Val Cramosino: Verwilderter alter Alpweg nach Alpe d‘ Aüt


Publiziert von Seeger , 21. Juni 2009 um 01:10.

Region: Welt » Schweiz » Tessin » Bellinzonese
Tour Datum:19 Juni 2009
Wandern Schwierigkeit: T3+ - anspruchsvolles Bergwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: Gruppo Madöm Gross   CH-TI 
Zeitbedarf: 2 Tage
Aufstieg: 1750 m
Abstieg: 1750 m
Strecke:Grumo 813m - Capanna d’Afata 1669m - Filo d’Afata Pt 1968.1 - Alpe d’Aüt 1873m - Pian Tigiasc 1580m - Cagnago 1210m – Abzweigung Pt. 1205m - Capanna d’Afata 1669m - Grumo 813m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Anfahrt: Ö.V: Postautolinie von Faido-Lavorgo-Chironico-Grumo Auto: Abzweigung auf der A2 in Faido - wenige km gegen Biasca (ehemalige Gotthardstrasse) – Abzweigung rechts nach Chironico – Grumo.
Zufahrt zum Ankunftspunkt:dito
Unterkunftmöglichkeiten:Capanna d’Alpe d’Afata http://www.alternatives-wandern.ch/popup/tessin_hut/afata.htm
Kartennummer:1273 Biasca

Magisches Zauberwort für Liebhaber allerwildester Alpwege: Cascine d’Afata, 1893m - Alpe d’Aüt, 1873m, dessen Verbindungsweg auf der ersten LK 1:25000 noch durchgehend eingetragen ist. Beide Alpen liegen beinahe auf gleicher Höhe und nur 1 km voneinander entfernt. Aber dazwischen liegen Welten……
Es war einmal: Hanspeter erzählte mir vor ein paar Jahren beim zufällig gleichzeitigen Aufenthalt in der Capanna Alpe Spluga von einem Alpweg im Val Cramosino, den er im zweiten Anlauf finden wolle. Mit kleiner Bogensäge und Baumschere habe er sich durch die Erlen nach Aüt durchgekämpft, schreibt er in seinem Bericht, welcher in der Hütte der Alpe d’Afata zu lesen ist. Gratuliere! Er hat es geschafft. Und dazu eine Äskulapnatter gesichtet.
Und jetzt bin ich an der Reihe: Ausgerüstet mit 60cm langer Bogensäge und einer Baumschere, älteste und neuste Landeskarte 1:25000, Kompass, justierter Höhenmesser und genügend Essen, im Falle dass…..
Aufbruch vor Tagesanbruch, eher wegen „Lampenfieber“. Mithilfe der Stirnlampe steige ich zweihundert Höhenmeter entlang dem mir bekannten Weg in den oberen Talkessel des Val Fouda d.h.:  gegen die Cascine d’Afata, 1893m, hinauf. Der Tag erwacht. Vierhundert Meter vor dieser Hütte verlasse ich den Weg und erklimme links hoch den gut sichtbaren horizontalen Verbindungsweg von den Cascine d’Afata zum Pt. 1968.1, Filo d’Afata.
Dort wo der Weg den Grasrücken des Filo d’Afata erreicht und einen faszinierenden Tiefblick ins Val Cramosino freigibt, zweigt ein gut sichtbares Weglein über einen Rücken nach Süden ab (rechts steil hinauf); später rechts eines Grates auf das Plateau hinauf. Auf gleicher Höhe schaut der liebliche Grasrücken des Filo d’Afata herüber.
Nun führt der Weg in die steile Flanke (45°!) des Val Cramosino. Kurz später erkenne ich die Bemühungen von Hanspeter, den frohwüchsigen Erlen Einhalt zu gebieten. Und schon bin ich mittendrin: Die Baumschere im Etui angeschnallt, die Säge griffbereit, führt es von Engpass zu Engpass. Überall versperrt totes und „allzu lebendiges“ Holz den Weg und erfordert heikle Ausweichmanöver, sei es tal- oder hangseits. Oder man sägt und schnipselt sich da und dort hindurch, zeitraubend und dennoch von einer Faszination, welche in Worte nicht zu fassen ist. Selbst als Regen einsetzt, bin ich von „meiner Mission“ nicht abzubringen!
Ohne Karte und Höhenmesser ist hier kein Durchkommen. Man bewegt sich zwischen 1980m und 2000m Höhe unterhalb von Felswänden. Die schwer zu schätzende Distanz bringt einem immer wieder in Versuchung abzusteigen. Dazu folgender Hinweis: Die Alpe d’Aüt ist unterhalb eines gut von weither sichtbaren Felsgrates, welcher vom Poncione Piatégn herunterkommt. Dieser, leicht vorgeschoben, ist ein sicherer Referenzpunkt. Die zweite Auffanglinie ist der Graben des Ri dei Cristalli. Hat man diesen erreicht, ist man sicher jenseits der Alp.
Da geht’s wieder in einen Bachgraben hinein, dann quert man weglos Grashalden und findet von Zeit zu Zeit Wegzeichen: Oranger Strich, Steinmännchen, abgesägte Erlen, krumm- und blankgetretene Wachholder- und Alpenrosensträucher. Und das stundenlang. Mit Irrwegen – versteht sich.
Dass Gemsen so erschrecken können! Wir sind im gleichen Graben. Sie oben, ich unten. Nur fünf Meter entfernt. Sie: ein heiserer Pfiff – ich: Puls auf 100. Aug in Auge. „Ich tu dir nichts“. Und schwupp – weg war sie. Offensichtlich spricht sie Tessinerdialekt. Oder hat sie noch nie einen Berggänger mit Säge und Baumschere gesehen? Eigenartig. Das wird wohl der Grund sein.
Nach dem dritten Anlauf, zu früh nach unten zu stechen (…und immer wieder hinauf zu steigen) wird es mir zu bunt. Dann bleibe ich halt auf der Höhe. Basta. Und siehe da: Plötzlich quere ich den sehr gut sichtbaren Trampelweg nach Piano della Chiesa, das heisst hinauf zum Pizzo Mezzogiorno, 2708m, oder nach Miligòrn, 2037m und Bassa di Partüs. Diesem talwärts folgend treffe ich direkt auf die Alpe d’Aüt – oder genauer, was davon übriggeblieben ist.
Die Ruinen der Hütte stehen inmitten von Sauerampferfeldern und fettem, hochwertigem Gras. Rundherum der riesige Talkessel des oberen Val Cramosino, überragt von den fünfhundert Metern hohen abweisenden Felswänden des Pizzo Cramosino, 2718m, Madom Gröss, 2741m, und ganz rechts dem halbverdeckten Pizzo Mezzodi, 2708m. Alles Berge, welche beim schwierigsten Abschnitt der „Via alta Verzasca“ überschritten werden. Vor zwei Jahren war ich oben – jetzt bin ich unten. Beide Optiken lösen tiefe Emotionen aus.
Der Abstieg von Alpe d’Aüt, 1873m, über Pian Tigiasc, 1580m, nach Cagnago, 1210m, ist einfach und gut zu finden, da der Weg viel begangen ist. Es sei denn, ein acht Meter dicker Lawinenkegel mache einem das Leben sauer. Adrenalinschub auf sicher! Pickel vergessen. Zum Glück kann ich weiter unten etwas flacher traversieren. Der harte Schnee fordert Geduld. Auf die Stöcke abgestützt überwinde ich auch dieses Hindernis.
Neu erstellte Hütten zeugen vom Interesse an alter Alpkultur, zu welcher sich, boomartig entwickelt seit den 90-Jahren, Tessiner hingezogen fühlen. Sogar Schafe werden gehalten und damit die Überwucherung gestoppt. Speziell Cagnago macht riesige Fortschritte. Die Zeit drängt. Denn vielen Ruinen droht der endgültige Zerfall.
100m nach Cagnago übersteige ich die Trümmer eines Lawinenniedergangs. Viele Tannen, Lärchen und Buchen liegen übereinander gestapelt und stauen den Bach. Dann weiter zu Pt. 1205. Direkt bei der Hütte links des Weges und oberhalb um diese herum beginnt der nicht leicht zu findende Anfang des in den letzten Jahren geräumten Weges nach Alpe d’Afata. Ich verpasse nur zwei Mal die Kehren. Immer wenn ich müde bin, übersehe ich Wegzeichen. Ja nu. Mit viel Geduld und unter Aufforderung von Reserven erreiche ich die 500 Höhenmeter auf dem fantastisch angelegten Weg oberhalb und unterhalb Felswänden, durch Felsriegel, über Steintreppen und durch einen gesicherten Bachgraben (Seil defekt). Auf 1700m erreiche ich das Plateau. Auf diesem geht’s kurz entlang eines abschüssigen Bandes zur Hütte. Vor 12 Stunden bin ich hier aufgebrochen.
Uff – ich habs geschafft. Und bin geschafft! Aber überglücklich.
Zehn Stunden Tiefschlaf.
Heimreise.
 
 
 

Tourengänger: Seeger
Communities: Ticino Selvaggio


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Kommentare (2)


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Henrik hat gesagt: Beinahe jeden Meter
Gesendet am 22. Juni 2009 um 22:52
bin ich dir auf www.ivs-gis.ch gefolgt! Und fühlte fast die Tropfen auf der Stirn...

Grossartig....so langsam wird der Staub der Zeit durch hikrs wie du, Omega3, Zaza, Frank etc. von den unzähligen Pfaden gelöst und offenbart die Transhumanza!


silbrquäki

Seeger hat gesagt: RE:Beinahe jeden Meter
Gesendet am 22. Juni 2009 um 23:34
Ciao Henrik
Der Vergleich mit dem Staub der Zeit ist zutreffend. Du kommst Dir wie ein Archäologe, ein Zeitreisender, ein Forscher vor. Wieviele Aha, ja natürlich, logisch, darauf wäre ich nie gekommen, sind mir durch den Kopf gegangen! Und trotz allem Pionierhaften begleiten einem die Mühsal und Gefahren der Älpler auf Schritt und Tritt. Je länger, je mehr denke ich an die Worte von Giuseppe Brenna, Plinio Martini, Aldo Cattaneo.
Du siehst, dass es die neue Generation ist, welche dieses Kulturgut weiter erforschen und auf ihre Art weitertragen. Ich habe keine Sorge, dass es Massen von Leuten anzieht: Es ist zu mühsam. Mühsam wie einst, wo die Alpen in den 1950ern aufgegeben wurden.
Danke für Dein Interesse.
Dein
Andreas


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