Die zerzauste Henne: Pizzo Gallina


Publiziert von Bergmax , 27. August 2022 um 21:06.

Region: Welt » Schweiz » Wallis » Oberwallis
Tour Datum:21 August 2022
Wandern Schwierigkeit: T6- - schwieriges Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: WS
Klettern Schwierigkeit: II (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-TI   CH-VS   Gruppo Pizzo Gallina   Gruppo Grieshorn 
Zeitbedarf: 5:45
Aufstieg: 900 m
Abstieg: 900 m
Strecke:Nufenenpass - Chilchhorn - Mittaglücke (von Süden) - Pizzo Gallina - Abstieg durch die westlichste Steilrinne der Südostflanke - "Bollwerk" P. 2836 - Nufenenpass
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Auto zum Nufenenpass. Für eine Passstraße in dieser Höhe sehr gut zu fahren. Reichlich kostenlose Parkplätze.
Kartennummer:map.geo.admin.ch

Schutt, Sand, Steilrinnen, spannende Tour...

Warum dieser felsige Gipfel hoch über dem Nufenenpass nach einer Henne ("Gallina") benannt ist, weiß nicht wirklich. Aber eines ist klar - diese Henne ist mächtig zerzaust durch eine Unzahl von Graten, Rippen, Zacken und Schluchten. Entsprechend viele dokumentierte Routen gibt es, alle in vergleichbarer Schwierigkeit. Ich kann mich nicht entscheiden und beschließe, die endgültige Routenwahl erst vor Ort zu treffen - ein heikles Spielchen!

Am Nufenenpass (2478 m) starte ich quasi im Blindflug, weil Nebel über den Pass wabert. Macht nichts, denn der erste Aufstieg zum Chilchhorn hat relativ deutliche, wenn auch nicht markierte Wegspuren. Dort, wo das Gras aufhört und das Gelände aufsteilt, hält man sich links (westlich) vom Grat. Hat man den Pfad erstmal gefunden, kann man ihn nicht mehr verfehlen. In Serpentinen geht es erstaunlich bequem in der doch recht steilen Westflanke aufwärts (knapp T3) und sehr bald ist die Grathöhe erreicht. Endlich hat sich der Nebel aufgelöst und natürlich kann ich dem kecken Felszahn des Chilchhorn-Südgipfels nicht widerstehen. Eine originelle Kraxelstelle ist mit einer Holzbohle entschärft, darüber geht es leicht ausgesetzt (T3+, I) zur Schweizer Fahne (2783 m). Für eine Kurztour ist dieses Gipfelchen ausgesprochen empfehlenswert!

Nach dem Abstecher bleibe ich am Grat, um auch dem Nordgipfel des Chilchhorns (2788 m) einen Besuch abzustatten. Dort gibt es aber nichts Besonderes zu entdecken (Blöcke, T3). Norseitig kraxele ich wenige Höhenmeter über großes Blockwerk zu den Wegspuren, welche effizient in die nächste Gratscharte führen und danach P. 2759 westlich umgehen. Etwas nördlich von diesem Punkt beginnt ein Blockfeld, wo die Wegspuren abrupt aufhören. Hier muss ich mich entscheiden, wie ich zum Gallina aufsteigen möchte:

a) über den Südgrat mit dem Bollwerk P. 2836,
b) durch eine der beiden Steilrinnen östlich davon,
c) über die Mittaglücke westlich des Gipfels,
d) via Ostgrat, der sich durch eine Rinne westlich von P. 2843 erreichen ließe
oder e) via Mittaghorn, dessen Südgrat an geeigneter Stelle zu erreichen wäre.

Ich entscheide mich etwas unkonventionell für c), erstens, weil ich den Tourenvorschlag in einen etwas älteren Buch interessant finde und zweitens notfalls noch via Mittaghorn "auskneifen" könnte, falls der fragliche Schlussaufstieg zur Mittaglücke unmöglich sein werde.

Also wandere ich relativ flach in das Kar zwischen Mittaghorn und Gallina hinein. Wegspuren gibt es keine, aber das Gelände ist anfangs relativ bequem zu begehen. Im hinteren Teil des Kares angelangt sehe ich zwei mögliche Aufstiege zum Westgrat vom Pizzo Gallina - eine "weiße Wand" mit Rinnen und Rippen sowie eine sandige Rinne weiter westlich. Ich möchte mir zuerst die "weiße Wand" anschauen. Auf den letzten (knapp) 100 Höhenmetern dorthin wird das Geröll plötzlich sehr unangenehm lose, obwohl die Steilheit erträglich ist. Beim Näherkommen stelle ich außerdem fest, dass sich die "weiße Wand" nicht "auflöst". Im Gegenteil gewinne ich den Eindruck, dass ohne ernsthafte Kletterei kein Aufstieg möglich sei.

Also breche ich den Aufstieg ab und quere weiter nach Nordwesten auf die Rinne zu. Ich benutze dabei öfters das nackte, sandige Gelände unter der Felswand anstatt der losen Blöcke, was ganz gut geht. Das macht mir neuen Mut.

Am unteren Ende der angepeilten Rinne angelangt, stelle ich fest, dass es eigentlich zwei Rinnen sind. Eine geht schräg nach links und eine schräg nach rechts. Diese ist ausgeprägter, war aber vorher von den Felsen verdeckt. Weil die linke Rinne plattige Felsstellen zu haben scheint, probiere ich es mit der anderen. Sieht nicht angenehm, aber auch gar nicht so gefürchtig aus.
Als ich merke, worauf ich mich da eingelassen habe, ist es für eine Umkehr schon zu spät. Eigentlich wühle ich mich eine "senkrechte" Sandreisse hinauf, die nicht einen einzigen zuverlässigen Griff oder Tritt bietet. Shit! 
Nach vielleicht 30 Höhenmetern wird es flacher. Durchatmen. Jetzt steht der Weg zum Grat offen (rede ich ein). Tatsächlich kommen noch zwei sehr üble Stellen, die ich teilweise rechtsrum über extrem miese Felsen umgehe.
Dies ist das allererste Mal, dass ich ein T6 vergebe. Falls es unbedingt jemand nachmachen möchte, um die Bewertung zu verifizieren, könnte ein Pickel helfen. Besser sein lassen!

Endlich am Grat angekommen fühle ich mich ziemlich erleichtert. Fast schon kommt etwas Vorfreude auf die Blockkletterei auf. Vielleicht taugt sogar der Fels einigermaßen...?
Diese Hoffnung wird bald enttäuscht. Die Henne "lebt" unter meinen Füßen. Es gipfelt darin, dass ich meine Hand auf eine zentnerschwere Felsplatte lege. Augenblicklich fängt sie an zu rutschen (die darunterliegende Platte auch gleich noch mitnehmend). Ich springe zur Seite und sehe den beiden Brocken nach, welche sich polternd in die Nordflanke verabschieden. Aber ich gebe nicht auf. Hier kann ich sowieso nicht bleiben. Einen markanten Gratzacken umgehe ich nördlich, was auch keinen Spaß macht, aber dann stehe ich endlich am Fuß des Gipfelaufbaus. Zügig geht es über erträgliches Geröll hoch zum Vorgipfel und danach - fast schon majestätisch - über den Blockgrat zum höchsten Punkt der Henne (3060 m, wenn inzwischen nicht was abgebrochen sein sollte...).

Das Gipfelplateau ist geräumig genug für eine gemütliche Pause. Erstaunlich, wie wild und einsam sich die Alpen selbst noch in Sicht- und Hörweite einer Passstraße geben...

Ein möglicher Abstieg wäre die Überschreitung des Mittaghorns. Da der Grat aber nicht so richtig mein Vertrauen gewonnen hat und es auch keinen Plan B gibt (die Rinne unter der Mittaglücke schließe ich für den Abstieg aus), lasse ich das. Etwas üblicher scheint der Ostgrat zu sein. Also los! Einigermaßen gemütlich kraxele ich in die Scharte zwischen Haupt- und Vorgipfel hinunter. Der Vorgipfel sieht grimmig aus. Aha - südlich gibt es einen Steinmann! Fast dort angelangt komme ich mit verarscht vor. Es ist kein Steinmann, sondern eine kleine Felsflamme in einer Scharte, in der es nicht weiter geht. Wer denkt sich so etwas Gemeines aus?!. Also wieder zurück. Das Überklettern oder auch das nordseitige Umgehen wäre notfalls möglich. Aber mich wurmt die penetrante, zeit- und kraftraubende Wegsuche. Gibt es keine Alternative?

Doch, die gibt es - nämlich die Steilrinne, welche in der Scharte zwischen Vor- und Hauptgipfel beginnt. Ein skeptische Blick, ein vorsichtiger Test: sollte machbar sein.
Natürlich fühlt sich Genussgelände ganz anders an. So zügig wie möglich, aber trotzdem ganz vorsichtig arbeite ich mich nach unten. Ich versuche, die Rinnenmitte zu meiden (was oft gelingt) und keine  Steinschlag auszulösen (was nicht immer gelingt, aber diese Route gehört heute mir allein...).
Ich verlasse die Steilrinne so, dass ich von oben auf das Bollwerk P. 2836 gelange. Nach der Rinne treffe ich auf Steinmänner, die recht zuverlässig den Weg weisen. Ich bekomme den Eindruck, dass (zur Zeit) der Südgrat die beliebteste Route am Gallina zu sein scheint...?

Eine Gemeinheit hat die Henne noch für mich, nämlich den Abstieg von dem Bollwerk. Dank der Steinmänner ist der Einstieg gut zu finden. Man erkennt ihn von oben kommend auch an zwei direkt nebeneinander stehenden Felsnadeln. Es geht in T5-Gelände auf Gras mit Trittspuren abwärts. Das kann mich heute nicht mehr erschrecken. Zuunterst versperrt eine Felswand den Ausstieg. Dort hängt ein Karabiner zum Abseilen, was mich eher verunsichert. Ich habe kein Seil dabei, also nix mit abseilen. Ohne zu zögern fange ich an zu klettern und nach einer Minute liegt dieses "Problem" hinter mir. Ich habe den Eindruck, dies sei die einzige einigermaßen feste Kletterstelle  an diesem unsymphatischen Gipfel gewesen....

Für den Rückweg zum Nufenenpass nehme ich wieder die Route über die Chilchhörner, wobei ich die Gipfel auslasse. Der Gegenanstieg nervt zwar etwas, aber der gut angelegte Pfad macht dies wieder wett.

Gehzeiten & Schwierigkeiten

Nufenenpass - Chilchhörner: 1 h , T3+ und I am Südgipfel, sonst max. T3
Chilchhörner - Rinne unterhalb der Mittaglücke: 50 min, erst T3, dann T4.
Südrinne zur Mittaglücke: 20 min, T6, gefährlich!
Westgrat zum Pizzo Gallina: 50 min, T5 / I+ (viele lose Blöcke)
Pizzo Gallina - Scharte zw. Hauptgipfel und östlichem Vorgipfel - Rinne zu P. 2836: 45 min, T5 / I+, auch ziemlich gefährlich
P. 2836 - Chilchhörner: 30 min, T5+ / II- (danach T3)
Chilchhörner - Nufenenpass: 30 min, max. T3

Fazit - wer sich auf ein Abenteuer einlässt, soll auch eines bekommen. Tribut: Hände zerkratzt, Knie angeschrammt, Hose aufgerissen, Rucksack beschädigt. Fühlt sich trotzdem irgendwie gut an!

Tourengänger: Bergmax


Minimap
0Km
Klicke um zu zeichnen. Klicke auf den letzten Punkt um das Zeichnen zu beenden

Galerie


In einem neuen Fenster öffnen · Im gleichen Fenster öffnen


Kommentare (3)


Kommentar hinzufügen

Nyn hat gesagt:
Gesendet am 28. August 2022 um 14:31
Schön, dass du erneut heil rauf+runter gekommen bist.
Ich kann mich ob der überwiegend sehr schlechten Felsqualität jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass die recht vielen Besteigungen fast auschließlich durch den nahen Pass bedingt sind.

Bergmax hat gesagt: RE:
Gesendet am 29. August 2022 um 00:37
Danke!

Es mag sein, dass die Henne im Schnee mehr zu bieten hat. Ansonsten kann man die Zeit in den Bergen durchaus angenehmer verbringen.
"Recht viel bestiegen" ist aber auch wieder relativ. Ich habe an einem wirklich schönen Sommertag genau 2 andere Tourengänger getroffen.

Viele Grüße

Max

Nyn hat gesagt: RE: recht viel bestiegen
Gesendet am 29. August 2022 um 08:00
Immerhin 29 Tourenberichte^^


Kommentar hinzufügen»