Die Welt, das Internet und der allerkleinste Waxenstein


Publiziert von ZvB , 2. Mai 2021 um 12:05.

Region: Welt » Deutschland » Alpen » Bayrische Voralpen
Tour Datum: 1 Mai 2021
Wandern Schwierigkeit: T2 - Bergwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: D 
Zeitbedarf: 4:30
Aufstieg: 460 m
Abstieg: 460 m
Strecke:12,2 km

Irgendwann war ich schon einmal auf einem Waxenstein, nämlich dem in der Nähe des Brauneck. Damals schon hatte der Vielhygler darauf hingewiesen, dass ja einen noch viel kleineren Waxenstein gäbe, irgendwo hinter den Bergen bei den... Erst kürzlich hat wasquewhat mich mit einem Bericht wieder daran erinnert, dass da noch eine Lücke in meinem Tourenbuch besteht. Warum also nicht das zweifelhafte Wetter für ein Halbtagesabenteuer nutzen und Neues kennenlernen?

Nach fünf Minuten Autofahrt beschleicht mich das Gefühl, dass ich heute irgendetwas vergessen haben, nur was bloß? Wasserflasche, Fotoapparat, Wechselobjektive, Taschenmesser, das ist ja alles im Rucksack und der liegt hinter meinem Sitz. Die Stöcke liegen auch im Kofferraum. Ich komm nicht drauf.

Weitere zehn Minuten später, beobachte ich einen Mann am Straßenrand, der eine Armee verschieden großer Wanderschuhpaare  in den Kofferraum eines Auto lädt. Ach Scheiße! Damit findet die heutige Wanderung in Sportschuhen statt.
K. kritisiert nun möglicherweise, dass Wandern in Schuhen grundsätzlich kein Abenteuer mehr sei. Früher ist man noch mit Steigeisen auf den bloßen Hornhäuten durch Nordwände gestiegen.

Parkplatz 1 ist erfreulich leer und kostenlos zu haben.
K. denkt, dass solcherlei Notiz, und dazu noch im Internet, die Besucherströme vergrößert.
Ich schreibe mir Informationen über Park- und Anreisemöglichkeiten gerne auf, weniger für andere Leser als für mich selbst. Die Parkplatzsuche nervt mich und ein Parkscheinautomat noch viel mehr. Es gibt kaum etwas Unangenehmeres als 4,75€ abgezählt in 5 Centmünzen für den Parkscheinautomaten zu benötigen und dann nur einen Hunderteuroschein dabei zu haben. Nun ja, keine Wanderschuhe dabei zu haben ist noch unangenehmer.

Also mache ich mich mit leichtem Schuhwerk und guter Dinge auf der zunächst asphaltierten Straße auf zum allerkleinsten Waxenstein. Erste Fotomotive lassen nicht allzulange auf sich warten. Dazwischen überlege ich jedoch, ob ich überhaupt einen hikr-Bericht über diese Tour veröffentlichen soll, schließlich ist das Verfassen von Tourenberichten ja fast schon zum Mainstream geworden.
Manche glauben zu wissen, was mit dem Begriff Mainstream ausgedrückt werden soll. Daher ein Wort der Aufklärung. Mitnichten ist es ein Ausdruck der Beschwerde über eine wachsende Personenzahl. Zum Ende der 80er Jahre (des vergangenen Jahrhunderts) wurde der Begriff Mainstream von einer kleinen Schar vermeintlich zur Bildungsbürgerschicht aufstrebender Jugendlicher immer dann verwendet, wenn man bei der Ausübung einer Tätigkeit nicht mehr der Erste sein konnte. Alle, die nach dem Erfinder bzw. Entdecker kamen, waren also schon mainstream. Ich gebe zu, dass sich dieser Zusammenhang schwierig von Personen außerhalb der Peergroup erschließen lässt. Dennoch ist alles mehr als die Frage nach der Bedeutung ohne Abwarten der Antwort reine Spekulation.

Wo war ich noch gleich stehengeblieben? Ach ja, ich befinde mich mittlerweile am Parkplatz 2, der gesperrt ist, so wie auch die gesamte Zufahrt dorthin. Ich finde das gut. Es geht schließlich nicht an, dass Hinz und Kunz (deutsche Redewendung und Synonym für jedermann) mit ihren Autos soweit in die Natur vordringen. Das tun doch schon genügend Einheimische mit TÖL-Nummer, die heute am Tag der Arbeit - ja was eigentlich? -  dort oben arbeiten?!
Ein Wort von mir zur Besucherstromlenkung mittels Parkgebühren: Wollte man wirklich die Besucherzahl reduzieren, dann müsste man (also eine irgendwie geartete Organisationseinheit) deutlich höhere Parkgebühren verlangen. Fünf oder sieben Euro schrecken doch keinen mehr ab. Fünf bis sieben Euro sind lediglich dazu geeignet, die neu aufgestellte Parksäule abzubezahlen und anschließend die ausschweifende Weihnachtsfeier der Gemeindeverwaltung zu finanzieren, wenn überhaupt, für nen Glühwein wirds ausreichen...
Wollte man wirklich die Besucherzahlen reduzieren und den Druck von der Natur nehmen, dann müsste man so wie z.B. in Nepal, Neuseeland oder Namibia Permits (dt. Erlaubnisscheine) für den Besuch einer Region bzw. eines Gebietes ausstellen. Ich bin mir sicher, dass die Beantragung eines irgendwie gearteten Permits im analogen und unterdigitalisierten Deutschland hinreichend umständlich gestaltet werden kann, um jedermann, also auch dem einzelnen Einheimischen, die Lust auf die abenteuerliche Bergwanderungen zu verleiden. Ja, das könnte funktionieren...

Der Nebel wird dichter, die Forst- oder besser Almstraße immer steiler. Eigentlich ist der Weg weder schwierig noch anstrengend und dennoch pocht der Puls bis in den Kopf. Ich bin eben unfit und leider auch nicht ganz gesund. Ich halte es hier lediglich schriftlich fest, damit ich mich später einmal daran erinnern kann, wenn es mal wieder zu gut läuft.
K. nimmt ohne nähere Kenntnis von Person und Sachlage an, dass sich hier jemand über die eigene schlechte Kondition beschwert, obwohl dieser zuvor zu viele Süßigkeiten und Kuchen zu sich genommen hätte. Der verordnete Verzicht auf Kuchen im Allgemeinen und Koffein im Besondern geht Z. ziemlich an die Nieren...

Ich erreiche eine Abzweigung und ein Wegweiser weist auf die Neulandhütte hin. Vor lauter Möglichkeiten endlich einmal Neuland entdecken zu können, biege ich denn auch prompt falsch ab, wobei 'falsch' sagt man ja heutzutage nicht mehr. Weil alles Sinn macht, zumindest im englischen Sprachgebrauch (it makes sense), muss zwangsläufig alles auch irgendwie 'richtig' sein. Bestenfalls ist ein Fehler also 'ungünstig', aber immer 'richtig', weil in guter Absicht geschehen. Egal, ist auch nur so ein unausgegorener Gedanke von mir, den ich zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht wieder aufgreifen werde. Deshalb halte ich ihn, also den Gedanken, hier schriftlich für mich fest.
Hoffentlich fragt mich später danach niemand , antizipiert (dt. vorwegnehmen) womöglich noch, was ich damit ausdrücken möchte, und verstellt mir so die Möglichkeit zur eigenen, individuelle Auflösung durch erneute Antizipation seiner Meinung.

Den eigenen Navigationsfehler doch noch rechtzeitg erkannt, bin ich umgekehrt, habe die Melcherstefflalm passiert und befinde mich nun auf dem Karrenweg, der zum Waxenstein führt. Dort liegen noch immer Schneereste. Man hat die Wahl, zwischen Ausrutschen in der festgetretenen Spur (Turnschuhe!) oder Einsinken bis zum Knöchel (Turnschuhe!) direkt daneben.
Sagt man heutzutage eigentlich noch Turnschuh? Ist Turnen nicht schon zu analog? Wie sagt man in der Generation 'Internet' dazu? Idee: Power-Yoga-Sneaker (PYS).

Der 'Gipfel' des Waxenstein mit seiner netten Bank ist erreicht. Im dichten Nebel reicht der Blick nicht weit. Schemenhaft zeichnen sich die Silhouetten von Bäumen im gleichförmigen Kondensat aus der Verbindung von zwei Wasserstoffatomen mit einem Sauerstoffatom ab. Es ist windstill und dennoch nicht geräuschlos. Äste knacken, Vögel singen und der Nebel sammelt sich auf Blättern und Nadeln zu Tropfen, die deutlich hörbar auf den weichen Waldboden platschen. Ein wenig habe ich das Gefühl, jetzt neben Henry Morton Stanley (Journalist und Afrikaforscher) zu stehen und mit ihm auf den Urwald hinabzuschauen, nur um zu erkennen, dass Afrika viel größer ist (in Anlehnung an Otto: Rio ist viel größer!). Die frischen Temperaturen holen mich in die Realität zurück. Ich schreibe Ruwenzori auf meinen gedanklichen Merkzettel (neu-dt. Projektliste) und trete den Rückweg an.
Im Nebel erkenne ich einen steilen Zacken zwischen den Bäumen. Das ist der 'richtige' und allerallerkleinste Waxenstein. Auf einer sehr undeutlichen Spur versuche ich mich der Szene zu nähern. Plötzlich rutsche ich auf dem nassen Gras aus, die Füße fliegen samt Turnschuhen in die Luft und mein Hintern landet unsanft auf dem Boden. Zum Glück rutsche ich nicht weiter, aber ich sehe etwas Schwarzes, das direkt auf mich zufliegt. Blut rinnt aus meiner Nase. Was aber viel wichtiger ist, die Kamera hat nichts abbekommen und ist bei dem Zusammenstoß unbeschadet geblieben. Die Sache mit dem Übergang zum GK breche ich für heute ab. Dieses Abenteuer wird an einem anderen Tag fortgesetzt.

Obgleich geschlagen genieße ich glücklich und zufrieden den Abstieg. Die Nebel lichten sich und die schönste Stimmung ist vorüber. Gegen 10:00 Uhr begegne ich heute den ersten Wanderern, die jetzt immer zahlreicher werden.
K. und andere erkennen in dieser Feststellung bereits ein Klage über die zunehmenden Touristenströme. Ich selbst sehe das etwas differenzierter. Wenn die Anzahl der Besucher zunimmt, dann wird die absolute Anzahl negativer Begleiterscheinungen auch bei gleichbleibender Qualität der Besucher ebenfalls zunehmen. Leider nimmt die Qualität der Besucher ab, was jedoch mehr auf ein gesamtgesellschaftliches Problem hindeutet.
Meine Müllsammlung enthält heute zwei medizinische Schutzmasken, eine (leere) Bierdose und einen Schnuller. Bei dem Schnuller komme ich ins Grübeln. Der Nuckel (syn. Schnuller) liegt auf einem Baumstumpf. Vermutlich hat irgendjemand den Schlotzer (syn. Schnuller) verloren, ein anderer oder eine andere haben ihn dann gefunden und dort abgelegt. Und nun? Glaubt ihr wirklich, dass die Besitzerin oder deren Eltern jetzt nochmal die ganze Strecke ablaufen, um den verlorenen Lutscher (syn. Schnuller) zu suchen? Oder denkt ihr euch, dass sich irgendwer über den so dargebotenen, angelutschten Gummisauger (syn. Schnuller) freut und den seiner Brut abwechselnd in die schreienden Mäuler stopft? "Ey Mudder, da hasse n' tollen Nucki für die Blagen. Der is noch richtich juut!"

Ja, soll ich nun überhaupt noch einen hikr-Bericht schreiben und veröffentlichen? Für wen schreibe ich eigentlich diese Berichte? Auch wenn die Antwort jetzt die Mehrzahl der Leser vor den Kopf stößt, aber in erster Linie schreibe ich diese Berichte, die im eigentlichen Sinne nicht die Kriterien eines formalen Berichtes erfüllen, nur für mich selbst.
Liebe Leser*innen, sollte Ihnen der Inhalt dieses oder eines anderen Berichts aus meiner Feder dennoch ge- oder missfallen, so dürfen Sie sowohl Freude als auch Abscheu gerne für sich behalten.

Und wer ist K.? Wer jetzt denkt, er kenne die Antwort, der irrt schon! Wer schon einmal "Der Prozess" oder "Das Schloss" von Franz Kafka gelesen (oder als Hörbuch gehört) hat, der kennt den Protagonisten K.!
Ein Bisschen K. steck in jedem/jeder von uns. K. ist jeder oder auch niemand. Vielleicht ist K. auch mein imaginärer Freund... (na wenigstens hat er einen Freund.)

Ein Tag später

Eine letzte flüchtige Rechtschreib- und Grammatikkontrolle. Nun trennt mich nur noch ein Knopfdruck von der Veröffentlichung.
"Es ist ein verregneter Sonntag. Die Leute werden Zeit haben und vermutlich werden einige diese wertvolle Zeit mit dem Lesen von Deinem dummen Geschreibsel verplempern. Vielleicht wird eine Untermenge von denen sogar Kommentare schreiben. Und ein Teil der Kommentare wird nicht nett sein. Ein Shitstrom (dt. Orkan aus Kacke) ist immer möglich. Ob Du das aushalten kannst? <ironie>Du bist schließlich sensibel und verletzlich, Zing!</ironie>"

Nocheinmal wenige Sekunden später
Huch, jetzt habe ich aus Versehen 'Publizieren' angeklickt. Nun gibt es kein Zurück mehr. Haken dran.
Noch ein Tipp für den verregneten Sonntagnachmittag des 02.05.2021:
Entweder Ego-Shooter spielen, um angestaute Aggressionen abzubauen, oder ein Buch passend zur Pandemie lesen, z.B. Leben ohne Ende von George R. Stewart...

Tourengänger: ZvB


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Kommentare (5)


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Nyn hat gesagt:
Gesendet am 2. Mai 2021 um 13:29
Wie schön, dass Du die Kamera dabei hattest! Bilder wie Texte erfreuen mich aufs Höchste - wer braucht da schon Wanderschuhe ("BigMountainfooter")

wasquewhat hat gesagt: Insta-Hotspot
Gesendet am 2. Mai 2021 um 15:05
Wenn das so weitergeht, wird der arme kleine Waxenstein noch zum Insta-Hotspot und es ergeht ihm wie den Königsseegumpen:

https://www.watson.de/digital/instagram/684946559-ermittlungen-wegen-foto-gegen-influencerin-nationalpark-zieht-konsequenzen

Alles nur Spaß! Jedenfalls Klasse, auch mal die "Schlechtwetteraspekte" des Waxensteins zu sehen.

viele Grüße, W.

Schubi hat gesagt:
Gesendet am 2. Mai 2021 um 18:32
Ich merk schon, Natur-Erfahrung wirft oft mehr Fragen auf, als sie Antworten bietet. Aber dann haben wir wenigstens Grund, wieder rauszugehen ...
Und: puh ... die arme Kamera! ;-)
Wieauchimmer: Daumen hoch auch von mir für amüsante Prosa und bezaubernde Bilder.

georgb hat gesagt: Weniger, aber mehr
Gesendet am 2. Mai 2021 um 19:00
Ist es nicht herrlich, wenn man am Ende der Bergwanderung noch ausreichend Energie hat, um solche Texte zu schreiben?

rojosuiza hat gesagt: Weniger, noch weniger
Gesendet am 3. Mai 2021 um 17:29
"Wollte man wirklich die Besucherzahlen reduzieren und den Druck von der Natur nehmen"

Ich bin da mehr fürs Nacktwandern, aber total. Also weder Hut, noch Kleidung, noch Sonnenschutz. Und natürlich: ohne Turnschuhe... Das befreit den Verstand von ermüdendem Nachdenken und vermindert die Menge der Wanderer schliesslich fast vollautomatisch...


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