hinein sinken. Meine Kamera bleibt im Rucksack, weil ich mir sage, ich könne ja auf dem Rückweg ein paar Fotos machen. Und schon bald sehe ich weiter oben die Capanna Campo Tencia.
"♬♫...Let's Go Get Stoned...♬♫" (Ray Charles)
"♬♫...Let's Go Get Stoned...♬♫" (Ray Charles)
Unterhalb der Capanna Campo Tencia zweigt das Band Senda del Ghiacciaio ab in Richtung Passo di Ghiacciaione. Wow...was sind das für schöne, verlockende und verführerische Bezeichnungen für einen Weg und einen Pass!!! Vor allem den Namen Senda del Ghiacciaio lasse ich mir auf der Zunge zergehen. Hmm...das schmeckt verführerisch...!!! Ich bin wieder einmal hin und weg - die Senda del Ghiacciaio hat mich um den Finger gewickelt, Widerstand ist zwecklos (er bröckelt), und ich mag nicht mehr umkehren, die Würfel sind gefallen, und schon bin ich auf dem Pfad, der blau-weiss markiert ist und steilen Grashängen entlang und über Bäche und Rinnsale und dann über die Geröllhalden oberhalb des Kessels von Böc di Comasné führt.
Seeger hat in seinem Tourenbericht Tessiner Hüttentrek 3 eine interessante Technik für das Queren von Geröllhalden beschrieben. Ein Ausschnitt: "...Ich finde das Nivellieren spannend. Das heisst Punkte auswählen, welche eine Ebene bilden, damit ein ruhiges und energiesparendes Gehen möglich wird...". Leider kannte ich diese Technik damals nicht, und nach Lavina di Groslina, wo die Route steil hinauf nach Südosten und in Richtung des Passo di Ghiacciaione abbiegt, war ich elend müde, setzte mich auf einen Stein und machte eine Pause. Es ist heiss, der Schweiss dringt aus allen Poren, fliesst von der Stirn und brennt in den Augen, das T-shirt klebt auf der Haut (aber was erzähle ich da für Banalitäten - Ihr wisst ja schon, wie das ist). Die Blockhalde zum Pass hinauf ist steil und vor allem lang und beim Aufstieg halte ich viel zu weit links, muss darum zur Strafe nach rechts queren und schimpfe vor mich hin - hehe, ich komme mir vor wie eine schimpfende Ameise, die sich zwischen riesigen Steinblöcken einen Weg sucht.
Seeger hat in seinem Tourenbericht Tessiner Hüttentrek 3 eine interessante Technik für das Queren von Geröllhalden beschrieben. Ein Ausschnitt: "...Ich finde das Nivellieren spannend. Das heisst Punkte auswählen, welche eine Ebene bilden, damit ein ruhiges und energiesparendes Gehen möglich wird...". Leider kannte ich diese Technik damals nicht, und nach Lavina di Groslina, wo die Route steil hinauf nach Südosten und in Richtung des Passo di Ghiacciaione abbiegt, war ich elend müde, setzte mich auf einen Stein und machte eine Pause. Es ist heiss, der Schweiss dringt aus allen Poren, fliesst von der Stirn und brennt in den Augen, das T-shirt klebt auf der Haut (aber was erzähle ich da für Banalitäten - Ihr wisst ja schon, wie das ist). Die Blockhalde zum Pass hinauf ist steil und vor allem lang und beim Aufstieg halte ich viel zu weit links, muss darum zur Strafe nach rechts queren und schimpfe vor mich hin - hehe, ich komme mir vor wie eine schimpfende Ameise, die sich zwischen riesigen Steinblöcken einen Weg sucht.
Aber -im Ernst - es war schon eine bizarres Erlebnis, keuchend und schwitzend über diese Geröll- und Blockhalden und zwischen diesen mächtigen und bedrohlichen Wuchtsteinbrocken gegen den Passo di Ghiacciaione hinauf zu steigen. Ich kam nicht darum herum, mich mit diesen Steinen zu vergleichen - und kam dabei schlecht weg, alles in allem. Ich - eine müde und zerbrechliche, im Vergleich zur Umgebung winzige und nichtige, aus der Ferne kaum wahrnehmbare BioKreatur, zeitlich eng begrenzt und extrem sterblich und bestialisch vergänglich und eigentlich extrem überflüssig, bestehend aus Fleisch, Blut und Knochen und vielleicht noch aus irgendetwas Anderem, einer Art Ego oder etwas Ähnlichem, wovon man aber nichts Genaues weiss. Ein Fehltritt - und schon ist ein Knochen gebrochen, und das ganze Leben - nicht länger als ein Fingerschnippen im Ablauf der Zeit - kann von einem Moment auf den andern zu Ende sein, und das Ego, ob stark oder schwach, aufgeblasen oder geschrumpft, ebenfalls. Und dann kommt der Sensenmann und fordert frech: "Sorry, mong, es ist Zeit, komm mit...!!!" (Ob ich dann allerdings einfach so und ohne Diskussion und sofort und auf der Stelle mit ihm gehe, ist eine andere Frage - aber irgendwann dann eben schon :-)).
Und dann....whamm...das Kontrastprogramm um einen herum: Diese total abgedrehten Steine und Felsbrocken, diese angsteinflössenden Schwergewichte, extrem gleichgültig aber zugleich bedrohlich, auf nichts und niemanden wartend und auf nichts und niemanden angewiesen und auf nichts und niemanden Rücksicht nehmend und in einer Art GeoTrance und GeoKoma in Hitze und in Kälte und in Nacht und Eis und Schnee und Regen und Wind und Sturm und in was auch immer seit Urzeiten und Jahrmillionen vor sich hin dämmernd und vor sich hin brütend, in tiefer, kosmischer GeoMeditation...!!! Und zwischen ihren Trance- und KomaPerioden singen die Steine ihre Lieder. Den Gesang der Steine kann aber niemand hören, weil die Töne zu tief sind für unsere Ohren (das hat etwas zu tun mit den extrem tiefen Tonfrequenzen, aber so genau kann ich das auch nicht erklären, ich bin nicht vom Fach.). Es gibt übrigens noch eine andere These, die besagt, dass die Steine nur singen, wenn es niemand hört - das heisst also im Klartext: Im Prinzip wäre es schon möglich, die Steine singen zu hören, denn unsere Ohren wären dazu sehr wohl imstande, aber weil die Steine eben nur singen, wenn niemand herum ist, um sie singen zu hören, ist es gar nicht möglich, sie singen zu hören...!!! Ich habe diese These bis jetzt nicht weiter verfolgt, werde aber davon berichten, sobald ich mehr darüber herausfinde.
Also, wo war ich stehen geblieben? Ah ja: Die Steine haben sich inzwischen ein Répertoire an Liedern erarbeitet, dessen Umfang jede Vorstellung übertrifft. Damit können sie während Äonen Lieder singen, eins nach dem andern, den Steinen wird es nie langweilig. Ah ja - das ist noch wichtig - ich muss da noch etwas klarstellen: So ein Lied dauert nicht nur 3 oder 5 oder 7 Minuten wie bei uns. So ein Lied kann locker 10'000 oder 20'000 oder 50'000 Jahre dauern (oder vielleicht noch viel länger), und dann kann es vorkommen, dass sie ein Lied gleich noch einmal wiederholen, weil es so schön war.
Und das alles geschieht in der totalen BergEinöde und abseits von allem...!!! Und die Steine lassen sich dabei von nichts und niemandem stören. Und der klapprige Sensenmann, der ja durchaus imstande ist, uns - den zeitlich limitierten BioMenschen - einen gehörigen Schrecken einzujagen, den kennen sie nicht einmal, sie haben null nada zero nichts mit ihm zu tun. Und der Sensenmann geht den Steinen aus dem Weg, wo immer er kann, wahrscheinlich weil er Angst hat, er werde von ihnen einfach überrollt.
Das ist die wunderbare Welt der Steine.
Und wenn es einmal vorkommt, dass eine Kraft von aussen auf die Steine trifft, dann reagieren sie phlegmatisch und brachial, indem sie einfach den Berg hinab
und ins Tal hinunter rollen, polternd und krachend, alles aus dem Weg räumend, was sich ihnen in den Weg stellt und in die Quere kommt. Und dann bleiben sie einfach wieder liegen, einfach dort, wo sie zu rollen aufgehört haben und verfallen wieder in ihr übliches GeoKoma, so etwa in der Art: "Solange es uns - die Steine - gibt, ist das okay, wir haben nichts dagegen; aber wenn es uns einmal nicht mehr gibt - auch gut, kein Problem, wir brauchen sowieso nichts und niemanden, nicht einmal uns selber, und auf dich, du kleiner, unbedeutender mong, auf dich haben wir sowieso nicht gewartet...!!!"
"♫♬...But I would not feel so all alone...♩♫" (Bob Dylan)
Und dann wieder ein Kontrastprogramm: Auf dem Passo di Ghiacciaione angelangt, werde ich von einer Frau und einem Mann charmant und freundlich mit "Bonjour monsieur, tout va bien?" begrüsst, also ob ich als Stammgast in ein vornehmes Restaurant eingetreten wäre. Ils sont charmants les Romands! Ein herzlicher, unerwarteter und ungewöhnlicher Empfang, auf 2709m Höhe, auf dem Übergang, der das Val Piumogna mit dem Val Chironico verbindet - ein Aufsteller nach einem Kampfaufstieg in der Mittagshitze über eine wilde, mit Steinen und bizarren Felsbrocken übersäten Urlandschaft. Die Beiden sind vom Rifugio Sponda (Val Chironico) her aufgestiegen und machen sich parat, um zur Capanna Campo Tencia hinab zu steigen. Aber vorher geniessen wir es noch ein wenig: Der Himmel ist über uns, die Täler unter uns, und das Panorama ist auch nicht von gestern.
Der Abstieg ins Val Chironico ist markiert und führt über Motta delle Fontane, dann dem Lauf des Ri di Vedlè entlang zum Rifugio Sponda, dann an der Alpe Sponda und an Cala vorbei. Unterwegs ins Tal hinab hatte ich auf einmal das komische Gefühl, beobachtet zu werden. Ich schaute mich um und - tatsächlich - ich sehe hoch oben auf der Krete, auf der anderen Talseite, zwischen dem Pizzo della Bedéia und dem Pizzo di Piancói, den Uomo di Campionigo, den "Wächter des Val Chironico", wie er auch genannt wird. Der Uomo di Campionigo ist ein schlanker, turmförmiger Monolith, dessen Form an einen versteinerten Bergriesen erinnert. Er kontrolliert und beobachtet alles, was sich im Tal unter ihm bewegt. Er kennt mich, ich bin ja nicht zum ersten Mal im Val Chironico unterwegs, und er weiss, dass ich harmlos bin (nicht immer, aber meistens), und so lässt er mich ohne Probleme weiter absteigen.
Die Wanderer von heute meinen, der Uomo di Campionigo sei ein gewöhnlicher Monolith, und das ist ja verständlich, man kann es ja auch überall nachlesen. Aber ich weiss es besser: Vor langer langer Zeit stand ein Bergriese auf dem Grat und konnte sich nicht entscheiden, soll er ins Val Vegornéss oder ins Val Chironico absteigen. Und weil er sich eben nicht entscheiden konnte, blieb er einfach stehen und fing an, sich zu versteinern, am Anfang nur die Füsse aber dann immer weiter nach oben, aber er konnte sich immer noch nicht entscheiden, bis auch sein BergriesenKopf nur noch ein Stein war, und am Ende wurde aus dem Bergriesen der Monolith, der heute weitherum sichtbar ist und die Wanderer erfreut. So muss es sich abgespielt haben, vor langer, langer, langer Zeit, da bin ich ganz sicher. Und ausserdem: Der Uomo di Campionigo heisst ja nicht umsonst Uomo, also "Mensch, Mann". Er muss also irgenwann einmal ein lebendiges Wesen gewesen sein. Und jetzt wacht er über das Val Chironico und seine Bewohner, pflichtbewusst, wachsam und unbestechlich. Und er ist zufrieden und es geht ihm gut, denn er hat seinen Platz gefunden und muss sich nicht mehr ständig und tagein und tagaus für irgendetwas entscheiden, denn 'sich ständig für irgendetwas entscheiden zu müssen', das hat unserem Bergriesen sowieso noch nie gefallen und hat ihn schon immer genervt.
Kurz vor 19:00 Uhr sitze ich beim Brunnen am Dorfausgang von Chironico, habe Durst und trinke. Mein rechtes Knie schmerzt wieder ein wenig und fordert von mir, ich solle in Zukunft schonender und rücksichtsvoller mit ihm umgehen. Ich verspreche es ihm hoch und heilig (zum x-ten Mal).
Es war ein schöner Tag mit vielen Erlebnissen, inneren und äusseren, und ich bin um eine schöne Erfahrung reicher. Das Postauto bringt mich in einer halben Stunde nach Lavorgo. Das Auto, das ich am Morgen in Polpiano stehen liess, hole ich dann morgen.
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Anmerkung: Ja ich weiss schon, einige Fotos sind fast gleich oder sogar gleicher als die Anderen. Aber ich lasse sie jetzt drin. Im neuen Jahr wird dann alles besser.
Bei dieser Gelegenheit wünsche ich allen Lesern viel Glück im neuen Jahr.
Tourengänger:
mong

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