Kurzbericht 

Die Lis gegen den Strich gekämmt


Publiziert von lorenzo , 18. Mai 2019 um 20:19.

Region: Welt » Schweiz » Wallis » Oberwallis
Tour Datum: 1 August 2013
Wandern Schwierigkeit: T4 - Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: ZS
Klettern Schwierigkeit: III (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: I   CH-VS 
Zeitbedarf: 2 Tage
Aufstieg: 2295 m
Abstieg: 1895 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Stafal oder mit dem Auto; Gondelbahn Stafal-Alpe Gabiet
Zufahrt zum Ankunftspunkt:Sessellift/Drahtseilbahn Colle Bettaforca-Stafal; cff logo Stafal oder mit dem Auto
Unterkunftmöglichkeiten:Orestes Hütte; Rifugio Città di Mantova; Capanna Gnifetti; Rifugio Quintino Sella
Kartennummer:LK 294 Gressoney, 284 Mischabel Zusammensetzung 2515 Zermatt-Gornergrat; H. Biner, Hochtouren im Wallis, SAC 1994; D. Silbernagel, S. Wullschleger, Walliser Alpen, topo.verlag 2010,

Irgendwann hatte ich den Traum von einem Aufstieg oder sogar einer Abfahrt über die Liskamm N-Wand aufgegeben. Aber eine Überschreitung schien angesichts des Zu- und Abstiegs über spaltenarme und in der Regel gespurte Gletscher sowie bei günstigen Verhältnissen moderaten Schwierigkeiten im Bereich des Möglichen zu liegen, wegen der Bahn- und Hüttenlogistik und dem leichteren Abstieg am besten statt in der üblichen in umgekehrter Richtung von Ost nach West. So machte ich mich wenige Tage nach dem Zermatter Breithorn, von wo ich immer wieder sehnsüchtig zu dessen grösserer Schwester, die in makellosem Weiss posierte, hinüber gspaniflet hatte, an einem Freitagnachmittag Ende September 2011 bei schönstem Herbstwetter auf den Weg nach Gressoney, wo ich auf Stafal im Auto übernachtete. Die Bergbahnen und Hütten waren schon geschlossen, aus einem Hüttenwegschnäppchen ab Gabiet oder sogar der Punta Indren und einer gemütlichen Sesselliftfahrt vom Colle Bettaforca hinunter ins Tal würde also nichts werden, und zudem würde ich mich mit einem voraussichtlich nicht sehr komfortablen Winterraum begnügen müssen, dafür herrschte hier oben eine angenehme, wenn auch etwas gespenstische Ruhe.

In der Annahme, für eine weitere Übernachtung in der Capanna Gnifetti genügend akklimatisiert zu sein, stieg ich am nächsten Morgen über Courtlys, südlich vom Alta Luce vorbei und über das verwaiste Rifugio Città di Mantova hinauf. Ich machte es mir im mehr als spartanisch ausgestatteten Winterraum so bequem wie möglich und versuchte, vor der Hütte die milde Herbstsonne und die prächtige Aussicht hinunter ins Aostatal und hinauf zu den Viertausendern zwischen Castor und Punta Giordani zu geniessen. Eine einsame, altersschwache, und bereits schwer schnaufende Steingeiss leistete mir zwar Gesellschaft, liess mich aber nichts Gutes ahnen.

Später trudelte noch ein einheimischer Bergführer mit einer Frau als Gast ein. Die beiden wollten am nächsten Tag zur Signalkuppe, wohl den einen oder anderen dazwischen liegenden Spaghetti-Viertausender mitnehmend. Während sie pausenlos in irgend einem italienischen Dialekt zusammen redeten, wurde mir 
in der ungewohnten Höhe langsam mulmig zu Mute, und meine lustlos hinunter gewürgten Instant Thai-Nudeln blieben mir fast im Hals stecken. In der Nacht hinderten mich hämmernde Kopfschmerzen und eine kötzerige Übelkeit am Schlaf und signalisierten mir unmissverständlich, dass ich akut bergkrank war. Um Schlimmeres zu verhindern, stand ich am nächsten Tag mit den beiden Andern, die sich zum Aufstieg rüsteten, auf, und stieg kurz nach fünf Uhr bei sternenklarem Himmel mit der Stirnlampe schweren Herzens, dafür mit immer leichterem Kopf zurück ins Tal hinunter. Schon bald leuchtete der Liskamm in der Morgensonne, was meine grosse Enttäuschung darüber, dass ich schon vor dem Beginn der eigentlichen Tour hatte aufgeben müssen, nicht gerade kleiner machte, aber noch bevor ich die lange Heimreise unter die Räder nahm, war mir klar, dass ich wiederkommen würde.

Knapp zwei Jahr später war es dann endlich so weit. Auf den 1. August 2013 war schönes Wetter angesagt, eine ideale Gelegenheit also, um ennet der Grenze dem gschmüechteligen Fest- und Feuerwerksrummel unserer Schweizer Patrioten zu entfliehen. So  fuhr ich am letzten Julimittwoch wieder über den Grossen Sankt Bernhard und das Aostatal nach Gressoney. Diesmal wollte ich mit der Gondelbahn nach Gabiet hochfahren und dort übernachten, um nicht wieder höhenkrank zu werden, 
denn erfahrungsgemäss vertrug ich Übernachtungen in grosser Höhe ohne genügende Akklimatisierung schlecht, während ich schon wiederholt Tagestouren auf Viertausender von zuhause aus problemlos überstanden hatte. Der Preis eines längeren Zustiegs am Gipfeltag für eine erholsame Nacht bezahlte ich gerne.

Der Plan schien gut durchdacht zu sein, aber mit dessen Umsetzung haperte es zunächst akut, denn auf Gabiet sagte man mir, dass ich im dortigen Rifugio nicht übernachten könne (geschlossen wegen Umbau?). Bevor ich jedoch damit begann, fieberhaft nach Alternativen zu suchen, kam mir eine Gruppe deutscher Wanderer entgegen und erzählte mir von einer neu erbauten feinen Hütte in ca. 1h Entfernung Richtung Capanna Gnifetti. Das liess ich mir natürlich nicht zweimal sagen! Ich bedankte mich und machte mich auf den Weg. Schon bald erreichte ich die schön gelegene, geräumige und gut ausgestattete Orestes Hütte, wo ich von einem jungen Team freundlich empfangen wurde. Ich suchte noch den Weg für den morgigen Tag, damit ich die entscheidende Abzweigung bei Dunkelheit nicht verpassen würde, und ruhte mich dann etwas aus. Beim Abendessen erzählte mir einer der jungen Hüttenwarte auf italienisch und Walserdeutsch von "ottime condizioni" am Liskamm, zeigte sich aber auch bestürzt über den rasanten Gletscherschwund sogar hier an der südlichen Abdachung des Monte Rosa Massivs.

Am Morgen des 1. Augusts ging ich zeitig los und erreichte schon bald den mir bereits bekannten Hüttenweg, dem ich mit der Stirnlampe gut folgen konnte. Bei beginnender Dämmerung gelangte ich zum Rifugio Città di Mantova, wo sich viele Seilschaften gerade bereit machten und losmarschierten. Auch ich zog Klettergurt und Steigeisen an und trottete auf einer guten Spur mit der Karawane über den sanft geneigten östlichen Lysgletscher zum Lisjoch, wo sich die zahlreichen Gruppen in alle Richtungen zu den verschiedenen Viertausendern verteilten. Ich steuerte mit wenigen Anderen den Liskamm E-Grat an und begann schon bald mit dem Aufstieg. Dank einer trittfesten Spur gelangte ich über den schön geschwungenen und kaum Wächten tragenden Grat rasch zum E-Gipfel, wo ich eine kurze Verschnaufpause einlegte. Bis jetzt hatte es mit der Höhe gut geklappt, aber was nun folgte, war ein eigentlicher Höhenrausch: auf der weiterhin guten Spur flog ich gleichsam, nur zwischendurch einer entgegenkommenden Führerseilschaft ausweichend, auf dem wunderbaren, allseits mit einem prächtigen Panorama aufwartenden Firngrat hinunter in die Sella, auf der anderen Seite hinauf zur Felsstufe, wo ich etwas knobeln musste, und flugs wieder leichter zum W-Gipfel. Und schon war der himmlische Spuk vorbüber - war es etwa nur ein Traum gewesen?

Wie auch immer: die W-Flanke rief mich in die Realität zurück. Sie wies zwar zum Glück kein Blankeis auf, die vorhandene Spur war aber nach Ausschmelzen am Vortag Mitte Vormittag noch hart, so dass beim Abstieg mit den Steigeisen nochmals volle Konzentration gefragt war, das zusätzliche Leichteisgerät brauchte ich aber nicht. Wieder auf einer guten Spur erreichte ich kurz danach das Rifugio Quintino Sella, wo ich die Höhe langsam zu spüren begann. Aber das Gröbste war jetzt überstanden. Ich zog Klettergurt und Steigeisen ab, packte den Rucksack neu und machte mich an den Abstieg über den stellenweise klettersteigartigen Hüttenweg, einer Gratwanderung hoch über dem Val d'Ayas und dem Valle di Gressoney. Nach öden Felsen und faulen Firnfeldern tauchten erste Bergblumenpolster auf, und schon bald schwebte ich mit dem Sessellift bequem über saftig-grüne Matten und ätherisch duftende Lärchen zurück ins Tal. Nach einem letzten, diesmal befriedigenden Blick zurück zum Liskamm warteten jetzt nur noch sechs Stunden Rückfahrt mit dem Auto (selber schuld, aber die öV-Verbindungen vom Aostatal in die Schweiz lassen etwas zu wünschen übrig). Nun hatte ich neben dem wohl schönsten Fels- auch den schönsten Firngrat der Alpen überschritten. Was wollte ich noch mehr? Für die harten Fels- und Eistouren sowie kombinierten Nordwände würde ich dann villeicht in einem nächsten Leben Gelegenheit finden...


Zustieg zur Orestes Hütte
Von der Bergstation auf der Alpe Gabiet (2318m) auf einem gelb markierten Bergweg zuerst Richtung NE, dann N zur Orestes Hütte (2625m), 305Hm, 45min-1h, T1.

Liskamm E-W-Überschreitung
Von der Orestes Hütte (2625m) auf dem gelb markierten Hüttenweg (Steinmänner) zuerst kurz über Gras, dann auf Geröll zum Rifugio Città di Mantova (3498m), 1h 45min-2h 15min, T3. Nun auf dem östlichen, spaltenarmen Lysgletscher E an der Capanna Gnifetti (3625m) vorbei und Richtung N (meistens Spur) zum Lisjoch (4152m), 1h 30min-2h, L. Nach W, S am "Entdeckungsfelsen" (4178m) vorbei zum Beginn des E-Grats. Auf dem schmalen Firngrat (35 Grad, Wechten) zur Firnkuppe 4331 und flacher auf dem gewellten Grat (Wechten) zum Gipfelaufschwung. In der NE-Flanke dem Grat entlang hinauf (35 Grad, bei Vereisung heikel) und zuletzt über leichte Felsen zum E-Gipfel (4533m), 1h 15min-2h, ZS. Abstieg über den schön geschwungenen NW-Grat (Wechten) hinunter zur Sella del Liskamm (4419m). Auf dem ENE-Grat weiter auf Firn (Wechten), beim E Vorgipfel (4459m) einige Felsen überkletternd oder N umgehend zu einer Felsstufe (Schlüsselstelle). Über diese hinauf (5m, III, Schlinge) und über den zuerst felsdurchsetzten Firngrat (Wechten) auf den W-Gipfel (4479m), 1-1h30min, ZS. Abstieg über den W-Grat bis zum W Vorgipfel (4448m) und noch etwas weiter. Dann über die W-Flanke (40 Grad, Vorsicht bei Vereisung) Richtung SW zu P. 4210 und nach SW auf dem stellenweise schmalen und verwechteten Grat zum Felikjoch (4066m). E über das Felikhorn (4086m) ausholend nach S auf den oberen Felikgletscher und auf diesem (Spalten) nach SSW zum Rifugio Quintino Sella (3585m), 1h 15min-2h 30min, WS. Insgesamt 1990Hm Auf- und 1030Hm Abstieg, 6h 45min-10h 15min.

Abstieg zum Colle Bettaforca
Vom Rifugio Quintino Sella (3585m) auf dem gelb markierten und gesicherten Hüttenweg (Steinmänner) z.T. ausgesetzt über P. 3490 und E am Passo Bettolina (2905m) vorbei hinunter zum Colle Bettaforca (2720m), 865Hm, 1h 45min-2h 15min, T4.

Material: übliche Hochtourenausrüstung mit 30m Einfachseil, 2 Express, 2 Schlingen, 2 Eisschrauben und ev. zusätzlichem Leichteisgerät.

Fahrplan: 3.30 Orestes Hütte, 5.45 Rifugiio Città di Mantova, 7.45 Lisjoch, 9 Uhr E-Gipfel, 10 Uhr W-Gipfel, 11.45 Rifugio Quintino Sella, 14 Uhr Colle Bettaforca.


Tourengänger: lorenzo


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