Tschalpe vo Dalpe abe


Publiziert von Henrik , 6. August 2012 um 20:29.

Region: Welt » Schweiz » Tessin » Bellinzonese
Tour Datum: 4 August 2012
Wandern Schwierigkeit: T1 - Wandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-TI 
Zeitbedarf: 2:00
Aufstieg: 100 m
Abstieg: 100 m
Strecke:Locanda Dazio Grande - eine Enttäuschung
Zufahrt zum Ausgangspunkt:ÖV
Zufahrt zum Ankunftspunkt:ÖV
Unterkunftmöglichkeiten:Leventina Tourismo
Kartennummer:GA 1. Klasse

... war geplant – wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben (schrieb Matthias Claudius [1740 – 1815], ein deutscher Dichter). Wer von solchen Aphorismen nicht genug hat, und insbesondere jene übers Reisen sich antun möchte, den verweise ich auf eine entsprechende Seite, die ich auch nicht einfach so entdeckt habe, dem ging ein Suchwort voraus. Gesucht hatte ich für den Samstag was Leichtes, z. Z. steige ich ja nicht so in die Berge, bleibe eher im Tal, aber ich steige ab für einen veritablen Mittagstisch – und den glaubte ich in der Leventina entdeckt zu haben, nach dem meine Montagsreise von dieser Woche infolge Busverpassen eine andere Wendung nahm und ich mich mit heruntergerutschten Shorts konfrontiert sah...
 
... nicht schon um 6 Uhr weggefahren, eine Stunde später reicht auch noch – aber was ich mir da wieder antat. Ein Elend, auch wenn nur bis Arth-Goldau, der ETR 470, besser bekannt unter seiner Verballhornung „Schissalpino“ – er sieht nicht elegant aus, er ist Schrott, er gereicht genau so weit wie genial der Toyota-Werbe-Topper es formuliert: „Nichts ist unmöglich“! Jeder Zug hat seine Macken, dieser ETR hat sie im Multipack. Kaum eine der Türen funktioniert ordnungsgemäss, mind. drei der Toiletten sind immer defekt, die Sitze sind tausend Jahre durchgeritten, das Gepäck ruht am Besten auf den Knien und wird mit den Wackeltischchen somit festgehalten, die sich dort wo man die Beine strecken vorhat, dazwischen schieben. Die Zugscrew ist per Lautsprecher angehalten, auf die nicht existierende Platzreservation hinzuweisen – und rät auch allen jenen, die nicht eine solche auf sich haben, in den IR bitte in Arth-Goldau umzusteigen.  Weder brannte es heute, noch stand er auf freier Wildbahn, er kam sogar pünktlich an in Arth, auf Gleis 8. Dagegen fehlten die beiden andern Züge: der Entlastungs-ICN aus Zürich, das hat aber Programm, aus Zürich kommen die meisten Züge, die nach Süden fahren, zu spät an, und der reguläre IR hatte einen Lokdefekt (nur fünf Minuten). Ich stieg in einen renovierten Einheitswaggon des IR nach Locarno – mit gerade drei andern Fahrgästen. Platz und praktisches Design, helle Lichtbahnen an der Decke, ein Guss von einem Eisenbahnwagen. Die Aufwertung kann sich sehen lassen – das einzige was noch fehlt, ist das WLAN. Aber liebe Art- und Zeitgenossen, wie war das vor 12 Jahren, da hattet ihr doch noch Bücher oder ein PC-Magazin in euren Händen?
 
... mich kann ein Eisenbahnwaggon in helle Begeisterung versetzen, die Zeitungen zwar noch nicht zu Ende gelesen, verschwanden stracks im Rucksack. Wahrscheinlich nicht nur weil er neu war, sondern Platz für Langbeiner, mögliche Steckdosen an jedem Sitz, ich habe den Laptop schon lange nicht mehr dabei, gefiel mir der Umbau sofort. Auch die Rollqualität sei erwähnt und insb. die Toiletten, endlich fertig mit Plumpsen. Hell und „kriegstauglich“ = vandalismusresistent.
 
... der IR rollte wie auch der vom Montag eher bedächtig den Gotthard hinauf – das scheint z. Z. die Regel zu sein. Ich verblieb im Zug, stieg auch nicht in Airolo aus und freute mich auf die Achterbahn an der Dazio Grande bzw. in der Piottino-Schlucht (deren historische Bilder man sich mal kurz betrachte), die eine Hürde für alle Verkehrsträger über Jahrhunderte darstellte. Heute ist die Schlucht entschärft, die Kantonsstrasse überwindet diese in zwei S-Kurven und der WW folgt dem Rinnsal des ehemaligen Wildwassers Ticino. 

... in Faido verlasse ich den IR samt einer grossen Veteranenwandergruppe – der Stimmengesang dürfte mit der Ostschweiz ziemlich nahe kommen. Ich höre Weinfelden – aha, richtig getippt. Ein etwas grotesker Fahrplan habe ich in der Hosenseitentasche: siehe dazu das beigefügte pdf. Fahrplanlesen und insb. das Kleingedruckte nicht vergessen, ist zwingend. Den kleinen Buchstaben neben der Abfahrtszeit nehme ich nicht ernst und schon sitze ich im falschen Bus. Aber im Gegensatz zu etlichen hikr.s [die auf dieser Seite nicht mal Zeit haben und die kaum was erleben] nenne ich es ein Privileg: ich habe beides – Zeit und eine Fülle von Erlebnissen. So hält der Bus nach Airolo zuerst wieder an der Stazione di Faido, kurvt hoch zur Dazio Grande, wo ich diesen verlasse und mich zuerst der Bahn widme, soeben rauscht ein ICN nach Norden.
 
... ich nehme die Locanda Dazio Grande ins Visier, setze mich in deren umseitigen offenen Garten an einen ehernen Bistrotisch und bestelle das frühmorgendliche erste Glas Weisswein. In einer Stunde fährt der nächste Bus nach Dalpe. Im Garten spielen Kinder auf einer Riiti (Gygampfi), aus der Küche scheppert es metallen und die Kantonsstrasse hat auch ihre Geräusche, die um die Ecke dröhnen. Ich höre sogar das Rauschen der Autobahn und das Rumpeln der Züge – das Dazio Grande liegt genau an der Achse, wo alle diese Verkehrswege auf engstem Raum zusammentreffen.
 
... ich breche auf, denn bis zur Haltestelle bei der Colonia Von Mentlen gibt es doch noch Sehenswertes [mein Hobby ist nicht Logbücher schreiben]! Ich treffe auf Häuser mit nieder gerollten Jalousien und aber doch grosse Schweizerfahnen hängen an der Aussenwand – was auf Besuch anlässlich des 1. August hinweist. Ich sehe viele Fahrzeuge nach Dalpe abbiegen und kann mir keinen Reim daraus machen. Auf der Kantonsstrasse reger Durchgangsverkehr, das kann auf Staus auf der Autobahn hinweisen, absurd ist dieser Gedanke ja nicht, denn am Spätnachmittag staute sich der Verkehr bis Quinto – auf 12 km-Länge vor dem Südportal des Gotthardstrassentunnels. Vor der Colonia ein grosser PP, den ich noch nie voll belegt gesehen habe – dieser dient auch jenen Fahrzeughaltern als PP, wenn bei der Funivia Tremorgio alles belegt ist.
 
... ich bin der einzige Fahrgast im Poschti (typengleiches Fahrzeug) nach Dalpe um 11.50 – ein so grosser Bus für mich allein! Bei der Ankunft geht mir ein Lichtlein auf – hier ist ein grosser Markt eingerichtet – Prodotto di Paese e Agricultura. Aber die Lust auf Hunderte Besucher ist rasch beerdigt. Ein Käsestand ist mein alleiniger Stopp. Dann ziehe ich mich zurück, hinaus an den Dorfrand und zähle die Fahrzeuge, die sich auf den vielen PP hingestellt haben und bringe sie in Relation zum Postbus, den ich allein für mich hatte. Die Leute haben keine Musse für ein paar Meter Fussmarsch, sie haben keine Zeit, um zu schreiben, mir fällt nichts ein, ich habe nichts zu sagen – upps!
 

... in der Locanda Dazio Grande setze ich mich nochmals in den Garten und bestelle eine kleine warme Mahlzeit (einen Tomme mit Salat) sowie ein zweites Glas Chardonnay. Endlich ist Sommer, und niemand sitzt draussen. Zu kalt, meinen die Gäste, die nach drinnen sich verziehen. Dafür sehe ich andere rastende Menschen, die sich zwischen die Häuser setzen, mitten auf den Asphalt, gerade dort wo der WW von Prato nach Dazio Grande verläuft. Beim Rundgang nach erfolgter Toilette fallen mir Unterschiede auf zum letzten Besuch mit Tobi im Winter – es wirkt etwas vernachlässigt, die Aufmerksamkeit ist nicht mehr dieselbe. Ich frage nach, ob es einen Pächterwechsel gegeben hat, certo. Das habe ich auch beim kleinen Imbiss schon gemerkt – das Locanda werde ich also vorerst nicht mehr aufsuchen.
 
... draussen nehme ich mir vor, entlang der Eisenbahn zu wandern, wo das möglich ist. In Rodi-Fiesso, das politisch zu Prato gehört, kann ich das eine ganze Weile. Der Bahnhof ist seit Jahren nicht mehr im Dienst – eine rötliche Staubdecke hat sich auf alles gelegt, Bremsstaub. Am Staubecken entlang spaziere ich in die Dorfmitte von Fiesso. Schon lange wollte ich die von der Eisenbahn und von der Kantonsstrasse her einsehbaren roten Holzbänke mal mir vor Ort anschauen, die ausserhalb des Dorfes am Hang liegen. Nie habe ich in den 40 Jahren, in denen ich manchmal sehr häufig und manchmal selten ins Tessin gefahren bin, jemanden dort sitzen sehen. Den Schotterweg finde ich sogleich, ich steige die wenigen Meter hinan und überschaue hier einen Teil der Leventina mit dem Betonband der Autobahn. Die roten Holzbänke tragen eine verblichene Inschrift: Pro Prato. Der Weg ist eine Sackgasse. Das Ende sieht aus wie auf einem Golfplatz, frisch gemäht. Ungern quere ich hochgewachsenes Gras, aber (keine Entschuldigung) es beginnt zu schütten. Ich finde „Unterschlupf“ an der Haltestelle bei Bivio Varenzo und nehme dort den Bus um 15.03 – nach Biasca.
 
... in Biasca im Gegensatz zum Montag gähnende Leere und weder Öliges noch Haariges. Auch der IR in einer geänderten Formation mit mehr alten Einheitswagen wie sonst, fährt beinahe leer nach Basel!
 
Als Hommage verstanden wissen will ich nachfolgende Zeilen von Regula52:

Was jedoch auf hikr. so speziell ist, ist die Dokumentation dessen, was man alles am Wegrand antrifft, die Vernetzung von Informationen wie Geschichte, Naturkunde, Kultur, speziellen Momenten, all dessen, was eine Tour zu einer noch sinnlicheren Erfahrung macht.  

Tourengänger: Henrik


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Kommentare (4)


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Pfaelzer hat gesagt: Neue Kamera...
Gesendet am 6. August 2012 um 20:48
...hast du dir jetzt endlich geholt...;-)

LG
Wolfgang

Henrik hat gesagt: RE:Neue Kamera...
Gesendet am 6. August 2012 um 20:51
Wie kommst du denn darauf...nein, alles beim Alten! Aber ich bearbeite die Bilder. Sonst nichts Neues. Ausser du / ihr kommt mal mit wieder.

Ciao

Henrik

Pfaelzer hat gesagt: RE:Neue Kamera...
Gesendet am 6. August 2012 um 20:52
oje, ich war etwas vorschnell...

CarpeDiem hat gesagt: Schön...
Gesendet am 8. August 2012 um 19:59
...dass du Regula's so treffenden Satz zitierst. Ich fand ihn auch sehr schön... genauso wie deine beschriebenen Reisebeobachtungen!
Und danke für den Link der Zitate.

LG, Anne-Catherine


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