Auf der Sonnenseite des Pays-d'Enhaut

Nach zwei Halbmarathons in den ersten beiden Januarwochen, einer Trockenübung zum Roten Totz und einer Überschreitung des Hundsrüggs in Nass-in-Nass-Technik, plante ich angesichts anhaltend erheblicher Lawinengefahr oberhalb 2000m, zwar trockenem aber bewölktem Wetter und starkem SW nach der Devise "werde bei erheblich nicht überheblich" ein weiteres Mal defensiv. Die Wahl fiel schliesslich auf eine Rundtour SE der Gastlosenkette, wo ich noch nie mit Ski unterwegs gewesen war. Wie angekündigt, erwachte der letzte Samstag grau in grau, der übliche Feiertagsrummel im Saanenland lag in seinen letzten Zügen, und wohl auch wegen der Lauberhornabfahrt hatten sich nur wenige Unentwegte in die BLS und MOB verirrt. Und bei der vorletzten Station Saanen, wohin ich abends zurückzukehren gedachte, schaute ich skeptisch aus dem Fenster, so als ob ich an der Ausführung meines Vorhabens mehr als nur zweifeln würde...

So marschierte ich in Rougemont etwas trübsinnig los und war umso erfreuter, dass ich nach zehn Minuten  beim Dorfausgang schon die Ski anschnallen konnte, obwohl überall noch Gras hervorschaute. Oberhalb von Les Monts strich ein Fuchs über die Weide, und nach einer kurzen holperigen Waldpassage öffnete sich bei La Chia bereits die weite Landschaft des Pays-d'Enhaut, der Préalpes und des westlichen Oberlands. Von Les Rodomonts wurde dann vor der Felskulisse der Gastlosen wie eine zunächst noch ungreifbare Fata Morgana auch schon der weitere Routenverlauf sichtbar. Bis Rodomont Derrière ging es vorerst in bequemem Pulver gemütlich weiter, bevor mich die steile und verbuschte N-Flanke hinunter zum Col de la Forcla erstmals aus der Reserve lockte. Nach einer kurzen Pause kämpfte ich mich bei starkem SW-Wind über den abgeblasenen S-Grat zur Haute Combe hinauf, wo ich mich unverzüglich an die Abfahrt über den ebenfalls ausgeblasenen NW-Grat zur rettenden Selle Aubert machte. Tatsächlich hörte der an Kleidern und Nerven zerrende Wind unter der dortigen Wächte schlagartig auf, und ich durfte die erste Halbzeit mit einer genussreichen Pulverabfahrt durch das Vallon des Merzeires in für meine klammen Finger balsamischem Windschatten beenden.

Beim Wiederaufstieg zum Plan de Savigny begegnete ich zwei Gemsen, und oben bei der Porte äste ein ganzes Rudel. Darüber jagten ein Adler und Kolkraben verspielt in der böigen Luft, von der sie sich mühelos in die Höhe tragen liessen. Statt vom Gipfel über den windausgesetzten WNW-Rücken zurück zur Hütte, fuhr ich direkt über die wiederum steile und verbuschte N-Flanke ab, wonach ich bis Le Ruth in immer noch drehfreudigem Pulver gemächlich hinunter gleiten konnte. Mit etwas Ausdauer gelangte ich zur Hütte 1945, und auf dem NNW-Grat zum Amelier wurde auch klar, warum dort die Route gepunktet eingezeichnet ist...auf dem Gipfel machte ich deshalb Flucht nach vorn über den SSE-Grat, der gar keine Skiroute aufweist und sich als noch schwieriger erwies. Obwohl die ENE-Flanke zuoberst sehr steil ist, war ich froh, an geeigneter Stelle in sie eintauchen und dadurch dem unvermindert starken und böigen Wind ein Schnippchen schlagen zu können. Den fröhlichen Gipfelreigen komplettierte ich mit der wiederum abgeblasenen, dafür rundum gutmütigen Husegg als (Sk-)i-Pünktchen. Nach einer weiteren Pause im Windschatten der Alphütte auf Grubenberg kurvte ich in inzwischen angezogenem Pulver hinunter zur Grischbachstrasse, auf der ich es im wohlwollenden Wettstreit mit dem daneben stetig rauschenden Wasser bis zur Säge befreit ziehen lassen konnte. Die letzten zwei Kilometer  über Underbort nach Saanen legte ich mangels Schnee beschwingt zu Fuss zurück, und beim Bahnhof war ich erleichtert, dass sich die morgigen Zweifel tagsüber Schritt für Schritt in Luft aufgelöst hatten....

Rougemont-Grubenberghütte-Saanen
Vom Bahnhof Rougemont (992m) auf der eingezeichneten Skiroute (blau) über den SW-Rücken auf Les Rodomonts (1778m) und über den Sattel 1735, P. 1782, den Sattel 1739 und P. 1848 auf Rodomont Derrière P. 1857, L+. Abfahrt direkt über die N-Flanke (bis 40 Grad, Stauden) und blau zum Col de la Forcla (1660m), ZS. Blau über die SSE-Flanke und den S-Grat (bis 30 Grad) auf die Haute Combe (2039m), WS-. Abfahrt blau über den NW-Grat (bis 30 Grad) zur Selle Aubert (1910m) und durch das Vallon des Merzeires bis zum Felsblock ca. 1690m (obere Drahtseilverankerung für Materialbahn), WS. Blau nach Le Savigny (1835m) und über den WNW-Rücken auf den Plan de Savigny (1892m). L+. Abfahrt direkt über die N-Flanke (bis 35 Grad, Stauden) und blau nach Le Ruth (1650m), WS+. Blau (bis 30 Grad) zur Hütte 1945 und über den NNW-Grat (eine ausgesetzte Stelle I) auf den Amelier (2002m), WS. Abfahrt über den SSE-Grat (eine ausgesetzte Stelle I) bis zur flachen Kuppe ca. 1980m, dann über die ENE-Flanke (oben 40 Grad) hinunter zu P.1847, ZS. Nach NE zum Sattel 1941 und über den NW-Rücken auf die Husegg (1998m), L. Abfahrt blau zur Grubenberghütte SAC (1839m), L , und durch das Grischbachtal (Vallée des Fenils) und über Underbort (1150m) zum Bahnhof Saanen (1011m), WS-. Insgesamt 8-10h.

Verhältnisse: bei kammnah starkem SW-Wind bewölkt mit Aufhellungen und mild. 5-10cm z.T. verblasener Pulver grösstenteils auf harter Unterlage, sonnseitig z.T. Suncrust. Grate verwächtet, Vorsicht! Spuren bis Les Rodomonts und z.T. ab Husegg. Grischbachstrasse bis Säge fahrbar (gefrorene Reifenspuren in ca. 10cm Schnee). Portage bis Dorfausgang von Rougemont, bei 2 ausgesetzten Stellen am Amelier und ab Grischbachsäge.

Material: übliche Skitourenausrüstung, für den Amelier ev. zusätzlich Leichtpickel.

Fahrplan: 9 Uhr Rougemont, 10.30 Les Rodomonts, 11.30 Rodomont Derrière P. 1857, 11.45 Col de la Forcla, 12.30 Haute Combe, 13.15 Plan de Savigny, 14.30 Amelier, 15.15 Husegg, 15.30 Grubenberghütte SAC, 17 Uhr Saanen.

Für meine Tante aus dem Val d'Illiez, die in jungen Jahren eine begeisterte Bergsteigerin gewesen ist. So hat sie mit Serge Herzen das Dent de Jaman Westcouloir erstbegangen und mit einem Führer aus Macucnaga die Monte Rosa Ostwand durchstiegen, und ist mit Lionel Terray über den Südgrat der Aiguille Noire de Peuterey geklettert. Nun ist sie in der Nacht vom 11. Januar 2023 97-jährig gestorben. Möge sie in Frieden ruhen.

"Man sieht die Sonne langsam untergehen und erschrickt doch,

wenn es plötzlich dunkel ist." (Franz Kafka)