Frohe Ostern im Val Russein


Publiziert von lorenzo , 19. April 2022 um 07:20.

Region: Welt » Schweiz » Graubünden » Surselva
Tour Datum:17 April 2022
Hochtouren Schwierigkeit: ZS
Ski Schwierigkeit: S-
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-GL   CH-GR   Tödigruppe 
Zeitbedarf: 11:45
Aufstieg: 2640 m
Abstieg: 2640 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Disentis/Muster, Punt Russein oder Parkplatz Punt Gronda
Zufahrt zum Ankunftspunkt:dito
Unterkunftmöglichkeiten:Hotel Greina, Rabius
Kartennummer:LK 1213 Trun, 1193 Tödi, Skirouten Swisstopo; E. Zopfi, Tödi - Sehnsucht und Traum, AS Verlag, 2000

Durch Emil Zopfi war ich erstmals auf die Tödi SW-Wand aufmerksam geworden. Er beschreibt in seinem Buch über den Tödi die legendäre Geschichte des damals 23-jährigen Fritz Zimmermann aus Schwändi am Glärnisch, der im Sommer 1996 beim Bau eines Stalls vom Dach unglücklich stürzte und dabei eine Niere verlor. Nachdem er bereits im Herbst wieder mit Klettern begonnen hatte, startete er an Weihnachten um sechs Uhr im Tierfehd, erreichte um 13 Uhr den Gipfel, fuhr bei 100km/h Sturm und -25 Grad über die SW-Wand ab, und war schon um 15 Uhr zurück im Tierfehd. Später las ich ich aufmerksam die interessanten und anschaulichen Berichte auf Hikr u.a. von AlpinistClaridenDolmar und adrian3614, die mir wertvolle Informationen lieferten. Derart motiviert, blieb mir schliesslich nicht viel anderes übrig, als bei Gelegenheit selbst einmal einen Versuch zu wagen.

Zuerst musste ich aber die Logistik klären. Ende Mai 2021 hatte ich zunächst die gloriose Idee, mit der letzten öV-Verbindung um 20.30 Richtung Disentis zu fahren, und den Postautochauffeur zu bitten, mich 
gegen 00.15 bei der Haltestelle Punt Russein abzusetzen. Die bereits hohen Temperaturen, die Vorstellung, rund vier Stunden mit Skiausrüstung im öV zu verbringen und mich dabei wohl nicht genügend zu erholen, und v.a. die Einsicht, dass ich dann für eine allfällige Skiabfahrt zu früh wäre, bewirkten, dass ich den Rucksack wieder auspackte. So blieben nur noch die beiden Varianten von Clariden, der im Hotel, und von Dolmar, der im Auto übernachtete, von denen ich schliesslich letzterer den Vorzug gab.

Nachdem bis zum vorigen Wochenende nochmals rund ein halber Meter Neuschnee gefallen war, der sich in der folgenden Woche an warmen Tagen hatte verfestigen können, schien für Ostern alles zu passen. Ich fuhr am Ostersamstag frühnachmittags los, ass in der Ustria Cruna eine Bündner Gerstensuppe und legte mich dann auf dem Parkplatz in Punt Gronda unter dem klaren Sternenhimmel zwischen zwei Baucontainern auf einer Luftmatratze beim beruhigenden Rauschen von Vorderrhein und Aua da Russein und dem abendlichen Frühlingsgesang der Vögel, dabei von den sporadisch vorbeirauschenden Autos kaum gestört, zum Schlafen. Kurz bevor ich um 2.30 loslaufen wollte, parkierten drei Sursilvaner u.a. aus Segnas, die über die Normalroute auf den Tödi steigen wollten. Nach einem kurzen Austausch verabschiedeten wir uns, und ich lief los. Da, wie ich am Vortag gesehen hatte, weit und breit kein Schnee lag -  die Aprilsonne hatte bis in mittlere Lagen wohl eher verflüssigt und verflüchtigt als verfestigt -, rechnete ich damit, die Ski bis mindestens 1500m tragen zu müssen. Dafür war es bei leichter Bise angenehm kühl, und der noch fast volle Mond schien so hell, dass ich die Stirnlampe nur im Wald brauchte.

Kurz vor der Alp Russein da Mustér konnte ich dann endlich die Ski anschnallen, aber noch immer lag keine durchgehende Schneedecke. Beim Aufstieg durch das Val Gronda da Russein dämmerte es langsam, und so konnte ich, von oben nach unten immer mehr von der SW-Wand, und darin viel Fels erkennen. Sie schien nicht optimal eingeschneit zu sein, und einen Moment dachte ich daran, nach Russein Sura zurückzukehren und auch über die Normalroute aufzusteigen. Nach der ganzen Vorbereitung und dem langen Zustieg bewog mich meine Neugier dann aber schliesslich doch, weiter zu steigen, und mir die Verhältnisse vor Ort zu betrachten. Tatsächlich: je mehr ich der Wand näher kam, desto besser sah sie aus, zumindest für einen Aufstieg, und als ich nach viereinhalb Stunden endlich beim Einstiegscouloir anlangte, konnte mich nichts mehr davon abbringen, Helm und Steigeisen anzuziehen und die beiden Eisgeräte loszuschnallen. Vorsichtshalber packte ich aber Felle und Harscheisen (letztere hatte ich nicht gebraucht hatte) in den Rucksack, statt sie unter Felsen zu deponieren, um mir die Option für eine Abfahrt über die Normalroute offen zu lassen.

Auf dem festen und körnigen, von Runsen durchzogenen Firn kam ich gut vorwärts, und schon ab der Ausstiegsrinne konnte ich alten Spuren folgen, die mir auch den Weg über das teilweise apere Band und durch die anschliessende Rinne zum darüber liegenden grossen Firnfeld wiesen, das zwar felsdurchsetzt und z.T. vereist war, aber bei minimaler Einsinktiefe und dank weiterhin alten Spuren einen zügigen Aufstieg erlaubte. So macht eine Wandbegehung Freude! Der Durchschlupf war z.T. auch vereist und wies eine zu überkletternde kurze Felsstufe auf. Mehrheitlich durch Bruchharsch stieg ich dann nach rechts zum S-Grat aus, wo mich mit der wärmenden Sonne auch heftige Bisenstösse empfingen (zum Glück nicht 100km/h mit -25 Grad...). Nach einem kurzen Harsch- und Pulverstapf begrüssten mich am Gipfel meine drei Bekannten. Sie erklärten mir, dass die Porta da Gliems und der Bifertenfirn gute Verhältnisse aufweisen würden, und machten sich, um der unwirtlichen Bise möglichst rasch zu entkommen, schon wieder an die Abfahrt, während sich mehrere Gruppen auf dem Bifertenfirn noch im Aufstieg befanden.

Ich wartete noch eine halbe Stunde, um die SW-Flanke, die von NW her langsam von der Sonne erobert wurde, "reifen" zu lassen. Dann fuhr ich dem S-Grat entlang zur Stelle wo ich ausgestiegen war. Bereits hier war es ausgesetzt, und der Harschdeckel noch hart, nicht auszumalen, was ein Kantenfehler in solchem Schnee für fatale Folgen habe könnte. Zudem hätte ich im Durchschlupf, über eine vereiste Stelle im grossen Firnfeld, und in den beiden Rinnen über und unter dem Quergang und in diesem selbst mit Pickel und Steigeisen absteigen müssen, und die Abfahrt durch das zerfurchte Einstiegscouloir wäre auch kein Genuss gewesen. Da dies alles nur mit viel Murx und Risiko zu haben gewesen wäre, siegte schliesslich, wenn auch etwas schweren Herzens, die Vernunft. Fazit: optimale Aufstiegs-, ungünstige Abfahrtsverhältnisse (nach der Tour fand ich in Zopfis Buch auf S. 138 ein Foto von Felix Ortlieb von einer Winterbesteigung der SW-Wand bei für eine Abfahrt vermutlich idealen Verhältnissen, indem es zwei Protagonisten zeigt, die in pulvrigem Trittschnee mit Pickel und Skistock durch die homogen verschneite Wand aufsteigen).

So drehte ich meine Skispitzen um 180 Grad und fuhr in der gerade angesulzten ESE-Flanke entlang dem S-Grat und unter der Russeinpforte hindurch zum tiefsten Punkt E vom Piz Dado, und stieg zu Fuss auf einer guten Spur zur Porta da Gliems hinüber. Nach einem kurzen Abstieg mit Pickel und Steigeisen traf ich wieder meine drei Bekannten, die an der Sonne und geschützt vor der Bise Rast hielten. Sie rieten mir, nicht durch das Val Gliems abzufahren, weil in dessen unterem Teil wohl zu wenig Schnee liege, sondern zur Porta 2994 gegenüber zu queren, und dort abzufahren, d.h. so wie sie aufgestiegen waren. Die von ihnen angegeben ca. 100Hm Abstieg auf der W-Seite über Geröll waren rasch bewältigt, dann wartete eine fast 1000Hm lange Abfahrt auf feinstem Sulz bis hinunter nach Russein Sura. In zunehmend faulem Schnee und zwischen Grasflecken hindurch, jedoch auf guten Spuren gelangten wir zurück zur Schneegrenze. Beim Umrüsten auf den Wandermodus erzählte einer der drei, dass ein Kollege von ihm vor erst drei Wochen mit Ski noch bis Punt Gronda habe abfahren können, und es 
ungewöhnlich sei, zu dieser Jahreszeit die Ski von so weit oben hinunter tragen zu müssen. Die beklagte Ausnahmesituation bescherte uns indessen zum Ausklang eine prächtige Frühlingswanderung durch eines der schönsten Seitentäler der Surselva, bevor wir uns in Punt Gronda verabschiedeten, und sie mir eine gute und von Osterstaus möglichst freie Heimfahrt wünschten.

Piz Russein

Aufstieg SW-Wand: von Punt Gronda (1031m) weiss-roten Markierungen folgend oder auf der Skiroute bis zur Brücke der Alp Russein da Mustér (ca. 1760m). Weiter auf der Skiroute nach Russein Sura (1957m) und durch das Val Gronda da Russein bis ca. 2190m (Aufzweigung der Aufstiegs- und Abfahrtsroute zum und vom Sandpass). Nach NE in das Tal von Gondas und durch dieses (bis 35 Grad) zum Beginn des Einstiegscouloirs in die SW-Wand auf ca. 2700m, 4h 30min, WS (Skitourenskala). Durch dieses, seinen rechten Ast und die folgende Ausstiegsrinne (bis 45 Grad) auf ein Band bei ca. 3020m (ev. aper oder vereist), das leicht ansteigend nach E führt. An seinem Ende durch eine Rinne links haltend hinauf zum zentralen grossen Firnfeld. Über dieses, Felsinseln ausweichend (45-50 Grad) zu den Türmen beiis ca. 3500m und zwischen dem 2. und 3. (von links) hindurch (ev. aper und vereist). Weiter nach E abdrehend (45 Grad) zum S-Grat und über diesen auf Schnee bzw. Firn zum Gipfel (3612m), 3h, ZS (Hochtourenskala). Insgesamt 7h 30min.

Abfahrt ESE-Flanke- Porta da Gliems-Cordas: vom Gipfel (3612m, Kuppe ev. abgeblasen) auf der Skiroute nach S über den oberen Bifertenfirn oder entlang und unter dem S-Grat in der ESE-Flanke (bis 35 Grad, Vorsicht wegen Spalten) bis unter den E-Sporn des Piz Dado (3432m) bei ca. 3200m. Kurzer Wiederaufstieg mit Fellen oder zu Fuss nach S (Vorsicht wegen Spalten) zur Porta da Gliems (3254m), 30min, WS. Abstieg nach SW über einen steilen Firnhang  (Ketten E entlang dem Fels) und zuletzt einen Bergschrund. Abfahrt auf der Skiroute nach SW über den Glatscher da Gliems (Vorsicht wegen Spalten) unter die Porta 2994. Zu Fuss ca. 5m hoch und auf der W-Seite ggf. bis zu 50-100Hm auf einem Geröllpfad hinunter. Wieder mit Ski über die W-Flanke (bis 35 Grad) nach SW bis Cordas, dann nach W zurück nach Russein Sura (1957m), und entlang der Aufstiegsroute zurück, 2-3h, ZS. Insgesamt 2h 30min-3h 30min.

Verhältnisse: bei kammnah starker und böiger Bise sonnig und kühl. Ab ca. 1750m 20cm-1m Schnee, morgens und am Schatten gefroren und hart, z.T. noch Pulver oder Harsch, gegen Mittag an der Sonne Sulz und zuletzt faul. Mehrere ältere Nassschneelawinenkegel. In der SW-Wand rechtes Couloir und Ausstiegsrinne hart und griffig, und von Runsen durchzogen, Quergang z.T. aper, zentrales Firnfeld hart und griffig, felsdurchsetzt und z.T. vereist, Durchschlupf z.T. vereist und apere Felsstufe, Ausstieg Bruchharsch, S-Grat Pulver. ESE-Flanke angesulzt, Aufstieg zur Porta da Gliems Harsch und Pulver, Abstieg hart. Abfahrt zur Porta 2994 und über Cordas schöner Sulz, ab Russein Sura zunehmend faul. Alte Aufstiegsspur in der SW-Wand, Abfahrtsspuren über Porta da Gliems und Porta 2994. Portage bis zur Mustérbrücke (2h) und von dort zurück (1h 15min), in der SW-Wand, über die Porta da Gliems und auf der W-Seite der Porta 2994.

Material: zusätzliches leichtes Eisgerät zu üblicher Skihochtourenausrüstung. Aus Gewichtsgründen hatte ich kein Sicherungsmaterial mitgenommen.

Fahrplan: 2.30 Start, 7 Uhr Einstieg SW-Wand, 10 Uhr Piz Russein, 11.15 Porta da Gliems, 14.15 retour.

Tourengänger: lorenzo


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Kommentare (7)


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Primi59 hat gesagt:
Gesendet am 19. April 2022 um 10:32
Hey Lorenzo, schöner und ausführlicher Bericht.... und toll ein neuer Hikr im Bunde, super !!
Gratuliere dir zu deiner Tödi-Tour !!

Gruss
Priska

Primi59 hat gesagt:
Gesendet am 19. April 2022 um 10:40
Ohhh, sorry, soo neu bist ja gar nicht, hab eben zu wenig genau
geschaut ;-))))

lorenzo hat gesagt: RE:
Gesendet am 19. April 2022 um 15:53
Hallo Priska

Danke für die Blumen!

Aus alt mach neu...schön wär's, aber da gibt es wohl nicht viel zu drehen...

Beste Grüsse

lorenzo


Bergamotte hat gesagt:
Gesendet am 19. April 2022 um 12:55
Danke für den schönen Bericht. Lieber genussvoll abfahren, als erzwungen abstürzen... Und Rundtouren haben ohnehin einen unvergleichlichen Reiz.
Du erinnerst mich sogleich an meine Sommerpendenz Tödi SW.

lorenzo hat gesagt: RE:
Gesendet am 19. April 2022 um 16:12
Hallo Gabri

Dir auch vielen Dank! Ich stimme beidem zu, Rundtouren und Überschreitungen ziehe ich Auf- und Abstiegen über die gleiche Route sogar vor, auch wenn es für eine Skibefahrung oft sicherer ist, vorher über die Flanke oder Wand aufzusteigen.

Hoffentlich findest Du für Deine Pendenz diesen Sommer passende Verhältnisse.

Beste Grüsse

lorenzo


3614adrian hat gesagt: Schön!
Gesendet am 20. April 2022 um 08:26
Konnte deinen tollen Bericht kaum richtig konzentriert lesen, da ich so gespannt war, ob du tatsächlich da runter gefahren bist. Irgendwie hat ja alles darauf hingewiesen, dass es nichts wird und dennoch hast du die Option in deinen Zeilen und offenbar auch in deinem Kopf offen gelassen!
Denke aber auch, dass es die richtige Entscheidung war.

Bei uns war es so, dass wir weder im Vorfeld noch auf der Tour gross über eine Abfahrt diskutierten und dennoch wären wir bei unerwartet guten Verhältnissen beide bereit gewesen.
(Diese wortlose Kommunikation in den Bergen mit dem passenden Tourenpartner finde ich schön.)

Gruss
Adrian

lorenzo hat gesagt: RE:Schön!
Gesendet am 20. April 2022 um 21:03
Hallo Adrian

diesen Winter gab es ja allgemein wenig Schnee, in anderen Jahren dürfte die Wahrscheinlichkeit, die von Dir genannten "unerwartet guten Verhältnisse" vorzufinden, deshalb höher sein. Und dann braucht es einfach noch etwas Glück oder Infos aus erster Hand.

Und wie beim ungesicherten Klettern sollte man sich auch bei solchen Abfahrten sicher fühlen, sonst lässt man es sowieso besser bleiben.

Sich ohne viel Worte zu verstehen und am gleichen Strick zu ziehen, ist wirklich etwas vom Schönsten, was es gibt, aber keineswegs selbstverständlich, und wohl auch nicht ohne eine glückliche Fügung zu finden.

Herzliche Grüsse

lorenzo


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