Wilder Ritt über den Gäbelistritt


Publiziert von lorenzo , 28. Oktober 2020 um 21:49.

Region: Welt » Schweiz » Bern » Emmental
Tour Datum:25 Oktober 2020
Wandern Schwierigkeit: T6 - schwieriges Alpinwandern
Klettern Schwierigkeit: II (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-BE 
Zeitbedarf: 8:15
Aufstieg: 1365 m
Abstieg: 1365 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Innereriz,Säge oder mit dem Auto
Zufahrt zum Ankunftspunkt:dito
Unterkunftmöglichkeiten:Schneehas, Gasthof Eriz
Kartennummer:LK 1208 Beatenberg, 1108 Eggiwil; M. Brandt, Clubführer Berner Voralpen, SAC 1981

Bei der Überschreitung des Wysschrützgrats zwischen Widderfeld und Aff oder Hohgant  kommt man an ihr unweigerlich vorbei, der Scharte 1976, und erkühnt man sich, auch noch einen Blick Richtung Bumbach hinunter zu werfen, wird einem angst und bange. Kaum vorstellbar, dass dort vor "langer Zeit" ein Gemsjäger namens Gäbi hinaufgestiegen ist und damit eine der wenigen Nordrouten auf den Hohgant eröffnet hat, den sogenannten "Gäbelistritt". Nachdem mir der Aff vor noch nicht sehr langer Zeit die Zunge herausgestreckt hatte, wollte ich mein Glück wenigstens hier versuchen. Obwohl laut Führer "für tüchtige Berggänger keine allzu grossen Schwierigkeiten" zu erwarten waren, blieb ich nach den Erfahrungen am Aff skeptisch und sann nach einer möglichen Ausweichtour für den Fall, dass ich scheitern sollte. Eine valable Alternative, die auch im Führer beschrieben ist, stach mir schon beim Zustieg über Breitwang sofort ins Auge: die Querung vom Gemsjägerpfad unter den Flühen zum Westtrichter zwischen Widderfeld und Trogant. Aber zuerst rief  mich die Pflicht zum Gäbelistritt, und der Trostpreis - oder im besseren Fall villeicht sogar die Kür? - musste vorläufig noch warten.

Nachdem ich schon von zuhause aus und während der Anfahrt durch das Eriz hatte sehen können, dass an den Nordwestflanken der Emmentaler und Entlebucher Berge der vorletzte Woche reichlich gefallene Schnee vom Regen wieder weggeputzt worden war, stellte ich bei der Ankunft auf der Wimmisalp erleichtert fest, dass auch die Nordseite des Hohgants praktisch aper war. Damit fiel aber auch die letzte Ausrede weg...Andererseits sahen die steil aufragenden Flühe über dem von Gräben und Rinnen durchzogenen, und mit Gras, Stauden und Bäumen bewachsenen Vorbau von unten noch unzugänglicher aus als von oben, zumal ich die erlösende, zum Ausstiegsband führende "nicht zu verfehlende, vom Wasser ausgewaschene Runse" nirgends ausmachen konnte, so dass meine schon bisher gehegten Zweifel weiter zunahmen. V.a. aber passte der Augenschein vor Ort im unteren Bereich nicht so recht mit der Routenskizze (trotz unverkennbarer Handschrift von A.O.), und diese nicht mit der Beschreibung im Führer zusammen: befand sich der Einstieg zwischen der ersten und zweiten "Bachrunse" (von Westen aus gezählt) vor oder zwischen letzterer und der dritten hinter dem markanten Grasrücken? Und wo waren die beschriebenen "Schutthalden", und welcher "steile Grashang" war gemeint? So machte ich mich nach dem Aufstieg über den Geröllkegel zuerst auf die Suche nach dem richtigen Einstieg.

Ich begann bei der dritten Bachrunse und versuchte, zunächst von Osten auf den Grasrücken zu gelangen, gab in den rasch ungemütlich werdenden Schrofen und angesichts von darüber liegenden sehr steilen Graspartien aber schon bald auf. Dann probierte ich die zweite Bachrunse, blieb jedoch nach zwei gutmütigen Felsstufen zuerst im sehr steilen Grashang östlich davon und in der Fortsetzung der Runse trotz Einsatz des Eisgeräts stecken. Ich stieg vorsichtig zurück bis über die untere Felsstufe ab und wollte schon enttäuscht das Handtuch werfen, als ich die Möglichkeit gewahrte, über einen von der zweiten Bachrunse links abzweigenden Graben zu queren und von dort auf nicht allzu steilem Gras von Westen auf den Grasrücken zu gelangen. Gedacht, getan, und schon stand ich auf dem Rücken (der offensichtlich jenem im Führer eingezeichneten entspricht, nur dass ich ihn wohl etwas weiter unten erreichte). Über diesen gelangte ich auf glitschigem Waldboden und in feuchtem Gras, wo ich z.T. sogar Pfadspuren folgen konnte, das Eisgerät sicherheitshalber aber in der Hand behielt, auf die flache Grasschulter (im Führer "Egg" genannt). Nun war das Eis gebrochen, der weitere Routenverlauf wurde klar ersichtlich, und sogar die vorher versteckte ausgewaschene Runse liess sich inzwischen erahnen. Den folgenden Felsgürtel überwand ich nach mehreren Versuchen in der Mitte und links schliesslich rechts vom nächsten Graben. Als ich zur Runse hochstieg, lösten abwärts jagende Gemsen Steinschlag aus, der aber zum Glück hinter mir nieder ging. Die Runse wirkte zwar weniger ausgewaschen als brüchig, liess sich aber bis zum "Bödeli" gut erklettern. Auf dem Ausstiegsband , das mir nach den bisherigen Strapazen wie ein bequemer Wanderweg vorkam, atmete ich - schliesslich doch noch erlöst - erleichtert auf und legte beschwingt die letzten Meter bis zur Scharte im Wysschrützgrat zurück, wo mich erste Sonnenstrahlen empfingen. Luftig und mit anregenden Kletterstellen ging es über den Ostgrat weiter zum Widderfeld.


Vom Widderfeld wäre es über den Verbindungsgrat zum Wimmisgütsch nur ein 5-minütiger Katzensprung gewesen. Aber die Kür rief, und da trotz der Verzögerungen erst Mittag war, und ich somit noch genügend Zeit hatte, zog es mich noch einmal in das Reich der Schatten hinunter, wo ich die beim Zustieg inspizierte Querung vom Gemsjägerpfad zum Westtrichter versuchen wollte. Der Abstieg über den Nordwesttrichter war zu Fuss naturgemäss beschwerlicher als seinerzeit mit Ski, ging aber trotzdem ganz gut. Es folgte eine formidable Panaromawanderung unter vielgestaltigen mächtigen Flühen an der Grenze zwischen Emmental und Eriz mit eindrücklichen Tief- und Ausblicken. Die Eintrittskarte zum Westtrichter, das auch im Führer beschriebene "kleingriffige Wändchen" kostete noch einmal vollen Einsatz, dafür war der Aufstieg durch die Mündung des Trichters und über dessen W-Rand, der sich wie eine  gigantische Wendeltreppe über den Flühen hochschraubt, wiederum fast geschenkt - wenigstens was die technischen Schwierigkeiten anbelangt...Bei der Ankunft auf dem Wimmisgütsch war aus den fünf Minuten zuletzt eine geschlagene Stunde geworden - der Kür sollte es recht sein, und mir auch, hatte ich doch noch vor ein paar Stunden auf der Wimmisalp ernsthaft an der Erfüllung meiner Träume gezweifelt. Zufrieden, aber zum Glück noch nicht ganz müde, genehmigte ich mir zum Ausklang die landschaftlich reizvolle Überschreitung zum Trogenhorn, bevor ich von der Kleinen Chrinde wieder ins herbstlich leuchtende Eriz eintauchte.

Widderfeld
Zustieg: von Inneriz Säge (1041m) auf dem weiss-rot markierten Bergweg (wr) über Vorders Rotmösli P. 1181 und P. 1198, Unter- (1295m) und Oberbreitwang (1371m), P. 1402 sowie über den Breitwanggrabe zur Wimmisalp (1432m), 1h, T2.

Aufstieg Gäbelistritt und E-Grat: nach SE auf überwachsenen Geröllkegeln (Pfadspuren) zum Einstieg unter der Bachrinne (ca. 1580m) W des markanten, locker bewaldeten breiten Grasrückens, 15min, T3. Durch die felsige Bachrinne gut gestuft hinauf (I) und nach E auf Gras auf den Rücken. Über diesen durch steilen Bergwald und Gras (Pfadspuren, unter einem Aufschwung kurze Querung nach W) hinauf auf eine Grasschulter. Auf dieser nach SSW zu einem Felsgürtel, der am einfachsten rechts vom W begrenzten Graben überwunden werden kann (ca. 5m, II, Fels z.T. lose). Weiter nach S und SSW über Gras und Schrofen zu einer auffälligen Felsrinne und durch diese hinauf (II, z.T. brüchig). Bevor ein grosser Klemmblock den Weiterweg versperrt, Ausstieg auf die linken Randfelsen und über diese (II, z.T. brüchig) zu einem felsdurchsetzten Grasband, das nach E zur Ausstiegsrinne führt. Durch diese und nach deren Gabelung über den mittleren Rücken auf Gras und leichten Felsen zum Wysschrützgrat P. 1976, 1h 30min, T6. Auf dem E-Grat über eine erste Kuppe und Abstieg auf Gras und zuletzt Fels (II) in den Sattel ca. 1995m. Weiter über den Grat, zu Beginn eine Felsstufe rechts überwindend (II), und danach einfach zum Widderfeldgipfel (2070m), 15min, L, insgesamt 2h.

Abstieg Gemsjägerpfad: vom Widderfeldgipfel (2070m) kurz über den SW-Grat zum NW-Trichter und durch diesen auf Gras, Schrofen und zuletzt eine gut gestufte Felsrinne (I) hinunter bis ca. 1880m. Unter den Flühen nach SW (Pfadspuren) zu einer Kante, dann nach S, absteigend 2 Rinnen querend, zu einem Sattel ca. 1865m, von dem einfach auf einen W vorgelagerten grasbewachsenen Felspfeiler gestiegen werden kann (guter Übersichtspunkt), 30min, T5. 

Wimmisgütsch
Aufstieg SW-Flanke und W-Rücken: vom Sattel ca. 1865m weiter den Flühen entlang nach S (Pfadspuren) bis unter den weiten W-Trichter zwischen Wimmisgütsch (2062m) und Trogant (2033m). Querung über ein ausgesetztes feingriffiges Wändchen (II) in die Ausmündung des Trichters und an dessen N-Rand über Gras und leichte Felsen bis ca. 1940m. Nun über den Flühen nach NW und N zum W-Rücken und über diesen einfach zum Wimmisgütsch (2062m, Kreuz), 30min, T5+.

Abstieg Trogant, Grosse Chrinde und Sattel 1871: vom Wimmisgütsch (2062m) wr nach S mit Abstecher zum Trogant (2033m) zur Grossen Chrinde (1968m) und weiter nach SW, eine nach NW ausgerichtete Felsrinne passierend (Metallleitern oder I), zum Sattel 1871, 30min, T3.

Trogenhorn
Aufstieg E-Grat: vom Sattel 1871 wr durch Stauden zu einer Felsstufe, die über eine Metallleiter oder die gut gestuften Felsen links davon (I) überwunden werden kann. Danach zuerst wieder durch Stauden, dann über grobe Felsblöcke auf das Trogenhorn (1973m), 15min, T3.

Abstieg SW-Grat und Kleine Chrinde: vom Trogenhorn (1973m) wr über den SW-Grat zur Kleinen Chrinde (ca. 1915m), durch den W-Trichter und über Schiltwang und die Abzweigung 1537 nach Oberbreitwang (1371m), und auf der Zustiegsroute (Abkürzungen über Weide möglich) zurück, 1h 15min, T3.

Insgesamt 6h.

Verhältnisse: bei Föhn sonnig und mild mit Schleierwolken, auf den Graten kühl. Wege, Erde und Gras feucht und z.T. rutschig, Felsen trocken, kaum Schneereste.

Material: Leichthelm und altes Eisgerät zusätzlich zu üblicher Alpinwanderausrüstung.

Fahrplan: 7.45 Start, 8.45 Wimmisalp, 9 Uhr Einstieg, nach Reko dreier Varianten 10.30 Aufstieg Gäbelistritt, 12 Uhr Ausstieg Wysschrützgrat P. 1976, 12.15 Widderfeld, 13.30 Wimmisgütsch, 14.30 Trogenhorn, 16 Uhr retour.

Bemerkung: die Route wird im Führer als "steinschlaggefährdet" beschrieben, ich beobachtete aber keinen spontanen, sondern "nur" durch Wild ausgelösten Steinschlag.

Fazit: diesmal war meine Skepsis unbegründet gewesen. Abgesehen von einigen Unklarheiten beim Einstieg hält die Route über den Gäbelistritt, was ihre Beschreibung im Führer verspricht. Insgesamt handelt es sich um eine lohnende, abwechslungsreiche und landschaftlich einzigartige Tour in klassischem BG- oder T6-Gelände.

Tourengänger: lorenzo


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Kommentare (2)


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BaumannEdu hat gesagt:
Gesendet am 29. Oktober 2020 um 14:09
Bravo ! Supertour und grosses Engagement.

lorenzo hat gesagt: RE:
Gesendet am 29. Oktober 2020 um 22:56
Vielen Dank Edu! Ich bin auch begeistert von Gäbis Geniestreich. Engagement war v.a. bei der Einstiegssuche gefragt, nachher lief es fast wie von selber.




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