Im Lande der Mütter
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Die Mutter ist im Äschëbach aufgewachsen. Die Grossmutter wirtet später in Kirchdorf im Paradies; dort bin ich geboren. Später zieht sie nach Baden AG, wo sie in der Chräbelistrass 5 eine Pension führt. Die junge Familie wohnt zu dieser Zeit unweit davon in Dättwil, und meine Mutter serviert als junge Frau etliche Zeit auf der Baldegg. In dieses Land der Mütter, ins Land der frühsten Kinderzeit, ist rojosuiza heute zurückgekehrt.
Die Baldegg wollte er vor zwei Jahren schon einmal besuchen, fand sich
stattdessen mit Schneeschuhen auf Schloss Schartenfels wieder - etwas
vorbei am Ziel. Darum rennt er heute zielstrebig vom Bahnhof durch die
Altstadt. Er unterquert den Schulhausplatz, den man ganz dem Automenschen
geschenkt hat. Während man früher den Zweibeiner aber mit dunklen Passagen
abgespeist hat, hat er bei der neuesten Revision im Untergrund eine Kopie
des oberirdischen Platzes erhalten. Die Schule ist aus, darum wimmelt es
im Untergrund; es ist viel zu sehen.
rojosuiza läuft die Melligerstrasse hinaus, biegt bei der Bahnlinie nach
Dättwil von ihr ab, auf den Pfad neben der Bahn. Oben bei den Treppen, die von der Sonnmattstraasse hinauf zur Meierhofstrasse hinaufklettern, riecht es förmlich
nach dem Baden der Ida Wegmüller, meiner Grossmutter. Die Treppe sind die nämlichen, auch die Gärten, die Bänklein darin, alles atmet noch die damalige Zeit. Schon ist rojosuiza hinaus aus der Stadt, im Obergeschoss von Baden sozusagen. Ein bisschen nach links, dann wieder nach rechts, danach
hinauf, und schon ist sie da - die Stelle, wo rojosuiza das letzte Mal
vom geraden Weg abgekommen ist. Aber dieses Mal kann auch der
breiteste Weg ihn nicht in die Irre führen: er hebt ab, und schnurgerade
steigt er am linken Rand des alten Steinbruchs empor. Weiter und weiter
fällt der Boden des grossen Lochs neben ihm ab, höher und höher läuft man
auf der Kante. Es geht hier eine alte Wegspur. Heute brausen hier wohl hauptsächlich Räder herunter - die Spuren am Boden sprechen eine
deutliche Sprache. Ganz oben am Loch, fast an der Kante, hat jemand einen
toten Ast hingelegt. Nur ein kleines 'Ästchen' ist es eigentlich – und dies Ästlein ganz allein steht im Abenddunkel zwischen dem bergabrasenden
Rennfahrer und der bodenlosen Tiefe. Wir Berggänger wissen,
unsere Berge sind nicht ganz ohne Gefahr. Wer aber hier über die Kante fallen könnte, weiss es hoffentlich auch, und ist wachsam. Sonst wird er mit einem
Knall unten aufprallen - nur ein überaktiver Schutzengel kann da noch helfen...
Auf zwei Beinen und bei Tageslicht ist die Passage sicher. Der Weg ist schön. Bald ist der höchste Punkt erreicht, er heisst Hundsbuck. Der Hundsbuck ist 539m hoch, gerade weit genug weg von der Stadt, um den Hund gut Gassi zu führen. Es folgt eine kleine Kerbe, danach steigt der Pfad wieder an. Man gerät bald einmal zum Badener Poetenplatz. Es ist die prosaische Kreuzung zweier Forststrassen. Die Poesie erschliesst sich erst dem, der die Sitzgelegenheiten näher betrachtet: die Reden. Sie reden von Regen und Sonne, von Zweig und Blüte und Frucht, von Blattlaus und Made... Neben der Fortstrasse Richtung Baldegg verläuft ein Trampelpfad, genau auf dem Scheitel des Hügelzugs, den nehmen. Es taucht plötzlich etwas auf weiter vorn im Gehölz. Ist es die Baldegg, hat man dem Ausflugsrestaurant einen neuen, übergrossen Aussichtsturm verpasst? Ist es ein Funkturm, oder sonst etwas Technisches?
Aus ist es mit dem fröhlichen vorwärts Tippeln. Jetzt kommt veritables Hochsteigen. Der Turm ist aus Beton, ein hypermoderner Aussichtsturm, so will mir scheinen, aber von einer spannenden, massiven Konstruktion. Von der Wendeltreppe im Innern kann man durch Schlitze in alle Richtungen hinausschauen, auch durch die Stufen hindurch zum Boden geht der Blick. Schliesslich ist man fast oben, da wird es dunkel. Die Wendeltreppe wendelt weiter ins Dunkle; es erschliesst sich der Sinn der Lichtschalter, die schon unten aufgefallen sind. Tapfer kämpft rojosuiza sich vorwärts, immer weiter hinauf. Bei Gegenverkehr würde es hier eng. Dann ist die Stelle passiert, es wird wieder hell – der tapfere Wanderer stegt auf der Aussichtsplattform. Von hier aus hat man in alle Richtungen freie Sicht. Alles, alles sieht man, nur die Stadt sieht man nicht. Sie versteckt sich hinter dem Hügelzug, den man gerade begangen hat. Sie liegt im Einschnitt zwischen dem Hundsbuck hier und der Lägeren auf der anderen Seite der Limmat.
Das Ausflugsrestaurant ist leider zu. Es ist nicht Saison. Bei der verlassen Bushaltestelle, wo rojosuiza kurz den Weiterweg prüft, rennt plötzlich ein Bub herbei – als wolle er zum Bus. Und richtig, Sekunden später fährt der Bus vor, und spring der Bub hinein: die Stadtwerke Baden fahren zur Baldegg, Saison oder nicht. Diese Umgebung ist also für jeden aufs Beste erschlossen.
Was geschieht, wenn man einen Weg jahre-, jahrzehntelang nicht mehr begeht? Wenn nicht andere ihn unterhalten, vergandet er. Ab der Fortstrasse zwischen den alten Teilen des Kappelerhofs und dem Waldrand oben hat jemand einen neuen Weg nach unten angelegt. Den zeigt eine Tafel an. rojosuiza verschmäht ihn. Er läuft noch etwas weiter, denn dort weiss er den alten Weg, der auf steilen Stufen vom Wald hinab zum Hause der Grossmutter, Chräbelischtrass 5, führt, und gleich noch weiter, zur Hauptstrasse hinunter. Er ist total zugewachsen! Die Stadt hat ihn vergessen, die Eigentümer der beiden Nachbargrundstücke sind froh, wenn keiner ihnen zu nahe tritt. Die Zäune links und rechts lassen einen schmalen Streifen übrig – mein Wanderweg! Allerlei Buschzeugs versperrt den Pfad. Es ist noch Winter, darum kann man durch die Zweige hindurchsehen, und den Weg doch noch ausmachen. rojosuiza schlägt sich beherzt ins Gebüsch. Das Bild in seinem Kopf von diesem Steg, wie er früher einmal war, erleuchtet ihn und treibt ihn vorwärts. Sic transit gloria mundi! Glatt vergessen! Ungebliebt, gar gehasst? – Nur in rojosuiza noch frisch und jung. Der geht ihn fröhlich ganz hinab, bis zur Hauptstrasse, die übrigens auch gar nicht Hauptstrasse heisst, sondern Bruggerstrasse. Die alte Bäckerei-Konditorei unten ist auch verschwunden, leider kein Café geworden. Stattdessen steht an seiner Stelle ein gesichtsloser Neubau, woran die Bauarbeiter noch beschäftigt sind.
rojosuiza macht noch ein paar weiter Gänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Am Anfang hat er beim Durchqueren der Stadt aber gut aufgepasst; der wache Verstand bringt ihn schliesslich zu einer ganz zeitgenössischen Cappuccino-Quelle, die ihm das Gemüt erfreut. Alle ist anders geworden in Baden – und doch ist für rojosuiza alles gleich.

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