Überschreitung der Schlüsselspitze, oder: vom Türmljoch über den ganzen Dorferkamm


Publiziert von Nik Brückner , 25. September 2018 um 13:47.

Region: Welt » Österreich » Zentrale Ostalpen » Venedigergruppe
Tour Datum: 9 September 2018
Wandern Schwierigkeit: T6 - schwieriges Alpinwandern
Klettern Schwierigkeit: II (UIAA-Skala)
Klettersteig Schwierigkeit: K3- (ZS-)
Wegpunkte:
Geo-Tags: A 
Zeitbedarf: 6:30
Aufstieg: 1000 m
Abstieg: 1700 m
Strecke:11km
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Ich hab am Parkplatz Ströden geparkt.
Unterkunftmöglichkeiten:Essener-Rostocker Hütte (wahlweise auch die Johannishütte), Gasthof Islitzer oder andere Hotels und Pensionen in Hinterbichl.

Die Schlüsselspitze ist sowas wie das Geheimnis des Virgentals. Gleich zwei Local Heroes, der eine Jäger und Bergretter, der andere ein Hüttenwirt, sagten mir, sie sei der einzige Gipfel in der Gegend, auf dem sie noch nicht gewesen seien. Ein dritter, ebenfalls Hüttenwirt, wusste, dass die Tour oft jahrelang nicht gegangen wird. Ich wurde sogar für einen Bergführer gehalten, nachdem ich diese Tour gemacht hatte.

Wie ein gotischer Dachreiter sitzt die Schlüsselspitze auf dem Dorferkamm auf. Ein äußerst schlankes Gebilde, das im Norden und Süden zwei sehr schmale Fels- und Grasgrate ausbildet, von denen der eine brüchig ist (was man hier in der Gegend halt so brüchig nennt - kein Vergleich zu den Allgäuern!), und der andere aus brüchig-sandig-breiigem Schiefer besteht, der einen das Fürchten lehren kann. Vom Gipfelgrat ziehen äußerst steile, felsdurchsetzte Graspleisen ins Tal - hier geht es hunderte Meter in die Tiefe.

Schaut man sich die ganze Situ auf der Karte an, wird schnell deutlich, warum mich die Überschreitung dieses Kamms faszinierte: aus den Ü-3000-Regionen am Alpenhauptkamm kommend, zieht der Dorferkamm hinunter zum wanderbewegten Türmljoch, und von dort aus in nahezu schnurgerader Linie hinunter ins Virgental. Eine grandiose Linie, die geradezu darum fleht, begangen zu werden. Zu erfahren ist über den Grat allerdings kaum etwas: Der AVF bewertet die Tour mit II und sagt knapp: „auf dem steilen N-Grat zur Schlüsselspitze“ sowie „am S-Grat (steil, brüchig), einige Türme westl. umgehend, zum Gipfel“ - und das stimmt noch nicht einmal (dazu später mehr). Der Hüttenwirt der Essener-Rostocker Hütte (der nicht begeistert von meinem Plan war) konnte mir auch nicht mehr sagen, als dass es wohl ein IIer wäre. „Garantiert?“ „Garantieren kann ich dir gar nichts!“.

Das war's an Info, was ich zur Verfügung hatte. Das, und fünf Fotos aus dem Netz (danke an die Fotografen, ein paar Hikr waren auch darunter), die mir aufschlussreich erschienen.



Also selber nachschauen. Am Morgen nach meiner Anreise stieg ich früh aus dem Bett, und etwas weniger früh auf dem schönen Wanderweg hinauf ins Türmljoch (2772m).

Essener-Rostocker Hütte - Türmljoch: Markierter Wanderweg, T2, 1,5h


Das Türml, kaum 80 Meter höher als das Joch, ist mit Hilfe einer klettersteigähnlichen Drahtseilversicherung schnell erstiegen: Es geht zunächst über eine Wandstufe (B/C) an eine mit Klammern versicherte Kante heran (hier kurz C, sonst leichter). Dann geht es im Zick-Zack weiter hinauf (nochmal kurz C, dann B/C), bis zu einem Absatz (B), von dem aus man in ein Schartl abklettert (A). Von dort aus steigt man über ein paar Rampen (erst B/C, dann A/B) dem Türml auf den Gipfel (2853).

Türml-Klettersteig: Stelle C, sonst leichter, 10 Minuten


Netter, kurzer Klettersteig. Infos und Topo hier.

Der südseitige Abstieg in die Scharte zwischen Türml und Niklaskogel ist ein einfacher, wenn auch steiler Paarminüter. Hier machte ich erst einmal ein Päuschen. Nicht gleich verausgaben, am Beginn der Tour.

Zur nächsten Graterhebung südlich des Türmls geht es einen Blockgrat hinauf, dann überklettert (I) und umgeht man mehrere Zacken Richtung Südosten. Da das Gelände hier noch recht übersichtlich ist, ist es kein Problem, geeignete Ausweichrouten zu finden. Zumal diese meist durch gute Tierspuren angezeigt werden. Denen man in dieser Gegend übrigens jederzeit vertrauen kann - ich bin jedenfalls immer da hin gekommen, wo ich hinwollte, wenn ich ihnen gefolgt bin.

Dann wandert man etwa 50 Hm einen flachen Grashang hinunter zu einer Mulde vor dem Niklaskogel, der ebenso leicht zu ersteigen ist. Den Gipfel des Niklaskogels (2791m) krönt ein Steinmann, der von Ferne so aussieht, wie ein sitzender Bergsteiger - die Hoffnung auf einen Mitgänger wurde also enttäuscht. Der Zufall wäre auch zu groß gewesen - bei einer derart selten gemachten Tour.

Vom Niklaskogel nun einfach hinunter in die nächste Senke, dann wartet der Grat mit der ersten ernsthaften Einschnürung auf: links senkrecht, rechts Platten, die bei Berührung gern auch mal abplatzen und zu Tal rutschen. Also vorsichtig auf der Kante hinüberbalancieren. Drüben geht es dann auf einem nun wieder einfacheren Block- und Wiesengrat weiter. Das Gelände wird zwar bald rauher, ist aber noch ein Weilchen problemlos zu begehen. Dann gelangt man an eine etwas 20, 30 Meter hohe Felsstufe, die es zu erklettern gilt. Über einige Blöcke auf einen ersten Absatz, dann nach links in steiles Gras und gleich hinauf zu einem steilen Kamin, direkt links neben der Kante. Durch den zwar nassen, aber leicht zu erkletternden Kamin (I-II) hinauf und hinaus - das ist die einfachste Variante.

Dann rückt die Schlüssel- - äh - Spitze der Tour schon bedrohlich nahe. Einen weiteren Gras-/Felszacken habe ich links in steilem Gras umgangen, hier wieder einer der untrüglichen Tierspuren folgend. Ich hätte ihn auch überchreiten können, aber ich war faul. Bissl Kräfte sammeln für das Highlight des Tages.

Kurz vor dem Gipfelaufbau der Schlüsselspitze wandert man einen einfachen Grashang hinunter in die Schlüsselscharte (2591m). Aus dieser geht es dann knapp 200 Hm hinauf zum Gipfel.

Türml - Schlüsselscharte: weglose Gratwanderung, T5 (eine Stelle), sonst leichter, I-II (eine Stelle), einige Ier-Stellen, 1,5h


Eine erste Felsstufe habe ich von links nach rechts oben erstiegen, Vorsicht, hier ist's wirklich verdammt brüchig. Feucht war's zudem. Dann geht's in leichterem Gelände an die Weiße, einen gut sichtbaren weißen Felszacken, heran, der links umgangen wird. Auch in der Folge hält man sich am Besten links, hier führen Tierspuren durch einfaches, von Felssplittern übersätes Gelände. Man gelangt wieder ins Gras und an den nächsten, nun schon höheren Felszacken heran. Diesen erklettert man am besten wieder über die linke Seite. Es folgt ein letztes Mal Gehgelände, dann wird bis zum Gipfel geklettert. Man hält sich dabei am besten immer in der Nähe der Gratkante. Ein Ausweichen in die linke Flanke (die Nordostflanke) ist zwar immer möglich, und an einem Steilaufschwung, der auch von der Hütte aus schon zu sehen ist, auch unumgänglich, die Flanke ist jedoch schattig, kalt, und daher vermutlich meist nass - sie war es jedenfalls bei meiner Begehung. Dennoch ist sie verlockend, man könnte in diesem Gelände sogar hinüber zu dem zackenbewehrten Ostgrat queren, der ebenfalls gut begehbar zu sein scheint.

Nur einen Monat nach mir ist Reinhard Unterwurzacher durch die Ostflanke und über den Ostgrat auf die Schlüsselspitze gestiegen. Die Tour ist hier dokumentiert.

In meist okayem Fels stieg ich nun, mal auf der Kante, mal knapp links davon, hinauf und gelangte schnell hinaus auf den Gipfelgrat. Der ist zunächst gut begehbar, dann stellt sich einem ein letzter Zacken entgegen, dessen direkte Kante wohl eine IV wäre. Ich bin's links umgangen, und in einer äußerst steilen Grasrinne auf guten, aber weit auseinanderliegenden Tritten wieder auf den Grat hinaufgeklettert. Für diese Stelle ist ein Pickel kein Luxus!

Auf dem Grat wird ein letztes Podest erklettert, dann steht man auf dem - schmalen - Gipfel der Schlüsselspitze (2778m).

Schlüsselscharte - Schlüsselspitze: weglos, T6/II, 1h


Die Schlüsselspitze, obwohl kein 3000er, ist ob ihrer Position ein hervorragender Aussichtberg. Ich genoss die Sicht auf den zweiten Teil der Alpenkönigroute auf der einen Seite, auf die Sajatkrone und die Tulpspitze auf der anderen, und natürlich auf den Großvenediger. Nach Süden blickte ich genau auf die Kante des markanten Lasörling-Nordgrats, der mir noch bevorstand, dahinter der lange Grat der östlichen Lasörlinggruppe. Dann trug ich mich im Gipfelnotizbüchl ein, das ich ein wenig abseits des winzigen Kreuzes in einer Tupperdose unter einem Steinhäuflein fand. Und tatsächlich: Der Berg wird kaum je bestiegen, geschweige denn überschritten. Ein Eintrag 2013, dann wieder 2015, 2017 und einige mehr 2018. Das nennt man dann wohl eine exklusive Tour.

Warum das so ist, sollte ich beim Abstieg erfahren. Der ist nämlich schwieriger als der Aufstieg. Zumindest wartet er mit der eigentlichen Schlüsselstelle auf. Und die ist richtig haarig.


Zunächst aber geht es auf einem anfangs noch vergleichsweise zahmen, wenn auch stellenweise recht schmalen Grasgrat hinunter. Dieser neigt sich bald stärker, erste Felsstufen (I) sind schnell abgeklettert, dazwischen finden sich wieder gute Tierspuren. Von westlich zu umgehenden Türmen (AVF: „am S-Grat (steil, brüchig), einige Türme westl. umgehend, zum Gipfel“ -) kann hier allerdings keine Rede sein - zu umgehen ist hier gar nichts, man bleibt ganz konsequent auf der schmalen Kante.

Dann wechselt das Gestein, und man steht bald an einer steilen Kante, die aus jenem brüchig-sandig-breiig-schieferigen Material besteht, das ich eingangs erwähnt hatte. Es ist das gleiche Zeug, das sich auch drüben an der Sajatkrone findet. Allerdings läuft man dort oben rüber, hier muss man abklettern. Und das geht seeeeehr langsam und seeeeehr vorsichtig. Wenn hier was passiert....

Pickel mitnehmen. Oder Steigeisen. Der weiche, unzuverlässige Fels ist mit Eisen sicherlich weniger abschreckend.

Irgendwann steht man dann endlich im Gras, und von nun an wird's deutlich einfacher. Zunächst wandert  man auf der Mel über den Göriacher Almkopf (2434m) hinunter in eine schöne, lärchenbestandene Senke vor dem Finsterwitzkopf. Auf diesen steigt man dann, immer noch weglos, aber auf guten Tierspuren etwas rechts einer senkrechten Abbruchkante in steilem Gras hinauf. Dann hat man's geschafft: Auf dem Finsterwitzkopf (2254m) beginnt ein Weglein - und damit die Zivilisation.

Schlüsselspitze - Finsterwitzkopf: wegloser Gratabstieg, an der Schlüsselstelle T6/II, darüber T4/I, darunter T2, am Finsterwitzkopf nochmal T4, 1:20


Hier traf ich dann den ersten Menschen des Tages. Eine fitte alte Dame aus dem Tal. Wir unterhielten uns ein Weilchen, und es stellte sich heraus, dass sie jedes Jahr hier heraufkommt, allerdings noch nie auf der Schlüsselspitze war. Sie habe es auch nicht vor... Dann schimpfte sie über den Wegzustand, und tatsächlich sollte sich bald herausstellen, dass der Weg nicht mehr in bester Verfassung ist. Kein Wunder, ist er doch nur eine Stichroute auf den schönen, aber unbedeutenden Finsterwitzkopf, und daher sicherlich kaum begangen. Schließlich bot sie mir noch an, mich mit ihrem Auto, das am Groderhof stand, mit ins Tal zu nehmen. Doch das lehnte ich dankend ab, ich fühlte mich noch ziemlich fit, und glaubte nicht, das Angebot in Anspruch nehmen zu müssen. Na, sagte sie, ich könne es mir ja noch überlegen, sie würde in ein paar Minuten aufbrechen, und mich sicher einholen.

Einholen? Ich denke nicht....!


Ich machte mich dann auf den Weg, oder besser, das Weglein, das tatsächlich an ein, zwei Stellen kaum noch vorhanden ist, und stieg Gupf für Gupf hinunter. Zunächst noch ein wenig im Gras, zehn Minuten später wandert man dann im Wald - zum Glück um die meisten Gupfe herum, und nicht oben drüber. Ging es doch mal kurz bergan merkte ich: Das Gefühl, noch fit zu sein, trog. Die Schlüsselspitze und der steile Abstieg hatten mich doch ziemlich Kraft gekostet. Zudem wurde es mit jedem Meter bergab wärmer...

Die alte Dame dagegen hatte keine Probleme, und mich bald eingeholt! In dem verwunschenen Wald mit seinen verfallenen Stadln hatte ich sie nicht gesehen, aber kurz oberhalb des Groderhofs hatte sie mich. Na, was hatte ich mir auch gedacht!

Und natürlich bin ich mit ihr ins Tal gefahren. Seeeehr dankbar. Völlig am Ende war ich! Sogar einen Pausentag hab' ich eingelegt... Zum Glück gab's noch ein Zimmer im Islitzer. Tja, da kann man mal wieder sehen: Alter schützt vor Fitness nicht. So will ich auch werden!

Finsterwitzkopf - Groderhof: markierter Wanderweg, T2, 1h


Fazit:

Grandiose Gratüberschreitung im hintersten Virgental, mit sämtlichen Features, die zu einem wilden Ritt dazugehören: Schmale Grate, steiles Gras, Felskletterei, lange weglose Passagen, einsame Gipfel, großartige Aussichten, und zugewachsene Wegruinen. Für Leute, die sowas mögen, ein echtes Schmankerl.

In der Literatur (und auch im Netz) wird gern der Südgrat als Normalweg angegeben. Von dessen Begehung rate ich ab.



Ausrüstung:

Helm ist Pflicht, ich bin's mit Stecken gegangen, ein Pickel, oder gar Steigeisen im Abstieg sind kein Luxus. Wer sich überdies n C-Klettersteigen sichern möchte, nimmt die Klettersteigausrüstung mit. Man kann das Türml aber auch umgehen.

Tourengänger: Nik Brückner


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