Les Pointes auf den Punkt gebracht...


Publiziert von lorenzo , 24. Juli 2021 um 21:29.

Region: Welt » Schweiz » Waadt » Waadtländer Alpen
Tour Datum:21 Juli 2021
Wandern Schwierigkeit: T6 - schwieriges Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: WS
Klettern Schwierigkeit: III (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-BE   CH-VD 
Zeitbedarf: 6:30
Aufstieg: 1400 m
Abstieg: 1400 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Parkplatz Chalberhöni (1347m) oder cff logo Saanen (je ca. 45min länger)
Zufahrt zum Ankunftspunkt:dito
Kartennummer:LK 1266 Lenk, 1265 Les Mosses; M. Brandt, Guide des Alpes et Préalpes vaudoises, CAS 1985

"Mi bruucht nid vil" betitelte der Pfarrer, Chronist, Dichter und langjährige Stübli-Kolumnist des Berner "Bunds"Peter Wyss, sein Buch mit Geschichten aus dem Leben der Menschen in seiner Brienzer Heimat. Die fast schon biblische Botschaft passt auch zu jemandem, der zwar nicht aus Brienz stammt, aber umso mehr dafür bekannt ist, stets mit leichtem Gepäck und schnell unterwegs zu sein: den legendären Bergführer und Extremskifahrer Kobi Reichen aus Lauenen. Von ihm kursiert die Anekdote, jeweils beim Rucksackkauf die Verkäuferinnen einschlägiger Bergsportgeschäfte zu schierer Verzweiflung gebracht zu haben, indem er bei jedem gezeigten Modell gemeint habe: "Vil z'gross, vil z'gross, hesch mer nüt chlinders?"  Um schliesslich den Laden mit einem Kinderrucksack zu verlassen, oder sich in einem Gstaader Souvenirkiosk mit einem Moderucksäckli, der dortigen Prominenz zugedacht, einzudecken...Se non e vero - jedenfalls möchte unsereiner auch so wenig brauchen und herumschleppen müssen.

Schon lange hatte ich davon geträumt, die Pointes de Sur Combe hoch über der Combe de Comborsin hin zur Gummfluh überschreiten. Der Grat zwischen E- und W- Gipfel sollte laut Führer "sans difficultés" zu begehen, und auch der Aufstieg von SE zum E-Gipfel sowie der Abstieg vom W-Gipfel nach SW im oberen Alpinwanderbereich möglich sein. Zum unteren und mittleren ENE-Grat über P. 2246 bis zum E-Gipfel, der auf der Routenskizze von Alfred Oberli einen recht gezackten Eindruck macht, fehlen dagegen im Führer nähere Angaben. Und die beschriebenen Anstiege des eingespielten Klettertrios Betty und Ernest Favre sowie Louis-Maurice Henchoz von E über den Sockel zur Epaule ("passage assez lisse de 20m", "1 pas A1") und von N zum E-Gipfel ("débuter à l'aplomb du couloir") schienen mir mit S zu schwer zu sein. Gemäss Routenskizze war es aber villeicht möglich, von S zur Epaule oder zu P. 2246 zu gelangen, wozu wiederum das Kartenbild keine brauchbaren Anhaltspunkte lieferte. So blieb mir nichts anderes übrig, als den Rucksack zu packen, der natürlich für das Seil und die Kletterutensilien - um für alle möglichen Situationen gerüstet zu sein - 
sowie alles übrige eher zu klein als "vil z'gross" war, und selber einen Augenschein an Ort und Stelle vorzunehmen.

Als ich dann am vergangenen Samstag auf Chalberhöni startete, schienen sich nach tagelangen intensiven Regenfällen die Restwolken endlich zu verziehen und einem strahlenden Tag Platz zu machen. Aber wie ich auf dem Gummesel anlangte, von dem ich mir eine erhellende Sicht auf die Pointes erhofft hatte, waren diese bereits von undurchdringlichen Wolkenschwaden, die die Bise an Grate und Gipfel hängte, eingehüllt. In der Hoffnung, dass sich der Hochnebel doch noch lichten würde, stieg ich vom Trittlisattel zur Geröllhalde hinunter und entlang der S-Wand Richtung W hinauf und hielt Ausschau nach Zustiegsmöglichkeiten von S zum Grat. Aber es war zwecklos, der Nebel hielt sich hartnäckig und verschluckte sogar die wenigen Steinböcke, die mich allenfalls in die richtige Richtung hätten weisen können. Ich gab auf, wandelte mehr oder weniger im Blindflug zur Gummfluh und auf der anderen Seite weiter Richtung La Videmanette, wozu ein leichtes Wanderrucksäckli selbstverständlich bei weitem ausgereicht hätte. Für die Pointes müsste ich jedoch bei klarerem Wetter wieder kommen.

Schon vier Tage später war es soweit. Das Wetter war gut, die Sicht klar und - wie sollte es anders sein - der Rucksack gleich schwer. Den Gummesel bestieg ich diesmal direkt über den bewaldeten und von Bergblumen in allen Farben, die mich immer wieder gefangen nahmen, übersäten E-Rücken. Auf dem Gipfel konnte ich dann meine Aufmerksamkeit endlich den diesmal in klarstem Sonnenlicht aufragenden Pointes zuwenden: wie anhand des Routenfotos im Führer vermutet, konnte ich einen Aufstieg von E über die glatten Kalkflühe des Sockels, der zuckerhutartig zur Combe de Comborsin abfällt, sofort ausschliessen. W davon waren aber mögliche Zustiege durch die von Graspartien durchzogene S-Wand zumindest erahnbar. Nach dem Britschespalt hatte ich dann volle Einsicht in die S-Wand, die von zwei breiten Grascouloirs durchzogen wird, durch die ein Aufstieg zur 
Epaule und zu P. 2246 machbar zu sein schien. Die beiden Grataufschwünge darüber sahen jedoch von weitem senkrecht und sogar überhängend aus, so dass wieder Zweifel aufkamen, und ich mit dem Gedanken, mich mit der erwähnten Berggängerroute zum E-Gipfel abzufinden, unschlüssig auf dem eingezeichneten Pfad weiter stieg. Und dafür hast Du wieder den schweren Rucksack mitgenommen? So schalt ich mich innerlich, gab mir einen Ruck, zumindest das obere  Grascouloir zu P. 2246, das zusehends einladender wirkte, zu versuchen, und zog auf ca. 2150m, bereits ca. 50 Hm zu weit oben, die Handbremse.

Ich stieg vorsichtig zur Geröllhalde ab und querte diese ansteigend zum oberen Grascouloir, das sich bis zu der bereits von unten gut sichtbaren Felsrinne problemlos begehen liess. Unter einem überhängenden Klemmblock, der den Ausstieg versperrt, querte ich nach NE auf den Grat, wo ich Helm und Klettergurt anzog. Ein Blick hinab zur 
Epaule liess erahnen, dass auch der Gratabschnitt dazwischen im Bereich des Möglichen zu liegen schien. P. 2246 liess sich zwar ausgesetzt, aber einfach überklettern. Den folgenden  Aufschwung (der 2., siehe unten) umging ich N durch eine Felsrinne und seilte mich zu einer Schrofenrampe ab, die mich von S zum Grat zurückführte. Bei der nächsten Kuppe waren die Schwierigkeiten dann bereits überstanden. Um nur 10m abzuseilen, hatte ich den ganzen Kletterkram mitgeschleppt? Dafür hätte eine 30m Reepschnur längstens ausgereicht, aber im nachhinein ist man ja bekanntlich meistens schlauer...Ich nahm mir vor, auch noch das untere Grascouloir zur Epaule und den unteren ENE-Grat zu versuchen. Aber vorerst bewegte ich mich in genussreichem Alpinwandergelände mit prächtiger Nah- und Fernsicht sowie tollen Tiefblicken über den E- zum W-Gipfel und nach dem Abstieg zum Sattel ca. 2300m über den E-Grat weiter zur Gummfluh, zu der der Mont Blanc, die Waadtländer, Walliser und Berner Alpen herüberwinkten. Der Abstieg über den NE-Grat erforderte wie immer volle Konzentration, bevor mich ein wildes Tälchen unter den mächtigen N-Abstürzen der Pointes hindurch zum Gour de Comborsin führte, wo der Bergweg zurück zum Trittlisattel abzweigt.

Als ich zum zweiten Mal beim Trittlisattel ankam, begann ich das Gewicht des Rucksacks langsam zu spüren. Villeicht müsste ich wenigstens am unteren ENE-Grat eine Länge sichern, so dass Seil doch noch zum Einsatz kam, und ich den ganzen Krempel nicht ganz umsonst spazieren geführt hatte. Insgeheim hoffte ich aber natürlich trotzdem, wieder ohne Sicherung auszukommen. K
urz nach dem Britschespalt querte ich über die Geröllhalde zum unteren Grascouloir, das sich u.a. dank Wildwechseln fast noch leichter ersteigen liess als das obere, und ohne Umwege direkt zur Epaule führte. Ich gönnte mir einen schwindelerregenden Tiefblick zum Plan de Comborsin, grüsste den Gummesel und machte das Klettermaterial bereit. Den folgenden überhängenden Aufschwung (der 1., siehe unten) konnte ich N über eine Felsstufe und eine Schrofenrampe umgehen. Dann ging es in schöner Genusskletterei, die genau so schwer war, dass ich das Seil gerade nicht brauchte, über den unteren ENE bis zu P. 2246. Den 2. Aufschwung umging ich diesmal S über die untere felsige Verlängerung der Schrofenrampe, was sogar beim abschliessenden kurzen Überhang besser ging, als ich befürchtet hatte, und selbstredend wieder ohne Seil, das für diese Tour offensichtlich gar nicht notwendig war. Über L'Etivaz hatten sich inzwischen ein paar harmlose Quellwolken zusammengezogen, die mich aber nicht mehr ins Bockshorn zu jagen vermochten, als ich, etwas langsamer als beim ersten Mal, nochmals über die oberen beiden Pointes und weiter zur Gummfluh schritt. Nach einer zweiten erholsamen Gipfelrast und dem nochmaligen konzentrierten Abstieg warteten auf dem Rückweg mit den beiden Pointes de Tso y Bots und der Pointe de la Videman nur noch drei kleine blumenreiche Pünktchen, bevor ich es ab dem Col de la Videman auf dem bequemen Bergweg endlich wieder sausen lassen und die Route über die Pointes nochmals von N Revue passieren lassen konnte. 

Nächstes Mal werde ich mit einem leichten Wanderrucksäckli und ohne Kletterbagage wiederkehren, denn einmal mehr hat sich der Spruch vom Pfarrer als zutreffend erwiesen:


Mi bruucht nid vil,
aber vil bruucht's eim,
we me nid vil bruucht...


 

Gummesel
Aufstieg: von Chalberhöni, Bodeguet (1347m) auf dem weiss-rot markierten Bergweg (wr) über Wilde Bode (1643m) bis zum E-Rücken, und über diesen durch Wald und über Gras und leichte Felsen auf den Gipfel (1901m, Kreuz), 1h, T4.

Abstieg: vom Gipfel (1901m) über das Karrenfeld auf- und absteigend nach NW, bis über eine Stufe nach SW abgestiegen werden kann (Pfadspuren). Auf überwachsenem Karst (Pfadspuren) nach WSW zurück zum Bergweg (wr) und auf diesem zum Trittlisattel (1850m), 15min.

Pointes de Sur Combe
Aufstieg ENE-Grat: vom Trittlisattel (1850m) wr bis zum Britschespalt S P. 1952, nach diesem durch ein schwach ausgeprägtes Tälchen nach WNW zur Geröllhalde und diese horizontal nach N querend zum Einstieg in das E bzw. untere Grascouloir bei ca. 1970m. Zu diesem über Gras und leichte Felsen schräg ansteigend nach NE und E des am tiefsten hinunterreichenden markanten Felsrückens durch eine Grasrinne auf die nächste Stufe. Am W Couloirrand über Gras und Schrofen hinauf, bis nach NE in eine Felsrinne gequert werden kann. Durch diese und zuletzt über einen Grashang zur Epaule ca. 2170m am Beginn des ENE-Grats, 1h, T6, I-II. Der 1. überhängende Aufschwung kann N umgangen werden, indem man in eine Grasmulde quert, eine Felsstufe erklettert (II) und über eine Schrofenrampe nach SE wieder den Grat gewinnt. Über diesen in schöner Kletterei (II), einmal eine leicht abdrängende Stufe überwindend (III), zum NE Vorgipfel von P. 2246. Letzterer (zuoberst Abseilschlinge) wird zu einer Scharte hin überklettert (II). Um die anzupeilende Schrofenrampe S vom Grat nach dem 2. senkrechten Aufschwung zu erreichen, gibt es 2 Möglichkeiten: 1. man umgeht diesen N auf Gras und gelangt durch einen Kamin (II) zu dessen Anhöhe, von der an einem Felskopf 10m nach SW zur Schrofenrinne abgeseilt werden kann, oder man steigt 2. von der Scharte nach S zur felsigen Verlängerung der Schrofenrampe nach unten, klettert unterhalb einer massiven Felsleiste schräg hinauf (II), bis man über diese (ca. 1m, leicht überhängend, III) die Schrofenrampe gewinnen kann. Über diese nach SW hinauf und nach NW auf leichten Felsen zurück zum Grat, der zu einer Kuppe führt. Nun auf dem einfachen, von anregenden Felspassagen unterbrochenen Schrofengrat über den E-Gipfel P. 2346 und einen Zwischengipfel (Steinmann), und nach einer tieferen Scharte nach NW zum W-Gipfel P. 2393, 1h, WS. Insgesamt 2h.

Abstieg SW-Couloir: vom W-Gipfel P. 2993 nach NW in eine Scharte und durch ein Grascouloir, unterbrochen von einem Felsriegel (II, Fixseil) nach SW hinunter zum Sattel ca. 2300m, 15min, T4.

Zustiegsvariante durch das W bzw. obere Grascouloir zu P. 2246: vom Trittlisattel (1850m) wr über den Britschespalt S P. 1952 bis zur Weggabelung ca. 1950m. Auf dem eingezeichneten Pfad bis ca. 1990m, dann weglos auf Gras und Geröll nach NW zum Einstieg in das W bzw. obere Grascouloir bei ca. 2100m. Durch dieses auf Gras und leichten Felsen E ausholend in einem Bogen zur obersten Felsrinne, die bis unter einen grossen eingeklemmten Block erklettert werden kann (II). Ausstieg nach NE und auf einer Grasrampe und leichten Felsen, zuletzt durch einen Spalt, zum NE Vorgipfel von P. 2242, 1h 15min, T6. Weiter auf dem mittlere und oberen ENE-Grat wie oben beschrieben.

Gummfluh
Aufstieg E-Grat: vom Sattel ca. 2300m nach W einen Gendarmen S umgehend zu einer Schrofenrinne und durch diese (I) zum E-Grat. Ein 1. Aufschwung kann direkt erklettert (II-III, Bh, Hk) oder N durch eine Schrofen- und Grasrinne umgangen werden, dann über einen 2. und 3. Aufschwung einfach auf den Gipfel (2458m), 30min, L oder T4.

Abstieg NE-Grat: vom Gipfel (2458m) auf Gras und Schrofen über den oberen NE-Grat (T5) zu einer Terrasse, weiter über den unteren NE-Grat (Stellen II, Bh) zum Sattel ca. 2225m und nach NW über eine steile Rampe (Stellen II, Bh) hinunter zum Col 2134, 30min, T6.

Rückweg über Pointe und Col de la Videman
Vom Col 2134 in schöner Kletterei (II, Bh) hinauf zur Pointe de Tso y Bots (2178m). Auf dem Grasgrat (Pfadspuren, Stellen I) über P. 2137 und die Pointe de la Videman (2165m) zum Col de la Videman (2033m) und wr über Les Praz (1771m), Comborsin (1659m) und Obers (1585m) und Unders Beust (1485m) zurück, 2h, T4.

Verhältnisse: sonnig und warm, nachmittags Quellwolken. Wege, Gras und Felsen trocken, Erde schattseitig z.T. noch feucht und rutschig.

Material: Leichthelm, Leichtpickel und 30m Reepschnur (für alle Fälle) zusätzlich zu üblicher Alpinwanderausrüstung. Für Seilschaften genügen ein 30m Einfachseil und etwas flexibles Sicherungsmaterial.

Fahrplan: 7.15 Start, 8.15 Gummesel, 10 Uhr P. 2246, 12 Uhr Gummfluh, 13.30 Gour de Comborsin, 14.45 Schulter ca. 2170m, 16.15 Gummfluh, 17.45 Col de la Videman, 19 Uhr retour.

Bemerkung: es handelt sich um eine wunderschöne Gratüberschreitung im Bereich T6/WS, die aber nur bei trockenen Verhältnissen unternommen werden sollte.

Tourengänger: lorenzo


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Kommentare (19)


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Schubi hat gesagt:
Gesendet am 25. Juli 2021 um 07:46
Hallo Lorenzo.
Ein sehr beeindruckendes Projekt, Glückwunsch!
Und es kommen schöne Erinnerungen auf, denn für uns war die Gummfluh unsere erste etwas ambitioniertere Alpinwanderung. Dafür haben wir natürlich die Easy-Listening-Version durch die Südflanke gewählt :o)
Lustig übrigens, dass wir in besagtem Geröllfeld damals auch Gemsen beobachten konnten.
Schönen Gruß, Schubi

lorenzo hat gesagt: RE:
Gesendet am 25. Juli 2021 um 17:38
Hallo Schubi

Danke, es brauchte wirklich etwas Engagement, um das Rätsel zu lösen, aber es hat Spass gemacht.

Die Gummfluh gehört sicher zu den schönsten Alpinwanderzielen der Region, da habt ihr eine gute Wahl getroffen. Und auch der Aufstieg von Süden ist ja nicht ganz ohne...

Das Geröllfeld ist faszinierend, mit und ohne Gemsen, wie eine kleine Wüste, aber zum Begehen würde ich mir auch vier Beine wünschen, v.a. für den Aufstieg...

Guten Sommer und hoffentlich schöne Touren!

Herzliche Grüsse

lorenzo

schnafler hat gesagt: Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 25. Juli 2021 um 08:13
Verrückt, was du immer so machst. Habe ein Jahr bei Gstaad gewohnt bis zu meinem Unfall letzten September, und da war ich natürlich ab und an auch auf der Gummfluh... nun ist aber zimmli finito mit Bergsteigen, Genick- und Brustwirbelbruch zwar mittlerweile plus minus okay, aber die demolierte Schulter wird trotz OP nicht mehr so recht zu gebrauchen sein. Dafür arbeite ich jetzt für eine NGO auf Lesbos, grad beim Moria Camp, und werde meinen Hauptwohnsitz hierherverlegen. Für bzw. besser mit Flüchtlingen zu arbeiten bringt mir derzeit deutlich mehr als in den Alpen herumzuhumpeln... aber es kommt natürlich schon auch Wehmut hoch, wenn ich so Berichte wie deinen lese... Liebe Grüsse aus der lesbischen Bullenhitze, Mytilene!!

lorenzo hat gesagt: RE:Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 25. Juli 2021 um 18:10
Hallo Roland

schön, wieder einmal etwas von Dir zu hören! Ich habe mich schon gefragt, wie es nach dem Mürtschenstock weiter gegangen ist, und beim Anblick der Staldeflüe an Dich gedacht.

Wirbelsäulenfrakturen und Schulterverletzung klingen ernsthaft: ein Gleitschirmunfall? Hoffentlich wird - ev. mit Physio? - Deine Schulter doch noch wieder flug- und klettertauglich.

Andererseits ist es sowieso verdienstvoller, sich um Flüchtlinge zu kümmern, als in den Bergen herum zu seckeln. Und vielleicht findest Du zwischendurch etwas Musse, um Odysseas Elytis zu lesen oder eine der schönen Wanderungen, für die Lesbos ja auch bekannt ist, zu unternehmen.

Das Wildhorn wartet immer noch auf meine terrestrische Variante, und auch den Mürtschenstock habe ich noch nicht ganz vergessen, aber für den Frêneypfeiler bin ich wohl langsam zu alt...

Ich wünsche Dir weiterhin gute Besserung und einen nicht allzu heissen Sommer auf Lesbos!

Herzliche Grüsse

lorenzo

schnafler hat gesagt: RE:Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 27. Juli 2021 um 17:33
Lieber Lorenzo! Ja, mich hat es mit dem Gleitschirm runtergehauen, am 17. September, im Gebiet der Geltenhütte, damals mein Heimgebiet. Ein saudoofer Fehler, and that was it.... ich hänge dir hier den Text an, der in der NZZ am Sonntag (Magazin) publiziert wurde... wenn auch mit saudoofen redaktionellen Verstümmelungen leider....
Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen

«…und vielleicht war mir ja auch nur darum gewesen, einmal richtig liederlich zu sein. Dann merkte ich, dass der Boden aufgehört hatte, doch es war zu spät. Als ich aufschlug, spürte ich ein deutliches Unbehagen. Man soll eben nicht den Schirm zumachen. Wie es so üblich ist, starb ich kurz darauf.»

Von Roland Heer

Nach gut tausend Höhenmetern abwechslungsreichen Aufstiegs in mehrheitlich weglosem Gelände hatte ich auf dem Gipfel mich kurz hingesetzt, etwas getrunken, mich umgeschaut (die Aussicht war grossartig, gegen hinten wurde sie allerdings immer kleiner), es war der 17. September 2020. Nach vielen langen Berg- und Klettertouren im Hike-and-Fly-Stil der letzten Wochen war das heute nur eine kurze Ruhetags-Tour. Ich machte mich routinemässig bereit zum Start mit dem Gleitschirm, zog mir eine Überhose an und eine Cortex-Jacke, schnallte den Helm an.

Unter mir eine bereits herbstlich gelb leuchtende Wiese, Akelei und Enzian rochen um die Wette. Ich klinkte mich in die Gurte, schaute nochmals zum Schirm zurück, der unternehmungslustig ausgebreitet im Gras lag, und zog ihn hoch. Nach zwei drei Schritten Anlauf bereits hob ich ab, schwupps und ab die Luftpost. Ich blickte kurz zur Kappe des Schirms hoch - und sah sie sofort, die entsetzliche Verwicklung der Schnüre mit dem Segel in dessen linken Hälfte: Eine oder zwei der Hauptleinen liefen komplett falsch, nämlich oben um die Schirmkappe herum und zerknautschten sie zu einer Art von geballter Faust. Aber es war zu spät: Bereits lag der sehr kurze Wiesenhang des Schafhick, von dem ich aus etwa 2480 m ü. M. gerade gestartet war, zehn zwanzig Meter unter mir. Und nachdem ich Sekunden später die Felsstufe der nordseits gelegenen Schattflüe überflogen hatte, waren es schon zwei- oder dreihundert Meter, die ich zwischen meinen Beinen hinuntersah auf die Alpböden von Uf de Büele.

Ich pumpte den Schirm mit den Steuergriffen kurz und energisch ein paar Mal, damit er sich richtig öffne, zupfte an zwei drei Einzel-Leinen, auf dass sie sich enthakten, es half aber nichts angesichts der verheerenden Zerknäuelung der Kappe. So beschloss ich auf der Stelle, möglichst sofort landen zu gehen, grad da unten auf den offenen Weidehängen, was kein Problem sein sollte, improvisierte Aussenlandungen hatte ich als erfahrener Pilot schon oft gemacht. Ich leitete sachte eine erste Rechts-Kurve ein, um Höhe abzubauen - der Schirm reagierte, aber wie! Abrupt schmierte er seitlich ab, drehte sich wie irr um sich selbst, es warf mich unkontrolliert wirbelnd in der Luft herum wie auf einer durchgedrehten Achterbahn (dabei poppte kurz, wie an einem luftigen Bildschirm, ein Fenster vor mir auf, mit einer Sprechblase, in die jemand das Wort SCHEISSE!! gekritzelt hatte). Erschreckt gab ich die Bremsleine wieder frei, die Rotationen hörten immerhin auf.

Flieg jetzt nur noch irgendwie geradeaus, mach dich möglichst leicht, ha, vielleicht reicht es ja über die Waldkante da, einen Kilometer weiter vorne, nach der es sehr steil zum Lauenensee runtergeht, dort könntest du dich doch mit einer Bruchlandung in den moorigen Sumpf retten. Ich sah aber, dass mein Schirm viel steiler runterzog als sonst, es würde vermutlich nicht reichen über die Kante rüber! Oder doch? Oder mich dann halt einfach in den Steilwald treiben lassen und hoffen, dass der Schirm in irgendeinem Wipfel sich verheddert?! Aber der Wald ist ja licht statt dicht, dazu unterbrochen von Felsstufen!? Also besser in diese klitzekleine Lichtung da rechts unten reinzuparkieren versuchen?! Puah, ist die aber eng, und quer über sie läuft ein Heuseil!? Du musst dich JETZT entscheiden, sonst reicht es bei diesem argen Sinken nicht mehr zur Lichtung zurück!!!!!

Überfordert, unter grösstem Zeitdruck, geflutet von Adrenalin, strudelnd in Noradrenalin, muss mir der Stress dermassen zugesetzt haben, dass ETWAS kippte, ALLES umschlug: Als habe jemand einen Schalter umgelegt, war rundherum alles plötzlich viel farbiger oder ganz farblos, was mir das Gleiche schien, ich verspürte einen schlechten Geschmack auf der Zunge, den ich mit Schlucken vergebens wegzumachen versuchte, zugleich überkam mich das nutzlose Gefühl, etwas zu bereuen, etwas oder alles. Ich stürzte in ein Gefühl von konturenloser Fremdheit, sah mich von aussen und wie von ferne schweben, entschweben, sah jemanden immer kleiner werden, verschwinden, als ginge es jetzt gar nicht mehr um den dort, fiel in eine schalltote Unwirklichkeit, es war still, totenstill.

Rascher, als man denken kann, und ich dachte ja gar nichts mehr, war klar, dass ich ab jetzt mein Leben einteilen würde in ein Leben vor und nach diesem Geschehen. Dass ICH, der jetzt flügge zu werden, zu begreifen hatte, dass es so nicht geht, gerade Zeuge davon würde, wie sich ein Riss in meinem Leben auftat. All das war im gleichen Bruchteil einer Sekunde passiert, einer Sekunde, die sich merkwürdig und quälend in die Länge zog, als wäre die Zeit stehengeblieben. Dabei beschleunigte sie sich immer mehr, sie ging mir rasant aus, und kurz darauf sollte sie, sich überschlagend, überpurzelnd, wie toll über mich hereinbrechen so gewaltig, dass ich, als ich wieder zu mir kam, zerschlagen zu einem vergänglichen Häufchen Elend (und der Raum, jedenfalls die spezifisch räumliche Gegebenheit des Aufschlagsortes, ein von Felsbrocken übersäter, holpriger und abschüssiger Weidehang, hatte dazu entsprechend das Seine getan) bis heute in keiner Weise mehr weiss, wie ich überhaupt dorthin gekommen bin und mein Unglücksflug sein folgenreiches Ende nahm.

Weil sich der Filter einer Total-Amnesie über die letzten paar Flug-Minuten inklusive des Aufpralls gelegt hat, reime ich mir nun halt notgedrungen zusammen - ausgehend vom detaillierten medizinischen Befund, der nach dem REGA-Flug ins Inselspital Bern von all meinen Versehrungen erstellt wurde - was für Geräusche und Klänge da in etwa laut geworden sein mochten, als es mich nach einem «Flug» von geschätzten zwölf Minuten, über tausend Höhenmeter vernichtend, auf die harten Bretter haute, die meine neue Welt bedeuten sollten:

Wie eine Flaschenpost zerschlage ich klirrend an den felsigen Ufern der Weideküste unweit des Lauenensees. Die Scherben springen von mir weg, als wäre Leben dasselbe wie Zersplittern. Mein Lack, mit einem Knall spröde geworden vor lauter Zukunftsangst, blättert auf einen Schlag ab. Halswirbel Nummer sechs und sieben knirschen, vorher noch einen lauthalsen Trommelwirbel absondernd, zerknirscht mit ihren knöchernen Zähnen respektive Dornfortsätzen, während sie Hals über Kopf zerbrechen und mit einem quietschenden Schleifgeräusch auseinandergehakt werden, zusammengehalten nur noch durch das ligamentum longitudinale anterius, das Hintere Längsband, das eine Weile lang verdutzt nachzittert (hätte dieses Schnürchen nicht immerhin noch gehalten, wäre ich jetzt Tetraplegiker und müsste diesen Text vermutlich mit einer Kopfmaus schreiben). Überstürzt zerbersten Brustwirbel Nummer acht bis zehn mit einem knackenden Platzen, es zerdrückt sie wie Biscuits. Die Supraspinatussehne an der rechten Schulter wird brüsk gespannt, wehrt sich sirrend, als wäre sie der letzte Strick, dann explodiert sie mit einem hellen Knall. Jäh zieht es die Infraspinatus-Sehne in die Länge, bis sie schränzend zerreisst; wie eine Harfe, die man in eine Ecke geschmissen hat, scheppert sie noch eine Weile nach. Die Subscapularis-Sehne, welche gerade neben ihr sitzt und der es nicht besser ergeht, klingt eher wie eine wehklagende Gitarrensaite, die jemand zu hoch stimmen wollte, ein paar wenige Fasern halten störrisch stand, vielleicht sind sie schwerhörig und haben vom Aufprall nichts mitbekommen. Unvermittelt reisst es die Lange Bizeps-Sehne mehr laut als lang ächzend aus ihrer Verankerung, verdattert kugelt sie sich in einer dunklen Ecke irgendwo weiter unten zusammen. Ihr Nachbar von oben, das Labrum, die Knorpellippe, geht eine beleidigte Schnute ziehend pflopfend in die Binsen, während der musculus deltoideus sich wimmernd wehrt, bis ihm der letzte Geduldsfaden seiner Faserbündel reisst. Dumpf schmatzend knickt es sieben Rippen, wie Bündel von Schilf, das ein unachtsam landender Schwan zerknittert. Mein Herz quetscht es, fast gleichzeitig die Lunge (contusio cordis et pulmonis), sie malmen und wabbeln beleidigt; letztere, durchstochen von zersplitterten Rippen, fällt, einen letzten Seufzer ausstossend, in sich zusammen zu einem atemlosen, alle Geräusche verschluckenden Pneumothorax.

Gesehen hat das finale Runterkommen von mir Heruntergekommenem niemand. Darum erfinde ich es wahrheitsgemäss eben genau so: Ich bin hinuntergetrudelt in Twists oder Negativspiralen, kombiniert mit einem seitlichen Einklapper, als Zugabe der missglückte Versuch eines Vorwärts-Loopings, bis ich aufschlug Knall auf Fall (wäre ich bei Bewusstsein gewesen, hätte ich gefunkt wie Neil Armstrong am 20. Juli 1969: «Tranquility base to Houston: The eagle has landed!»). Wie sich herausstellte, erlitt ich dabei diverse der typischen Folgen eines Hochrasanz-Polytraumas mit Vertikal- als auch Torsions-Elementen. Es muss eine Kopfüber-Dreh-Bewegung mit axial ausgeprägter Seitenlastigkeit gewesen sein, mit der ich schliesslich am Boden, am Ende der Welt, ganz hinten im Saanenland, meine wenig rühmliche fliegerische Darbietung beendete.

Die zwei Wanderer, die mich in dieser klitzekleinen Lichtung neben dem Weg zur Geltenhütte fanden, alarmierten die REGA, 25 Minuten später war der Heli da. Und ab dann setzt meine Erinnerung wieder ein, in Fetzen zumindest - nachdem noch hoch über dem Boden, ums Leben kämpfend, dieses Erinnerungs-Blackout sich über mich legte, das die letzten Trudel-Minuten dieses rasenden Rodeos auf meinem galoppierenden Reitschirm wohl ausradierte für immer: Wie ich anscheinend in einem Gerät bin, das richtig fliegt, grell hell brüllt es durch ein Fenster herein, das rundherum keine Grenzen zu haben scheint, knatterndes Motorengeräusch, das ich als Geruch wahrnehme, abgehackte Stimmen, die mich streicheln (der REGA-Notfallarzt spritzte mir Fentanyl), grossartige Aussicht, Sicht ins Aus, wie ich sie noch nie gespürt habe, dazu eine Art World-music-Sound, den ich in Schwarz-Weiss rieche, ich fühle mich von summender Wärme vielfarbig durchströmt, bin nicht nur glücklich, sondern euphorisch; was ich wahrnehme, ist sprunghaft in kurze Sequenzen zerstückelt, ich erinnere mich, gedacht zu haben: Mann, ist das ein sackecool zusammengeschnittener Experimentalfilm! Dann fade-out again… Dann erwache ich auf der Intensivstation des Berner Inselspitals. Der Unfall sollte mir drei heikle Operationen, fünf Wochen Spital, ein paar Wochen Reha-Klinik und fast ein halbes Jahr lang fürchterliche, anhaltende Schmerzen bescheren.

Die verheerende Verwicklung der Leinen um die Schirmkappe war übrigens kein schicksalhaftes Verhängnis - sondern nur ein ganz banales Leinen-Verhängnis, das schon vor dem Start bestanden hatte, Leinenüberwurf heisst das im Fach-Jargon. Komplett selbstverschuldet, ein absolut vermeidbar gewesener Lapsus, den man unter «Routinefehler» rubrizieren muss und sicher nicht unter «technischer Defekt» oder als beim Fliegen eben in Kauf zu nehmendes Restrisiko. Ich habe es schlicht und einfach «verhängt».
Zwei Tage vor meinem Unfallflug war ich bei ziemlich starkem Wind gelandet, der ein ordentliches Zusammenlegen und Verstauen meines Ultralight-Modells verunmöglichte. Darauf legte ich ihn zuhause aus, um ihn sorgfältig (ha!) zu entwirren - genau da übersah ich aber, dass eben gewisse Hauptleinen nach dem Lande-Gehudel tags zuvor ganz falsch um die Kappe herumliefen.

Mein Fehler ist offensichtlich; dass dann auch zusätzlich Pech dabei war, ist aber nicht abzustreiten - dass der Schirm trotz dieser argen Verwicklungen mich nämlich überhaupt noch abhob, statt dass er einfach wieder in sich zusammengefallen wäre hinter mir auf dieser bereits herbstlich gelb leuchtenden Wiese am Schafhick.

Nach zwei Operationen an der Wirbelsäule (die mit Abstand schlimmste und dritte, die an der Schulter, würde zwar erst ein paar Wochen später noch über die Bühne gehen) schaute ich am 3. Oktober 2020 (dem 30. Jahrestag der Deutschen Einheit) von der opiatseligen Insel meines Berner Spitalbetts aus auf 3sat den deutschen Spielfilm «Der Preis der Freiheit», der ausgestrahlt wurde anlässlich der Wiedervereinigung meiner vordem geteilt gewesenen Wirbelsäulenstücke, für mich die Wende. In der Schluss-Szene setzt sich da eine der Protagonisten, eine DDR-treue Hardlinerin und Top-SED-Figur, nach der abrupten Zerschlagung ihrer Karriere- und Glücks-Hoffnungen in ein Taxi. Fragt der Fahrer: «Wohin?» Sagt sie: «Egal wohin. Fahren Sie einfach.»

Ob Unglückspilz oder Glücksrabe - neun Monate nach dem Unfall bin ich noch immer da, in sehr guter Verfassung, körperlich ist fast alles wieder wie zuvor, abgesehen von der Schulter. Der Aufprall hat mich über vier Zentimeter Körpergrösse gekostet, aber einen Teil davon habe ich mit spezifischen Übungen bereits zurückgewonnen. Und: Was ich mir ein halbes Jahr lang in keiner Weise vorstellen konnte: Ich werde wieder fliegen gehen.

Diesen Text widme ich K., meinem frühlingsschwarzen Hund


lorenzo hat gesagt: RE:Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 27. Juli 2021 um 22:49
Lieber Roland

Gerade habe ich gebannt Deinen umwerfenden Text gelesen, von der Idylle über das Verhängnis und dessen Verlauf bis zur Katastrophe mit der Kakophonie der Verletzungen und Deiner Rettung und Genesung.

Deinen Schicksalsflug vom Schafhick über Schattflüe, Uf de Büelen und Heuseil zum Lauenensee habe ich auf der Karte verfolgt. Die zwölf Minuten müssen die Hölle gewesen sein - dort wo man sich sonst im Paradies wähnt - und es ist ein Wunder, dass Du überlebt hast!

Trotz den Schmerzen und den neun Monaten bis zur Wiedergeburt würde ich von Glück im Unglück reden. Deine Sprachgewalt, und ich glaube auch Deinen Humor, scheinst Du jedenfalls nicht verloren zu haben.

Nur schade, dass Du Dich nie gemeldet hast, das Inselspital liegt in meiner Nähe.

Ich wünsche Dir weiterhin alles Gute!

Herzliche Grüsse auch an Deinen Hund

lorenzo

schnafler hat gesagt: RE:Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 28. Juli 2021 um 07:53
Lieber Lorenzo: Schön, wenn dir mein Text gefallen hat. Das tut er mir nämlich auch, ich habe lange an ihm gearbeitet, viele Tränen vergossen, bis er seine Form hatte und ich das Trauma, welches ich sicherlich erlitten hatte, bewältigen konnte durch Schreiben. Hätte ich gewusst, dass du in der Nähe des Inselspitals wohnst, hätte ich mich sicher gemeldet - obwohl Schreiben im ersten Monat nicht möglich war. Einen Hund habe ich übrigens nicht - die Widmung war bloss eine interne, letzte Liebeserklärung an meine Verflossene, die sich mal wegen ihrer üblichen Frühjahresdepressionen als "frühlingsschwarzen Hund" bezeichnete mir gegenüber... Den Humor habe ich sicher nicht verloren, aber den Pep, wieder heftige Sachen zu machen wie bis zum Unfalltag. Der ganze Seich fing übrigens an nach der Landung vom Mürtschenstock - ich landete am vorderen Ende des Talalpsees bei ziemlich Wind; mein Freund Martin Scheel zog es vor, am hinteren Ende zu landen. Mein Leichtschirm lässt sich bei Wind alleine aber nicht ordentlich zusammenlegen, es verhudelt das Tuch - so stopfte ich das ganze Glump einfach in den Rucksack. Zuhause legte ich den Schirm auf einer Wiese nochmals aus und glaubte, die Verwicklungen entwirrt zu haben. Denkste! In der Meinung, den Schirm schön ordeli parat gemacht zu haben, kontrollierte ich ihn am Schafhick dann eben nicht mehr und zog ihn auch nicht, wie sonst meistens, damit sich alle Leinen schön entrollen, ein bisschen hoch vor dem Einklinken und dem Start.. So, jetzt geht es aber aufs Rad und zum Moria Camp. Einen schönen Tag dir. LG Roland

lorenzo hat gesagt: RE:Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 28. Juli 2021 um 21:45
Lieber Roland

man spürt das Ringen, die Verzweiflung und den Schmerz so richtig heraus, anders -z.B. mit Schönreden - kann man das - wenn überhaupt - nicht verarbeiten.

Es war eine unglückliche Verkettung von Umständen und Missgeschick von der Landung am Talalpsee bis zum Start am Schafhick und zur Landung am Lauenensee. Aber es stimmt leider: shit happens!

Bei gewissen Dingen muss man pinggelig bzw. ein Kontrollfreak sein, und wenn man es einmal nicht ist oder sein mag, geht prompt etwas schief. Schon oft habe ich Gleitschirmfliegern beim Start zugesehen: wenn sie den Schirm zum ersten Mal hochzogen, sah es jeweils so aus, als ob sie gleich starten würden, dabei war es nur ein Probelauf, um zu schauen, ob sich der Schirm richtig füllt. Enttäuscht und ungeduldig schaute ich dann weiter zu, um manchmal noch mehrmals enttäuscht zu werden, bis der Pilot endlich abhob, oder den Schirm wieder einpackte, weil der Wind zu stark war.

Zum Glück kannst Du wieder Velo fahren, das bringt wenigstens ansatzweise das Gefühl von Geschwindigkeit zurück.

Guten Abend und herzliche Grüsse

lorenzo

PS: das mit K und der Frühlingschwärze habe ich leider nicht gewusst.

schnafler hat gesagt: RE:Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 29. Juli 2021 um 16:22
Lieber Lorenzo
Ja, wenn man eine Risikosportart betreibt, sei es Klettern oder Gleitschirmfliegen, dann empfiehlt es sich sicherlich, auf Kontrollfreak zu machen - sonst wird irgendwann eben Morphy's Law zur Wirkung kommen, unweigerlich. Aber was soll's - ich hab es ja TROTZ ALLEM überlebt und kann mit den Folgeschäden umgehen. Bzw. ändere eben mein Leben. Und werde sicher weiterhin GEBANNT deine immer schlicht grossartigen Berichte lesen über irgendeine neue, verreckte T6-Kombi oder eine noch nicht befahrene Steilflanke. Liebe Grüsse aus der ägäischen Bullenhitze - im Unterschied zu meinen Refugees-Kumpels, die auch für OHF arbeiten, kann ich nach der Arbeit aber in ein schönes Haus mit Bad und Ventilatoren in jedem Zimmer zurückkehren, während sie mit einem Massenschlag-Zelt im Moria Camp vorlieb nehmen müssen... also, abgemacht: Du machst weiterhin so richtig heftige Touren, berichtest darüber - und lässt mich via hikr.org daran teilnehmen...

lorenzo hat gesagt: RE:Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 29. Juli 2021 um 21:00
Lieber Roland

sogar wenn man alles bedenkt und kontrolliert, bleibt ein Restrisiko, dass man höchstens minimieren kann. Oder es kann etwas völlig Unvorhergesehenes geschehen, womit man gar nicht gerechnet hat (z.B. ein Erdbeben in der Diamirflanke). Dass Du es überlebt hast und mit den Folgeschäden leben kannst, ist die Hauptsache.

Ich hoffe, dass ich noch eine Weile in den Bergen unterwegs sein darf, Projekte habe ich noch genug, und es kommen immer wieder neue dazu. Wenn sich etwas Neues ergibt, werde ich von mir hören lassen.

Hoffentlich hast Du trotz der Flüchtlingsmisere und der Hitze einen einigermassen befriedigenden Tagesablauf.

Gute Zeit und herzliche Grüsse auch an Deine Kumpels, die etwas Besseres verdient haben

lorenzo

schnafler hat gesagt: RE:Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 2. August 2021 um 17:54
Lieber Lorenzo - bin für zwei Wochen in der CH. Bist du nicht - oder hab ich das falsch im Kopf - in Züri am Lehren? Wenn ja, könnte man sich ja mal treffen. Fände es wirklich spannend, so einen gestörten T6-Tüftler kennenzulernen. Herzlicher Gruss, Schnafler!

lorenzo hat gesagt: RE:Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 6. August 2021 um 14:25
Hallo Roland

gerade habe zufällig Deine Nachricht entdeckt, da die Hikr-Kommentare offenbar nicht mehr auf das Mail weitergeleitet werden.

Die aktuelle Hitze in Griechenland ist wohl nur schwer auszuhalten.

Ich wohne in Bern, aber falls Du diesen Sonntag Zeit hast, könnte ich mich in Richtung Zürich bewegen.

Herzliche Grüsse

lorenzo

schnafler hat gesagt: RE:Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 6. August 2021 um 18:47
Hoi Lorenzo - Zeit habe ich schon am Sonntag. Das Wetter ist aber glaubs instabil, zudem spüre ich meine Hüfte etwas seit paar Wochen (Schulthessklinik-Röntgen gestern gab zwar Entwarnung; ist aber wohl glaubs wieder was wie vor zwei Jahren, als ich am Knie ein plötzliches Knochenmarködem geniessen durfte...). Was schwebt dir denn so vor an Treffpunkt oder Tätigkeit? Dass zwei gestandene T6-Literaten sich austauschen wäre zwar eh schon genug, ohne sonstige Tätigkeiten... Lieber Gruss, Roland

lorenzo hat gesagt: RE:Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 6. August 2021 um 21:14
Hallo Roland

ich dachte eher an einen Austausch ohne grosse Ambitionen, z.B. bei einem Spaziergang, im Niederdorf, am See, auf den Uto, oder den Züriberg. Wir könnten uns z.B. um 10 oder 14 Uhr beim Schutzengel von Nikki de Saint Phalle im Bahnhof treffen.

Bis bald

lorenzo

schnafler hat gesagt: RE:Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 7. August 2021 um 07:41
Hoi Lorenzo - super! Sonntag 10 Uhr beim Schutzengel im HB Zürich. Und dann können wir ja z.B. auf den Üetzgi machen. Lieber Gruss von Roland

lorenzo hat gesagt: RE:Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 7. August 2021 um 12:27
Hallo Roland
Perfetto, bis morgen!
Herzliche Grüsse
lorenzo

schnafler hat gesagt: RE:Von einem, der ausflog, das Fürchten zu lernen
Gesendet am 7. August 2021 um 13:08
...gebongt. Bis morgen dann. Freumi!


Alpin_Rise hat gesagt: Gehaltvolle Doku, wie immer...
Gesendet am 26. Juli 2021 um 12:43
...wenn du dich rumtreibst. Ähnliches tat ich vor einiger Zeit, allerdings auf gebräuchlichen Routen. Das Potenzial am Pointes de Sur Ostgrat sah ich, allerdings wagte ich nicht, nach Osten ins Graue der Geröllhalde abzusteigen.

Normalweg Pointes de Sur Combe:
> Abstieg SW-Couloir: vom W-Gipfel (...) T4.
Für mich auch mit dem Fixseil eher T5-Gelände, kommt wohl drauf an, wie sehr man da reinhängt:
we me nid vil bruucht... ausser ein gütiges Fixseil am guten Ort.

G, Rise

PS 1: Dagegen dünkte mich der Gummfluh Nordanstieg ein mildes T6 und Genuss pur, klare Wegführung und solides Gestein sei Dank.
PS 2: Nur wenig weiter im wilden Westen, gilt es auch noch mit Tauben (oder sind es Dauben?) zu fliegen... Projekte, Projekte.





lorenzo hat gesagt: RE:Gehaltvolle Doku, wie immer...
Gesendet am 26. Juli 2021 um 21:58
Hallo Rise

noch weiter im Osten gäbe es wie erwähnt noch mehr Potenzial, wenn man das Potenzial dazu hätte, was bei mir leider nicht der Fall ist...

Über die Schwierigkeiten kann man sicher diskutieren: bei den Romands findet man ja kaum je ein T6, während es bei uns nur so davon zu wimmeln scheint.

Ich bin ziemlich weit links vom Fixseil abgeklettert, was ganz gut ging (II) und vermutlich weniger anstrengend ist.

Die Schwierigkeit einer Route sollte ja unabhängig von den Verhältnissen und der Auf- oder Abstiegsrichtung beurteilt werden, aber ich würde den Abstieg von der Gummfluh über den NE-Grat und die NW-Rampe bei nassen Verhältnissen trotzdem als anspruchsvoller einschätzen, als den Aufstieg bei trockenen, ob T6 oder T6-.

Den Taubenschlag im Westen habe ich vor Jahren mal mit dem Lasso aufgeschreckt und bin dann wie Holger Nilsson gen Osten geflogen. Das war auch ein schöner Flug. Aber jener mit den weissen Tauben ist vermutlich noch schöner...

Herzliche Grüsse

lorenzo


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