Grasgeflüster am Sigriswiler Rothorn


Publiziert von lorenzo , 3. November 2020 um 00:43.

Region: Welt » Schweiz » Bern » Berner Voralpen
Tour Datum: 1 November 2020
Wandern Schwierigkeit: T4 - Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: ZS
Klettern Schwierigkeit: III (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-BE 
Zeitbedarf: 8:30
Aufstieg: 965 m
Abstieg: 965 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:[Schwanden (Sigriswil), Säge] oder mit dem Auto
Zufahrt zum Ankunftspunkt:dito
Unterkunftmöglichkeiten:Hotel Landgasthof Rothorn Schwanden
Kartennummer:LK 1208 Beatenberg

Eigentlich hatte ich geglaubt, den Sigriswilergrat von Wanderungen, Kletter- und Skitouren gut zu kennen, wurde aber einmal mehr von Altmeister Christoph eines besseren belehrt, als er mir per Mail und mit Fotos, die er bei einer Wanderung am hinteren Sigriswilergrat aufgenommen hatte, vorschlug, durch die vermutlich noch unbestiegene Nordwestflanke eine Route  zum Sigriswilerrothorn Nordwestgipfel zu versuchen. Er dachte dabei an einen Aufstieg in möglichst viel Fels durch die markante Nordwestrinne südwestlich vom höchsten Punkt und einen Ausstieg nach links über die Gipfelwand und hatte die geplante Linienführung auf einem der Fotos eingezeichnet. Für die Gelegenheit, zur Abwechslung wieder einmal abseits der ausgetretenen Pfade unterwegs sein zu dürfen, liess ich mich nicht zweimal bitten, und sagte sofort zu. Wegen wiederholten Schneefällen bis unter 1500m Mitte und Ende Oktober mussten wir uns vorerst noch einige Wochen gedulden, bis sich, wie ich von zuhause und sogar auf einem Fernsehbild erkennen konnte, die Nordwestflanke dank angestiegenen Temperaturen und Regen wieder in aperem Zustand präsentierte. "Jetzt oder nie" sagten wir uns trotz angesagter Bewölkung und fuhren nach Schwanden-Sagi.

Als wir losliefen, war der Himmel bereits bedeckt, und die Strukturen in der Nordwestflanke liessen sich bei dem fahlgrauen Licht nur undeutlich ausmachen. Wir blieben aber zuversichtlich, und beim angeregten und kurzweiligen Austausch über den vergangenen Bergsommer und andere alpinistische Anekdoten verging die Zustiegszeit wie im Flug. Aber je mehr wir uns der Nordwestflanke näherten, desto deutlicher schien es, dass der Fels in der Rinne und der Gipfelwand zu steil und damit für uns zu schwierig sein würde, so dass wohl nur eine alternative Routenführung über die angrenzenden und dazwischenliegenden Graspartien in Frage käme. Zuerst mussten wir jedoch zum Einstieg gelangen, um die Situation vor Ort genauer beurteilen zu können. Unter dem Stollenloch angekommen, kostete es uns zu Beginn einige Überwindung, den zwar steilen, aber doch bequemen Bergweg rechts zu verlassen, um auf rutschigem Gras und Geröll und abschüssigen Schrofen zum Einstieg zu queren, doch mit einiger Gewöhnung liess sich auch dieses eher ungemütliche Gelände bewältigen. Der Blick von der komfortablen Graskanzel unter der Nordwestrinne bestätigte unsere weitere unten gemachte Befürchtung, indem die Felsen in der Rinne und links davon zu steil oder sogar überhängend waren, und nur der Grasrücken rechts davon eine zumutbare Steilheit aufwies.

Wir seilten uns an und begannen mit dem Aufstieg. In zwei Seillängen gelangten wir durch die Rinne und mittels einer Grasrampe nach rechts auf den breiten Grasrücken und über diesen zu einer Tannengruppe. Obwohl sich steile Gras als trocken und gut gestuft erwies, waren wir froh, an einigen Tännchen Zwischensicherungen legen zu können. Die dritte Seillänge prüfte uns mit einem grasdurchsetzten Felsaufschwung, wo nichts zu legen war, und einer anschliessenden leicht überhängenden Zweimeterstufe, die wir nur kombiniert mit einem unzuverlässigen Felsgriff rechts und dem im Gras fixierten Pickelhammer links überwinden konnten, dafür liessen sich vor- und nachher rechte gute Zwischensicherungen anbringen. Beim folgenden Stand fing es an, leicht zu tröpfeln, hörte aber zum Glück schon bald wieder auf. Nun konnten wir oben am Grat schon Leute erkennen, bis zum Gipfel schien es also nicht mehr weit zu sein. Die vierte Seillänge führte uns über eine zwar ausgesetzte, jedoch gut gestufte und absicherbare Grasrampe zum letzten Stand, von dem aus wir mit wenigen Schritten über leichte Felsen den Gipfel erreichten. Trotz zügigem Wind, der von Süd- nach Nordwest gedreht hatte und uns mit erfrischender Kälte empfing, beglückwünschten wir uns per Handschlag, denn bis zur dritten Seillänge waren wir uns eines erfolgreichen Durchkommens keineswegs gewiss gewesen.


Wir genehmigten uns eine dritte, diesmal etwas ausgiebigere Raste, diskutierten über weitere Wander- und Klettermöglichkeiten, die wir rundherum erspähten, und fütterten einen kleinen Schwarm aufgeregt herumflatternder und sich zänkisch konkurrenzierender Dohlen, bevor wir mit dem Abstieg über den aussichtsreichen Südwestgrat begannen, von dem wir nochmals auf unsere Route im Profil zurückblicken konnten. Immer wieder begegneten wir Wandernden, die das durchzogene Wetter auch nicht davon hatte abhalten können, diesen märchenhaften Grat hoch über dem Thunersee mit seinem unvergleichlichen Panorama zu den Voralpen und Alpen, ins Mittelland und bis zum Jura zu ihrer Erholung aufzusuchen. In der Bärglichäle bestaunten wir die geologischen Verwerfungen der dortigen "Nackenfalte", was weiteren spannenden Diskussionen über die Alpenfaltung die Türe öffnete. Als wir beim Abstieg zum Bodmi die durch Schneisen im Howald führenden Couloirs querten, fragten wir uns, wie lange es wohl noch genügend Schnee geben würde, um dort wie früher mit Ski abfahren zu können. Und ereilte wohl dereinst den Skilift von Willerallmi das selbe Schicksal wie jenes des 2004 stillgelegten gegenüber am Lasenberg? - was natürlich - sofern zwischendurch doch noch einmal genug Schnee fiel - das Herz vieler SkitouristInnen erfreuen würde. Eine Antwort darauf mochte der kommende oder die folgenden Winter bringen, vorerst tauchten wir auf Surre ins golden im Wind flirrende Herbstlaub den Weg säumender Birken und Zitterpappeln ein, die mit grellem Rot von Vogelbeeren und dunklem Tannengrün kontrastierten. Zurück in Sagi, liessen wir den erlebnisreichen Tag im "Rothorn" bei einem Älplerplättli mit Alkoholfreiem ausklingen.

Sigriswiler Rothorn NW-Gipfel
Zustieg: von Säge (1076m) gelben Markierungen folgend auf der Alpstrasse und dem Wanderweg über Zenggis zum Reservoir und auf dem weiss-rot markierten Bergweg (wr) über Stampf (1265m) und Oberi Matte (1392m) zur Zettenalpegg (1583m), 1-1h 30min, T2. Nach SE wr weiter Richtung Sattel 1921 bis ca. 1760m unter dem Stolleneingang (1811m). Nun nach SSW auf steilem Gras und über einige Geröllgräben zuerst horizontal, dann ansteigend über Bodmiweng bis ca. 1830m, S um den NW vorgelagerten Felsriegel herum auf das breite Grasband (Gemswechsel) und auf diesem nach NE zu einer Graskanzel am Fuss der markanten, SW vom NW-Gipfel auslaufenden markanten NW-Rinne, 1-1h 30min, T4. Insgesamt 2-3h.

Aufstieg NW-Flanke: in einer 1. SL oder seilfrei auf Schrofen und Geröll durch die untere NW Rinne hinauf und rechts unter die Felsen (Stand an Felszacke und mit Camalot). Die 2. SL führt über eine Grasrampe weiter nach rechts auf den breiten Grasrücken SW der NW-Rinne und über diesen (gut gestuft, Sicherungsmöglichkeit an Tännchen) steil hinauf zu einer Tannengruppe (Stand an Baumstamm). In der 3. SL (Schlüsselseillänge) links haltend zu einem grasdurchsetzten Felsaufschwung (III), der zu einem Grasband führt. Auf diesem nach links und über eine leicht überhängende Stufe (2m, III, Fels, Gras) zu einem Grasrücken, Querung der obersten NW-Rinne zum Beginn der Gipfelgrasrampe, und über diese kurz hinauf (Sicherung an Tännchen und mit Camalots und Rocks, Stand an Block). Die 4. SL. führt weiter über die mit leichten Felsen durchsetzte Grasrampe (Sicherung mit Camalots und Rocks) bis unter den NW-Gipfel (Stand an Block). Die letzten Meter zu diesem (2034m) können gesichert oder gemeinsam gegangen werden (I), 1h 30min-2h, ZS.

Abstieg SW-Grat: vom NW-Gipfel (2034m) entlang dem SW-Grat zuerst auf Karren (Pfadspuren), dann auf dem eingezeichneten Pfad SE an der Merra (1954m) vorbei zum Sattel NE von P. 1889, und nach W und SW zum Bergweg. Wr durch die Bärglichäle zum Sattel 1725, über Bodmi und Uf Surre (1394m) nach Stampf (1265m) und auf der Zustiegsroute zurück, 2h-2h 30min, T3.

Insgesamt 5h 30min-7h 30min.

Verhältnisse: bei SW-NW-Wind bewölkt und kühl, nachmittags ein paar Regentropfen. Wege und Pfade feucht, Gras und Felsen trocken. Fels z.T. brüchig.

Material: Bergschuhe mit Profilsohle, Trekkingstöcke, Helm, Pickelhammer, übliche Kletterausrüstung mit 50m Einfachseil, 6 Express, 4 grossen und 2 kleinen Schlingen, 5 kleinen bis mittleren Camalots und 1 Satz Rocks.

Fahrplan: 8.15 Start, 9.45 Zettenalpegg, 11.15 Einstieg, 13.45 Gipfel, 16.45 retour.

Grasgeflüster

Kein Gras zum Rauchen (von Christoph Blum)

Bis zum Erreichen des Gipfels fühle ich mich wie in jüngeren Jahren, zuversichtlich, neugierig, bereit, mich ganz zu engagieren. Wir stehen nach ausgesetzter Querung rasiger Steilhänge auf einer Kanzel unter der grasdurchsetzten felsigen Gipfelwand. Die Rinne, auf die unsere Hoffnungen gründeten: zu schwierig. Matthias sieht eine Möglichkeit über den Rücken zur Rechten. Genau das ist sein Gelände, auch deshalb habe ich gerade ihn gefragt. Der Auftrieb  bleibt lebendig. Nie hätte ich geglaubt, dass Grasklettern so lustvoll sein könnte. Die Füsse finden meist Tritte, das Eisgerät lässt sich in Graspolstern verankern, anfangs kann Matthias an Tännchen Schlingen, im Fels auch Klemmgeräte legen. Einige Tropfen fallen aus grau überzogenem Himmel, nur die ferne Stadt Bern badet in der Sonne. Wir steigen beim Gipfelsteinmann aus. Die Spannung baut rasch ab. Beim langen Abstieg spüre ich meine Jahre, zweifle ich, ob mich die Knie noch bis Schwanden tragen werden. Wie eh und je stellt sich aber dort unten ein tiefe Dankbarkeit über das Gelingen eines alten Planes ein.

Tourengänger: lorenzo


Minimap
0Km
Klicke um zu zeichnen. Klicke auf den letzten Punkt um das Zeichnen zu beenden

Galerie


In einem neuen Fenster öffnen · Im gleichen Fenster öffnen


Kommentare (9)


Kommentar hinzufügen

Aendu hat gesagt: Gratuliere...
Gesendet am 3. November 2020 um 08:01
...zu dieser steilgrasigen Tour! Nichts für schwache Nerven!

Die Zwischensicherungen (Tännchen) sehen lustig aus:-)

Gruss, Aendu

lorenzo hat gesagt: RE:Gratuliere...
Gesendet am 3. November 2020 um 10:44
Hallo Ändu

Danke für das Kompliment! Mit Zwischensicherungen, die hoffentlich nicht nur lustig aussehen, sondern auch halten würden, auch für nicht ganz starke Nerven zumutbar...

Beste Grüsse

lorenzo

Alpin_Rise hat gesagt: Herren, es ist Zeit!
Gesendet am 3. November 2020 um 12:23
Trittsicher in Fels, Gras und Vers! Eine Freude zu lesen, dass auch ein Stockwerk weiter unten Leidenschaft ins Abenteuer Neuland lockt.
Der Herbst scheint für diese Seilschaft im doppelten Sinne die ideale Zeit, gerade wenn die Sommer sehr gross waren...?

Ob uns dieser Herbst noch zwei (oder mehr) sonnige Steilflanken gibt?
G, Rise

lorenzo hat gesagt: RE:Herren, es ist Zeit!
Gesendet am 3. November 2020 um 22:07
Ja, so ein Herbsttag bereitet viel Freude, auch wenn die Zeit im Schatten nicht mehr gezählt wird, die Winde bereits losgelassen sind, und das Echo des Sommers am unwirtlichen Fels verhallt...

BaumannEdu hat gesagt:
Gesendet am 4. November 2020 um 12:28
Bravo!

lorenzo hat gesagt: RE:
Gesendet am 4. November 2020 um 22:32
Merci Edu, es het eifach g'fägt!

Dolomito hat gesagt:
Gesendet am 4. November 2020 um 20:27
wow, da habt ihr nicht nur eine wilde und auch etwas verwegene Tour gemacht, sondern auch sehr präzis beschrieben. Kleine Frage von mir : wie beurteilst du die Qualität der Felsen links von eurem Aufstieg? Sind die ev. für normal talentierte Felskletterer machbar? LG Chris

lorenzo hat gesagt: RE:
Gesendet am 4. November 2020 um 22:15
Hallo Chris

unter- und oberhalb der Grasrampe in der Gipfelwand ist der Fels z.T. fest und kompakt, z.T. aber auch instabil und brüchig, wie z.B. auf dem 8. Foto zu erkennen ist. Vermutlich ist die ganze Wand links der NW-Rinne ähnlich aufgebaut. Der gelbe Fels im unteren Wandbereich scheint Ausbrüchen zu entsprechen und brüchig zu sein. Ausserdem gibt es mehrere Überhange, die aber ev. umgangen werden könnten.

Insgesamt eignet sich das Gelände wohl eher für versierte Sportkletterer mit alpiner Erfahrung, die mit den erforderlichen Absicherungstechniken vertraut sind.

Beste Grüsse

lorenzo

Dolomito hat gesagt: RE:
Gesendet am 5. November 2020 um 20:35
Vielen Dank für deine Informationen. Hört sich ja nicht gerade einladend an. Aber vielleicht werde ich mir das Ganze mal bei Gelegenheit von Nah ansehen. Bleib Gesund und nochmals vielen Dank. LG Chris


Kommentar hinzufügen»