Glarus aus der Vogelperspektive (Vorder Glärnisch, 2327 m)


Publiziert von Fico , 29. Juli 2015 um 21:52.

Region: Welt » Schweiz » Glarus
Tour Datum:26 Juli 2015
Wandern Schwierigkeit: T4 - Alpinwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-GL   Glärnischgruppe 
Zeitbedarf: 7:00
Aufstieg: 1500 m
Abstieg: 1500 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Klöntal, Rhodannenberg
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Klöntal, Rhodannenberg
Kartennummer:1153 (Klöntal)

Berge und Täler bilden eine gegensätzliche Einheit. Ohne Tal kein Berg und umgekehrt. Wo das Tal aufhört und der Berg anfängt, lässt sich nicht immer zweifelsfrei bestimmen. Eindeutiger ist die Sache dort, wo sich der Berg unmittelbar aus dem Talboden erhebt. Wer einen solchen Berg besteigt, hat vom Gipfel aus das Gefühl, er schaue aus einem Flugzeug auf die Landschaft hinab. Einen derartigen Blick aus der Vogelperspektive auf Glarus hat man, wenn man ganz oben auf dem Vorder Glärnisch steht. Diese Aussicht allerdings bekommt man nicht umsonst. Der Aufstieg ist mühsam und steil. Und es sind zahlreiche Höhenmeter zu bewältigen.
 
Am Sonntag mit dem ersten Zug nach Zürich. Es sind auffallend viele Leute mit riesigen Rollkoffern unterwegs. Vermutlich auf dem Weg zum Flughafen. Etliche andere haben Rucksack und Wanderschuhe bei sich. Einer trägt schwere Bergschuhe wie ich. Beim Umsteigen in Winterthur mischen sich die Ausflügler mit den Nachtschwärmern, die auf dem Heimweg sind. Es ist noch nicht ganz hell. Zwischen Effretikon und Dietlikon zeigt sich der Himmel im Osten in einem zarten Orange. In meine Lektüre vertieft – soeben habe ich die Szene mit der der „Lady Zyankali“ am Schulfest gelesen („Jetzt setzte sich die Verwalterin in Bewegung, erst glaubte Koller, sie wolle ihren Mann holen, da die Musik gerade eine kurze Pause machte, doch sie ging an ihm vorbei, dabei einen vernichtenden Blick auf ihn und Rena Koller werfend, hinüber zur Bar.“) – verpasse ich beinahe den Sonnenaufgang. Die Zugfahrt dauert über zwei Stunden. Langweilig wird es mir nicht. Es gibt immer etwas zu sehen – oder eben zu lesen.

Im Postauto von Glarus zum Klöntalersee sind wir nur drei Fahrgäste, die alle in Rhodannenberg aussteigen. Es ist noch früh. Am Ende des Seedammes steigt der Wanderweg durch den Wald hinauf. Es ist kühl heute. Angenehm kühl, nach den letzten zwei schwülheissen Wochen. Kurz vor der Alp Hinter Saggberg ziehe ich das Hemd aus, bevor es verschwitzt ist, und gehe im T-Shirt weiter. Beim Alpsträsschen, das rechts abzweigt, verlasse ich den offiziellen Wanderweg. In den düsteren, feuchten Talkessel einzutauchen, habe ich keine Lust. Lieber mache ich den Umweg über das Vorder Schlattalpli. In meinem alten Buch „Zürcher Hausberge“ (5. Auflage 1979) steht, er sei weniger steil und sehr aussichtsreich. Schon bald kommt mir eine junge Frau entgegen. „Geht es heute auf den Vorder Glärnisch?“, fragt sie mich. „Ja, genau!“, bestätige ich freudig ihre Vermutung. Ob sie von dort her komme und schon auf dem Abstieg sei, möchte ich nun wissen. „Nein, nein!“, antwortet sie lachend, „nur von der Alp da oben.“

Ein kurzes Stück weiter oben komme ich an einem kleinen, alten Haus vorbei. Ob die fröhliche junge Frau wohl hier wohnt, mutmasse ich. Oder eher auf der Alp weiter oben? Bis ich dort ankomme, dauert es eine Weile. Immer wieder bleibe ich stehen und fotografiere den bezaubernden Ausblick auf den grünblauen Klöntalersee. Auf einem Felsen vor der Alphütte mache ich Halt. Seit dem Abmarsch bei der Postautohaltestelle sind fast zwei Stunden vergangen – und etliche mehr seit dem Frühstück zu Hause. Während ich eine Kleinigkeit esse, schaue ich zum Glärnisch hinauf, der direkt über mir liegt. Links das Vrenelisgärtli, rechts der Ruchen, dazwischen der weisse Firn des Schwander Grates. Von hier aus direkt hinauf, durch das Chalttäli, führt eine Route. Sie ist allerdings hartgesottenen Alpinisten vorbehalten.

600 Höhenmeter habe ich bereits zurückgelegt. Das ist schon bald die Hälfte des Aufstiegs. Der Weg quert kurz darauf auf einem Felsband nach Osten in den Talkessel des Gleiters. Vor der Hütte begegnet mir eine grosse Schafherde. Weisse und schwarze Schafe grasen friedlich nebeneinander. Nur ich bringe etwas Unruhe in die Idylle dieser Abgeschiedenheit. An Wanderer scheinen sie nicht gewohnt zu sein. Die Schafe folgen mir, als wäre ich der neue Hirte. Selbst nachdem ich die Runse überquert habe, trotten sie hinter mir bergwärts. Der Herdentrieb, als würden auch sie sich blindlings an Wegweiser und weiss-blau-weisse Markierungen halten. Letztere treffe ich jetzt recht häufig an und bin beruhigt, dass ich mich auf der richtigen Aufstiegsroute befinde.

Meistens gleicht der Weg eher jenem von der Schwägalp zur Tierwis als der Nasenlöcher-Route. Es sind jedoch mehrere Felsriegel zu überwinden, welche die Einstufung als Alpinwanderweg durchaus rechtfertigen. Nach dem Regen vom Vortag ist der Weg noch etwas feucht, die Schuhsohlen sind schmierig und der Fels ist speckig. Ideale Voraussetzungen zum Ausrutschen, vor allem im Abstieg. Hilfreich und angenehm sind darum die massiven Ketten und Stahlseile, die an den heiklen Stellen befestigt sind. Danach erreicht man auf etwa 1800 m die Glärnischplanggen. Die Schwierigkeiten sind vorbei, der Weg bleibt allerdings steil und scheint nie enden zu wollen. Noch immer deutlich mehr als eine Stunde bis zum Gipfel!

Dort angekommen, suche ich mir einen Platz für die Mittagsrast. Dass ich an einem schönen Sonntag im August nicht allein hier oben bin, versteht sich von selbst. Der Wegweiser unten beim Klöntalersee gibt für den Vorder Glärnisch eine Zeit von 5 Stunden an. Ziemlich genau so lange habe ich gebraucht, allerdings einschliesslich aller Pausen und dem Umweg über das Vorder Schlattalpli. Beim Aufstieg haben mich alle andern, ungefähr ein Dutzend, überholt. Alles Bergläufer? Wie dem auch sei, ich bin glücklich und zufrieden, dass ich überhaupt so viele Höhenmeter schaffe. Vor fünf Jahren wäre das noch nicht möglich gewesen. Vor allem in konditioneller Hinsicht hatte ich darum lange Zeit grossen Respekt vor dem Vorder Glärnisch.

Das Panorama ist grossartig. Zum Greifen nahe das Vrenelisgärtli mit dem Höchtor und dem Guppenfirn. Weiter hinten die bekannten Glarner Gipfel: Tödi, Hausstock, Kärpf. Richtung Nordosten hintereinander: Fronalpstock, Mürtschenstock, Churfirsten und ganz am Horizont der Alpstein mit Altmann und Säntis. Zu Füssen liegt der Talboden, Glarus und Schwanden mit den beiden Brücken über die Linth. Weiter westlich und 1500 Meter weiter unten der Klöntalersee, tiefblau wie ein Fjord.

Der Abstieg zieht sich in die Länge, so kommt es mir jedenfalls vor. Die Strecke zwischen Gleiter und Hinter Saggberg ist mühsam und steil. Bevor man zur Höhle kommt, wo der feuerspeiende Drachen lebt, hat es eine Felsstufe, die mit mehreren Eisenbügeln entschärft und mit einer Kette gesichert ist. Die Höhle kann man übrigens besuchen. Man braucht bloss darauf zu achten, leise zu sein und die Füsse vorsichtig aufzusetzen, um den schlafenden Drachen nicht aufzuwecken…

Beim grossen Wasserfall verlasse ich den Weg, um unmittelbar beim stiebenden Wasser eine Pause zu machen und Energie zu tanken: „In schnell fliessenden Gewässern, insbesondere bei Bergbächen und Wasserfällen (…) werden aufgrund der Bewegungsenergie physikalische Vorgänge ausgelöst, durch die Elektronen frei werden, die sich mit andern Molekülen verbinden und negativ geladene Ionen bilden.“ (Pier Hänni, Wege zu Orten der Kraft, S. 24 f.) Bis zu 50‘000 solcher negativ geladener Ionen (pro Kubikzentimeter) seien am Fusse eines Wasserfalls gemessen worden, im Vergleich zu 10 bis 20 in einem geschlossenen Raum. Nach dieser „Energiedusche“ gehe ich frisch gestärkt weiter. Die erhöhte Energie zeigt sich übrigens deutlich an den Baumwuchsformen neben dem Bachbett auf der Alp Hinter Saggberg, wo ich zahlreiche Buchen mit mehreren Stämmen entdecke.

Das Postauto nach Glarus fährt im Stundentakt. Damit ich jenes um 15:47 Uhr rechtzeitig erreiche, nehme ich den Abstieg durch den Wald im Galopp. Rund um den Klöntalersee herrscht ein emsiges Treiben. Badegäste sitzen am Ufer, Wanderer, Spaziergänger und Motorradfahrer teilen sich den engen Raum auf der Strasse. Das Postauto ist voll besetzt, nicht alle finden einen Sitzplatz. In Glarus, während ich auf den Zug warte, schaue ich nochmals hinauf zum Vorder Glärnisch. Vor mehr als 30 Jahren hatte ich mir vorgenommen, ihn einmal zu besuchen, und zwischendurch die Hoffnung längst aufgegeben. Umso grösser ist die Freude, dass es mir nun doch noch gelungen ist, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen.

Tourengänger: Fico
Communities: Alleingänge/Solo


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Kommentare (1)


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Felix hat gesagt:
Gesendet am 30. Juli 2015 um 07:06
wieder ein schöner Bericht - eine Freude, deine Bergerlebnisse nachzulesen und zu betrachten!

lg Felix


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