Die Enttäuschung auf Punkt 2584


Publiziert von rojosuiza , 5. Oktober 2023 um 15:14.

Region: Welt » Schweiz » Wallis » Oberwallis
Tour Datum:21 September 2023
Wandern Schwierigkeit: T2 - Bergwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-VS 


Die Enttäuschung ist furchtbar, wenn man oben auf dem Berg ankommt: der ganze Einsatz für die Katz! – Man denkt, einen Berg zu besteigen, und nach allen Mühen, nach 1300 Höhenmetern, stellt sich heraus: der Steinklotz ist gar kein Berg! – Ja, da kann einer schon das Weinen lernen, wenn der Punkt 2584 endlich erreicht wird. Unweit davon steht ein richtiger Berg, mit einem klingenden, richtigen Namen. Nicht einmal 200hm trennen mich von ihm, dem sauberen und ehrlichen Bergziel! – da muss ich abbrechen, wegen Wetterentwicklung und wegen der Zeit. – Wer kommt denn nun, und legt tröstend seinen Arm um den scheusslich heulenden Berghelden?
 
Wie kommt es dazu? – Das Wetter ist schuld! Die Schulklasse ist schuld! Der Kanton Bern ist schuld! – Was geschieht nämlich am Morgen, wenn rojosuiza die Nase aus der Tür steckt, um das Wetter zu erschnüffeln? – Regen tröpfelt auf das Riechorgan. – Das verschiebt die Abfahrt schon einmal. Wer hat schon Lust zum Bahnhof aufzubrechen zu einer Bergtour, wenn es jetzt schon nässt? – Schliesslich sitzt er doch im Zug, er will nach Bern. Es tritt auf: die Schulklasse. Sie ist auf Schulreise. Sie lacht, sie schreit, sie springt und tollt. rojosuiza sieht es zwar mit Vergnügen, entscheidet aber, heute doch nicht ein Gebiet in Bern aufzusuchen, wo es wahrscheinlich den halben Tag ähnlich aussehen würde. Also steigt er in Goppenstein VS aus. Hinter ihm her kommt zu seinem Schreck eine andere Schulklasse, doch sie geht bald schreiend ab, wohl ins Lötschental  - womit rojosuiza für den Rest des Tages sozusagen allein ist.
 
Der Aufstieg ob Goppenstein ist steil. Gleich am Anfang will der Abenteurer es noch etwas steiler, doch schon holt ihn der Rote Punkt streng auf die Karte zurück. Ohne ihn hätte das Gesuche weit länger gedauert, denn rasch begreift rojosuiza, wie er den roten Punkt schon weit über der avisierten Route bemerkt. – Hat er sich doch gedacht, dass die Weganleger den Pfad nicht so wuchtig nach oben befördert hätten…
 
Für den Nachmittag sind schwere Niederschläge geweissagt. Im Lötschental drüben zieht vom Süden her schon alles zu. rojosuiza aber steigt hinan im Sonnenlicht, und die Lage ist windgeschützt. Was sich anbahnt, weiss die Wetterkarte, der Wanderer weiss es nicht. Er kommt an auf der Faldumalp, wo er sich eine Cappuccinoquelle herbeizaubert. Nein, nein, er weiss schon, dass dort oben lauter Ferienhäuslein stehen heutzutage, dass ein Gasthof auf dieser Alp nie zu finden war… aber vorstellen, ganz, ganz lebhaft vorstellen kann man es sich doch. Man stattet der hübschen Kapelle einen Besuch ab – statt Cappuccino sozusagen. Dann steigt man weiter hinan auf seinen Berg.
 
Oberhalb der Faldumalp wird es immer lieblicher und auch leicht herbstlich. Hier nun, deutlich über 2000 Metern, findet rojosuiza in diesem Herbst endlich doch noch Heidelbeeren, mit denen er sich die Zunge blau machen kann. Dazu wünscht er sich, wie er die ausgeblühten Alpenrosen sieht, auch noch eine Alpenrose ganz weit oben, die nur für ihn gerade noch eine einsame Blüte trägt. Dieser Wunsch bleibt aber unerfüllt.
 
Wie der Wandermeister sich hinaufkämpft auf seinen Berg, kommen ihm immer wieder Steinböcke in den Sinn. Nein, er sieht keine! – aber wie leichtfüssig sie hier herumkletterten, wo rojosuiza sich mühselig hinaufschleppt, das sieht er vor sich, als ob die Steinböcke ganz leibhaftig da wären. Es müht sich der Tropf, ganz ungleich dem Steinbock müht sich der Tropf. Er kommt durch Verbauungen gegen den Lawinenanriss aller Art. Das gibt es Mauern, die der Menschen Fleiss in früheren Zeiten hier hoch aufgetürmt hat. Gegen das Tal hin sind sie höher als dem Berg zu, so dass sich Kuhlen und Senken formen, worin der Schnee dann liegen bleiben kann. Es gibt mächtige Metallkonstruktion, die das gleiche bezwecken, aus neuerer Zeit. Wie man sich so empor schleicht, kommt man der Marke von 2500m immer näher – die bei rojosuiza viel beliebte Säntis-Höhe. Welche Freude erwartet den, der sie endlich erreicht!
 
Freude? – Entsetzen, meinte ich. Denn die Bergspitze empfängt mich mit eisigem Wind. Die Wetterfront, also kommt sie jetzt! – Man steht fröstelnd auf der Säntis-Höhe, aber das ersehnte Zwischenziel erfreut nicht. Hier kann man nicht bleiben. Gleich dort, ein weniger weiter unten, da ist es windgeschützt, da ist es Zeit für ein kleines Siegesmahl. Neugierig schaut der Weltentdecker seinen kleinen elektronischen Begleiter an: Wie heisst er denn, der mächtige Gipfel, auf dem er jetzt sitzt? – Es trifft ihn fast der Schlag: der Gipfel hat keinerlei Namen. rojosuiza ist sprachlos. Seit Stunden steigt er jetzt hinauf, ganz von Goppenstein ist er gekommen, den stolzen Gipfel hat er erreicht, und wie heisst der? – Punkt 2584 heisst er lapidar, dazu hat er es gerade noch gereicht. Punkt 2584! der stolze Berg ist ein Namenloser!
 
Wie enttäuschend ist das. Zugegeben, eigentlich war auch das Einigs Alichji als Ziel avisiert – ein geheimnisvoller Name, nicht wahr? – knapp 200 Höhenmeter weiter oben, 1500 Meter weiter vorn, und dann vielleicht noch etwas wild weiter über den Grat – mal sehen, wie es aussieht dort! – doch es ist zu spät. Die morgendliche Trödelei passt nicht zu hoffärtigem Plan, die vorrätige Zeit passt nicht zum Plan, der Wind und das erwartete Wetter… sie alle, sie passen nicht. Was geschieht denn jetzt?
 
Der Planungsschmied wirft alle Planung über den Haufen. Aus der Schublade kommt eine alte Wanderung. – Nun, die kann man auch umgekehrt machen. Und dort, wo sie einmal angefangen hat, kann man als Zugabe gleich noch die Wanderung anhängen, die man vor ein paar Tagen dem Lebenspartner aufgedrängt hat.
 
So rennt das Wanderkind alsbald entspannt den Berg hinab, über die ‚Oberi Meiggu‘ und die ‚Underi Meiggu‘ und danach durch den hohen Tann. Der Weg nach Mittal zieht sich hin, das zickt und zackt im Tann und nur ganz langsam geht es dem Tal zu, langsam verliert sich die Höhe. Ist man im Tal kommt das Dessert; der Marsch nach Gampel-Steg. In Steg im Strassencafé wird dann geliefert, was den Berghelden den ganzen Tag als trockene Vision umkreist hat: der Latte Macchiato, das köstliche Getränk.
 
Und das Wetter? – Es hält sich vorzüglich. Ja, um rojosuiza ist immer Schönwetter, was auch der Wetterfrosch sagt. Überall dräut es – doch bis zum Schluss wandelt der Bezwinger von Punkt 2584 im hellen Sonnenlicht!
 
Nach dem langen Abstieg rauchen die Zehen. Deshalb dürfen die Füsse jetzt, noch im Kaffeehaus, aus den Bergschuhen. Ab hier ist sozusagen städtisches Gebiet. Barfussgehen entspannt den Zeh. Die weitere Strecke ab hier geht barfuss. Die ein, zwei Kilometerchen quer übers Tal des Rottens zum Bahnhof Gampel-Steg, barfuss; durch das Zentrum von Brig nach Glis, barfuss. In Glis schliesslich, kurz vor dem Feriendomizil, verläuft ein Suone. Wenn sie Wasser führt, kühlt sie Zehen ganz und gar vorzüglich. Was für ein Glück ist das, ein eiskaltes Fussbad. Doch, oh je, es herrscht Trockenheit in der tiefen Rille. Wenn man dürstet und Wasser am nötigsten bräuchte, gerade dann fehlt es. Jammerschade ist‘s.
 
Denn was machen die paar Sekunden im eiskalten Wasser? – So sehr erschrecken sie die Zehen, dass sie statt heissgelaufen auf einen Schlag wieder sind wie neu! 

Tourengänger: rojosuiza


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Kommentare (2)


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Nyn hat gesagt: Poesie
Gesendet am 5. Oktober 2023 um 17:56
Es gibt nur ganz wenige hikr, die ihre Gedankengänge, Vorstellungen, Wünsche, Tagträume und Empfindungen aller Art so plastisch und wortgewandt auszudrücken vermögen.
DANKE!

VG, Nyn

rojosuiza hat gesagt: RE:Poesie
Gesendet am 5. Oktober 2023 um 18:58
Danke Nyn. Die anderen denken auch, aber leiser...


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