Jägerpfad vom Val Cramosino ins Val Nedro (Leventina): Über die Bassa di Partüs
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Val Cramosino, Val Fouda und Val Nedro gehören zu den wildesten Tälern im Tessin. Wie gross ist der Kontrast zum hektischen Haupttal, der Leventina, mit der A2, Baustelle der Alptransitlinie in Bodio und seinerzeit den Fornowerken! In diesen Hängetälern, etliche hundert Metern darüber, befinden sich sehr schwer zu findende Wege, grösstenteils nicht markiert. Zuoberst ragen majestätische Berge in den Himmel – rund 2400m über dem Talgrund. Wenn Du einmal Deinen Fuss in diese Wildnis gesetzt hast, kommst Du nicht mehr davon los. Du erkrankst am unheilbaren Tessin-Virus. Ich wurde vor 45 Jahren infisziert.
Zu Füssen des Pizzo Cramosino (bekannt von der Via Alta Verzasca), zwischen den allerobersten Talkesseln des Val Cramosino, respektive Val Nedro formt der ENE-Grat des 300m höheren gelegenen Pizzo Cramosino den Einschnitt der Bassa di Partüs, um zur Cima di Partüs und schliesslich dem Fopp sich fortzusetzen, bevor er steil in die Leventina abstürzt.
Ich plane drei Tage und zwei Übernachtungen. Rucksack 15 kg. Doch es kommt anders: Gewaltstour am Limit meiner Kräfte.
Aufstieg zur Afata-Hütte über Faidal 912m und Pozzöu nach Cagnago. Ohne LK ist der Weg ab Faidal rundweg unauffindbar. Schön, wenn man sich zu den Wenigen zählen darf, die diesen Weg kennen. Dazu gehören vor allem die Jäger und Hausbesitzer, sowie die Waldarbeiter. Letztere haben es tatsächlich fertig gebracht, den Weg unterhalb Pozzöu mit Restholz bis zur Unkenntlichkeit zuzudecken (Umgehung über Pozzöu empfehlenswert). Den Rest besorgen die im letzten Winter niedergedrückten Bäume. Dschungel pur! Endlich erreiche ich das Val Cramosino.(Nachtrag: Der Weg ist Ende August geräumt worden. Mitteilung eines Locals)
Ein Lichtpunkt und absolutes Highlight: Ein Haus in Cagnago 1210m ist ein Juwel! Ein Bubentraum wurde fünfzig Jahre später mit eigener Kraft und bemerkenswertem architektonischen Feingefühl erfüllt. Ich staune über die Lichtführung und die vielen handwerklichen Finessen. Complimenti e grazie per l’ospitalità!
Der Weg zur Capanna d’Alpe d’Afata 1669m beginnt unscheinbar hinter den Ruinen bei Pt.1205. Als bescheidener Beitrag für die Erhaltung und vor etwa 5 Jahren Wiedererstellung des Zustiegs räume ich das Fallholz, soweit möglich, weg. Zeitraubend. Aber was soll’s. Zeit ist ein relativer Begriff. Da und dort setze ich noch ein Steinmännchen. Vor allem im hohen Gras könnte mit einem Blick auf die LK ein seitliches Abkommen verhindert werden. Grüss Gott geliebte und komfortable Hütte. Nachtessen.
In leiser Vorahnung erwache ich früh. Als Erstes kippt der Kaffee-Filter und die Brühe giesst auf Kleider und Boden. Der Tag beginnt einladend. Putzen. Nochmals Putzen. Nach einer halben Stunde schlürfe ich den Ersatz und mampfe das Müesli mit echter UHT-Milch. Bei Tagesanbruch ziehe ich auf mir bekanntem Weg los und erreiche beim ersten Sonnenstrahl die Cascine d’Afata 1893m. Plauderstunde mit dem versierten Jäger, welcher jede Ecke – und auch der Weg nach Aüt – aus dem effeff kennt. Ratschläge. Grazie per il caffé!
Dann nehme ich den Alpweg nach Bosco d’Aüt 1873m unter die Füsse, respektive Hände. Die Schnittspuren meiner Bemühungen im letzten Jahr sind wohltuend sichtbar. Dennoch ist das ständige Auf und Ab und vor allem die üppige Vegetation Kräfte verschleissend. Der Anstieg nach Miligorn 2037m beginnt im Wald oberhalb den Ruinen von Aüt, leicht links haltend bei einem zimmergrossen Steinklotz. Markante Steinmänner führen hoch zum Einschnitt des Riale dei Cristalli, laut dem Ortskenner einem Tal ohne Kristalle. Geologen hätten dies bestätigt. Ob der Irrtum in der Überlieferung liegt? Cristalli und Cresta (Grat) liegen doch nahe beieinander? Jedenfalls zieht sich dieser Graben tief eingeschnitten bis hinauf zum Ostgrat des Mezzodi. Eine Route, welche ich letztes Jahr im hikr beschrieben habe. Ich verlasse die Waldzone und quere über Weiden etwas angenehmer beinahe horizontal in den hintersten Talkessel des Val Cramosino. Ein Steinhaufen markiert den Standort der ehemals stolzen Alp. Der Zahn der Zeit nagt: Von Haus zu eingefallenem Haus zu Ruine zu Steinhaufen. Unter einem riesigen Felsvorsprung hat ein Nebengebäude überlebt. Blökende Schafe drängen sich panisch ins Freie.
Unbeschreiblich das Gefühl, unter der dreihundert Meter hohen Felswand dem Weg Richtung Bassa di Partüs 2411m zu folgen und ein Genuss der Tiefblick ins tiefeingeschnittene Tal und dahinter die Kette des Matro, darüber das Adula-Massiv. Zwei Aufstiege zur Bassa stehen zur Verfügung: Der Ostwand des Cramosino entlang (rechts herum) in Direttissima hinauf oder links herum im Zick-Zack durch die Felshöcker, Grasbänder, Geröllhalden und Blockfelder. Meinem Können entsprechend wähle ich letztere und benutze den horizontalen Weg nach Alpe Fopp bis zum ersten grossen Geröllfeld. Unterhalb der Felsabschüsse des ersten Querriegels steige ich links herum und wähle das zweitletzte Geröllfeld (von hinten her gezählt). Mithilfe von wenigen Wegfragmenten und umgefallene Steinmännchen pirsche ich mich von Terrasse zu Terrasse, der Logik folgend. (Siehe ungefährer Routenverlauf), um schliesslich unterhalb der Cramosina-Wand in die direkte Variante einzumünden. Schliesslich erreiche ich von rechts nach links in leichter Kletterei (I) den gut sichtbaren Einschnitt der Bassa, mit einem Steinmann markiert.
Erhabenes Gefühl und Glückseligkeit. Imposant türmt sich 300m der Pizzo Cramosina mit seinem Ostgrat vor mir auf. Tiefblick in die V-Täler Nedro und Cramosino. Darüber Weitblick auf Medels und Adula. Unbeschreiblich die Aneinanderreihung von unzähligen und dennoch bekannten Gipfeln zwischen Erde und Himmel. Der eine flach, der andere spitzig, verbunden mit glatten und zerrissenen Graten. Stilles Spektakel. Wie im Traum.
Jäh werde ich aus der Träumerei gerissen. Zirren deuten Schlechtwetter an. Ein SMS von meiner Gemahlin macht mich noch ganz skeptisch: Wetterwechsel. Morgen ist S..wetter. Mein Plan, im Val Marcri zu übernachten, zerschlägt sich. Es gibt nur die eine Lösung: Abstieg. Schnell gesagt, aber dies bedeutet 2100 Höhenmeter Abstieg. „Das Knie, das liebe Vieh…“! Bei diesen Wegverhältnissen.
Vorerst führt der Abstieg 50 hm durch grosse Steinbänder unproblematisch leicht rechts haltend auf die darunterliegenden Gras- und Geröllbändern hinunter. Noch vor der Ebene des oberen Talkessels steige ich links haltend hinunter auf einem recht gut sichtbaren Weglein direkt nach Partüs 2194m. Die Hütte ist am Einstürzen. Schade. Vor zehn Jahren hätte man sie sicher noch retten können. Zu abgelegen. Begreiflich. Leicht links haltend findet sich vorerst vage, später ausgeprägt, der Weiterweg entlang einer Runse (nicht wie auf der LK!).
So erreiche ich Alpe di Nedro 1871m. Offene Jägerhütte. Alles, aber auch wirklich Alles, in Stahlkästen einbruchsicher verschlossen. Leute wie Du und ich unwillkommen. Die neue Wasserleitung führt KEIN WASSER! Und trotzdem stehen den notbedürftigen Berggängern vier Liegen mit Matratze und Schlafsack zu Verfügung. Lufthütte mit riesigen Löchern im Mauerwerk. Wenig Holz.
Nicht leicht zu finden ist der Einstieg zum Talweg: Er ist 100 m horizontal nach links bei einer Lärche zu suchen. Ein typischer, alter Alpweg! Unglaublich geschickt angelegt und gut unterhalten führt er vorerst ohne grossen Höhenverlust Richtung Pescim. Ohne diese zu besuchen, steige ich steil hinunter zum Fluss. Riesige Anstrengungen wurden unternommen, das Lawinenholz zu beseitigen. Grazie mille ai cacciatori ed forestieri per questo immenso e duro lavoro!!! Durch eine seitliche Schlucht (stinkt nach Aas) erreiche ich durch hohes Gras den Hauptfluss, welcher tosend in diesen mittleren Talkessel hinunterstürzt. Dort muss ich auf der andern Seite den Weg suchen und finde ihn nur etwa 10m über dem Fluss. Ruppig – durch das hohe Gras sind die Steine nicht zu erkennen – geht’s runter….runter…runter. Der Weg wird immer besser. In Gher 1448m, dem dritten Talkessel erscheint unerwartet eine sehr gepflegte Ebene. Lawinenverbauung aus Trockensteinmauern riesigen Ausmasses.
Ich hüpfe zum nächsten Talkessel. Dragoi 1128m .Oder gleicht das Hüpfen eher dem Hinken? Die Hütten dieser einst stolzen Alp sind Ruinen. Ich auch. Ich bin schon mehr als zwölf Stunden unterwegs.
Wie glücklich bin ich, als mich eine Tessiner Familie in Faidal 912m zu Kaffee (à discrétion), Brot, Käse und Salam einlädt. Die Zeit vergeht beim Austauschen von Geschichten aus dem Tal. Zwei aus der Nachbarschaft setzen sich ebenfalls dazu. Dann der Sohn und das Grosskind. Einfach goldig! Ich vergesse meine schmerzenden Füsse endgültig beim Limoncino.
Arrividerci e mille grazie. A presto con miele. Promesso. Siguro. La festa a Faidal sara al 14 agosto. Non dimenticare. Ciao! Ciao!
Im Schein der Stirnlampe steige ich die letzten Höhenmeter hinunter zum Parkplatz. Lichthungrige gelbe Schmetterlinge flattern vor meinem Gesicht herum. Wie tanzende Elfen! Es ist wie im Märchen. Diese Erinnerungen sind unauslöschlich.
Tourengänger:
Seeger

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