Piz Scerscen über die Eisnase


Publiziert von rhenus , 10. September 2019 um 09:06.

Region: Welt » Schweiz » Graubünden » Berninagebiet
Tour Datum: 1 August 1975
Hochtouren Schwierigkeit: S
Klettern Schwierigkeit: IV (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-GR   I   Piz Bernina   Bernina-Gruppe 
Zeitbedarf: 9:00
Aufstieg: 1500 m
Abstieg: 1500 m

"Hoch, anspruchsvoll und extrem einsam, das ist der Piz Scerscen". So stehts in der Website der Tschiervahütte. Ich beschrieb die Tour in meinem Tourenbuch mit den Worten: " Sehr schöne und abwechslungsreiche Hochtour mit Felix N. und Heini M. bei strahlendem Sommerwetter". Wir trafen sehr gute Firnverhältnisse vor, und ich habe die Tour auch nicht als besonders schwierig in Erinnerung.

Der Piz Scerscen liegt im Verbindungsgrat zwischen der Bernina und der Porta da Roseg. Er wurde am 13. Sept. 1877 vom damals bekannten Alpinisten und Geologen Paul Güssfeldt (1840 - 1920) aus Berlin, dem Pontresiner Führer Hans Grass (1828 - 1902) und dem Träger Caspar Capat erstmals bestiegen. Auch ihre Route führte über die Eisnase zum Gipfel und ist in den "Alpen" von 1877 ausführlich beschrieben. Sie starteten um 4 Uhr morgens auf der Alp Misaun am Fusse des Roseggletschers (heute liegt die Gletscherzunge fast 6 km weiter hinten),  betraten den Piz Scerscen erst spät am Nachmittag und stiegen nach einer Mordstour wieder zur Alp Misaun hinunter.

Güssfeldt schildert die abenteuerliche "Erste Besteigung des Monte Rosso di Scerscen" in den "Alpen" von 1877 wie folgt: "Während nun der Piz Bernina ausserordentlich häufig besucht wird, auch die Erreichung der höchsten Roseg-Spitze bei den seit mehreren Jahren herrschenden ausgezeichneten Schneeverhältnissen keine Seltenheit mehr ist, und selbst von der Crasta güzza mindestens 4 Besteigungen verzeichnet werden können, hatte sich der Monte Scerscen von allen Bergen der Gruppe einzig und allein unerstiegen erhalten. Unerstiegen, ja!  auch unersteigbar? Das war die Frage, die mir einer Lösung werth schien..." Auf 2800 m Höhe hielten sie Frühstücksrast, umgingen den "Piz Humor" (Piz Umur) auf der Südwestseite. Dann überwanden sie die 1000 Fuss hohe gefährliche Felsterrasse in "fürchterlichem Fels" und kamen zur Eisnase. " 2 Stunden lang schlug Hans (Grass) Stufen... Als er die letzte Stufe geschlagen hatte, verlangte er nach Wein; er hatte sich überanstrengt und fühlte sich für einen Moment erschöpft." Sie betraten die höchste Spitze des Monte Scerscen erst am Nachmittag um 4 Uhr 10. "Spät wie die Stunde war, mussten wir uns entschliessen, den Herweg auch zum Rückweg zu machen... Mittels eines sehr bequemen Instruments ...konnte ich zuverlässig feststellen, dass der Monte Scerscen höher ist als der Piz Roseg (3943m) und niedriger als der Piz Zupo (3999m). Man wird daher der Wahrheit sehr nahe kommen, wenn man die Höhe des Monte Scerscen auf 3971 Meter angibt (!). Als die Fahne wehte, die Flasche deponirt, meine Messung beendet, Gesteinsproben gesammelt waren, begann der Rückweg um 4 Uhr 17 Minuten. Also nur 7 Minuten war es uns vergönnt gewesen, auf der Höhe zu weilen." Um 8 Uhr abends kamen sie im Dunkeln beim Frühstücksplatz auf 2800m an, wo sie erneut rasteten: "Seit 14 Stunden hatten wir keinen Tropfen Wasser gehabt, wir mussten uns auch hier noch mit Schnee begnügen, um schlucken zu können und den durch das Austrocknen des Gaumens entstehenden mechanischen Reiz zum Erbrechen zu beseitigen; denn die 6 Flaschen Wein (!), die wir mitgenommen waren längst erschöpft..." Gegen Mitternacht erreichten sie nach einer Gewaltstour von 19.5 Stunden wieder ihr Nachtlager auf der Alp Misaun.
       

Beschreibung der Tour 
Nachdem wir am Vortag von Pontresina zur gut besetzten Tschiervahütte den sehr schönen, aber langen Weg durchs Rosegtal aufgestiegen waren, brachen wir drei (die beiden angehenden Ärzte Felix N. und Heini M. sowie ich) am 1. August etwa um halb vier Uhr morgens mit den andern Bergsteigern auf. Die meisten hatten den Biancograt als Tourenziel, einige Seilschaften den Piz Roseg. Wie es sich herausstellte, waren wir die Einzigen, die den Scerscen besteigen wollten. Im Licht der Taschenlampen folgten wir zuerst dem Normalweg in Richtung des Piz Roseg. Nach einem kurzen Abstieg gelangten wir zum blanken Tschiervagletscher, den wir nach der Montage unserer schmiedeisernen Steigeisen überquerten. Entlang von vereinzelten Steinmännern und Spuren stiegen wir über Moränenmaterial hinauf zum Ausläufer des Piz Umur, wo wir anseilten. Dann umgingen wir beim erwachenden Tag den Piz Umur auf der westlichen Seite und stiegen so zur Scharte unter der Eisnase beim Pt. 3277m auf.

Nach einer Rast folgten am Felsgrat zwei Seillängen etwa im IV. Grad mit wenigen Schlingen oder alten "Klucker-Haken", dann wurde es bis zur Eisnase etwa 2 bis 3 Seillängen einfacher. Die Eisnase, die dank Firn gut zu bewältigen war, nahm ich - soweit ich mich erinnere - als Erster in Angriff. Beim Zwischenstand setzte ich die einzige Eisschraube, die wir mitführten, ins harte Eis. Ausser den damals üblichen Eispickeln mit langem hölzernen Stiel führten wir keine weiteren Eisgeräte mit uns. Nach 2 Seillängen oder etwa 70m hatten wir die ca. 50° steile Eisnase überschritten, nun folgte weniger steiler, weiterhin gutgriffiger Firn und wir gingen am kurzen Seil. Von nun an in der Sonne eines prächtigen Tags steigend, erfreuten wir uns an der traumhaften Aussicht zum Piz Roseg zu unserer Rechten bzw. zum Biancograt zu unserer Linken. In gleichmässigem Schritt trotteten wir bis zum Bergschrund auf, den wir ohne Probleme überwinden konnten. Dann stiegen wir in wiederum steilerem Firn in den Felsgrat links vom Scerscengipfel. In kombinierter Kletterei bzw. in den trockenen südexponierten Gipfelfelsen stiegen wir vom Grat in kurzer Zeit zur höchsten Spitze des Scerscen auf, wo wir zu unserem Erstaunen nur wenige menschliche Spuren vorfanden (kein Gipfelbuch). 

Wir hatten den spitzen Gipfel für uns alleine und genossen bei warmen Temperaturen im Gegensatz zu den Erstbegehern eine lange Gipfelrast. Wir beschauten das wunderbare Panorama auf der Landesgrenze und Wasserscheide zwischen der Adria, in das die Adda aus dem Veltlin bzw. der Po mündet, und dem Schwarzen Meer, in das sich der Inn bzw. die Donau ergiesst. Auf der Südseite imponierte uns besonders der 800m tiefe, fast senkrechte Absturz zum italienischen Scerscengletscher. Auf der nahen Bernina und dem Piz Roseg erblickten wir bei unserer Mittagsrast etliche weitere Bergsteiger, die mit uns in der Tschiervahütte übernachtet hatten und was uns bei diesem Prachtswetter nicht weiter verwunderte.

Da wir anderntags den Biancograt besteigen wollten, kam für uns eine Traversierung über den etwa 800 m langen, zackigen Grat zum Piz Bernina hinüber von vornherein nicht in Frage. So gingen wir in unseren Aufstiegsspuren wieder runter, in den weniger steilen Passagen am kurzen Seil. Die steile Eisnase stiegen wir gegen das Eis gewandt, gesichert an unserer einzigen Eisschraube, vorsichtig ab. Die Felsen kletterten wir runter bzw. seilten uns wenige Male im damals üblichen Dülfersitz ab. Bei sommerlichen Temperaturen erreichten wir am frühen Nachmittag wieder die Tschiervahütte, wo wir uns für die tags darauf kommende Berninaüberschreitung ausruhten. Gegen Abend trafen wir auch zwei Kollegen unserer Sektion (This Isler und Hans Saxer), die anderntags den Piz Roseg in Angriff nahmen. Auf der Hüttenterrasse freuten wir uns bei einem guten Glas Wein über die tolle Tour und feierten auch den 1. August, bevor wir uns für wenige Ruhestunden in die diesen Abend vollständig ausgebuchte Hütte begaben, welche damals noch nicht über den heutigen Annexbau verfügte. Leider sind die wenigen farbigen Originalfotos inzwischen abgeschossen und nur von geringer Qualität.

Nachtrag: Bergsturz am Piz Scerscen vom 14.4.2024 
"Die wenigen Bergstürze, die wir miterlebten, haben den Eindruck hinterlassen, die Bergstürze seien ganz ungewöhnliche, ausserordentliche Erscheinungen. Allein, es ist nicht so. Im Gebirge.... haben sie ihr Heimatrecht. Sie müssen mithelfen am Modellieren und am Schleifen der Gebirge.... Im Gebirge haben wir von Zeit zu Zeit von Ort zu Ort Bergstürze zu erwarten". An diese zutreffenden Worte des Schweizer Geologen Albert Heim erinnere ich mich jedes Mal, wenn wieder irgendwo ein Bergsturz niedergeht, wie jener am 14. April 2024 am Piz Scerscen. Dieser Bergsturz reiht sich in eine ganze Reihe ähnlicher Ereignisse ein. Für die Schweiz seien etwa der wahrhaft riesige Flimser Bergsturz vor etwa 9'000 Jahren (Volumen von 13'000 Mio m3), der Bergsturz von Goldau im Jahre 1806 (40 Mio m3), der durch das Schieferbergwerk ausgelöste Bergsturz von Elm im Jahre 1881 (10 Mio m3), der Bergsturz von Randa im Jahre 1991 (30 Mio m3), der Bergsturz von Bondo im Jahre 2017 (4 Mio m3) und der Bergsturz von Brienz im Jahre 2023 (1.2 Mio m3) erwähnt. 

Etwas vor 7 Uhr morgens des 14.4.2024 ereignete sich der massive Bergsturz an der Westflanke des Piz Scerscen. Das Volumen des Bergsturzes wird auf 3 bis 5 Millionen Kubikmeter geschätzt und ist damit mit dem Bergsturz am Pizzo Cengalo bei Bondo GR aus dem Jahre 2017 vergleichbar, siehe hier. Die Narbe im Berg mit einem Anrissgebiet auf ca. 3'400 m ist auf den Fotos deutlich erkennbar. Die abgestürzte Gesteins- und Eismasse verteilte ich auf einer Länge von ca. 5.6 km entlang der ehemaligen Ausdehnung des Tschiervagletschers. Der Tschiervagletscher wurde abrasiert und wohl mit Dutzenden Meter Geröll überschüttet. Suchflüge haben im Gegensatz zum Bergsturz von Bondo glücklicherweise keine Hinweise auf verschüttete Menschen gebracht. Von einer Begehung des Bergsturzgebietes wird abgeraten, da Nachstürze zu befürchten sind. Insbesondere Querungen des Tschiervagletschers zu Piz Roseg, Piz Scerscen und Piz Aguagliouls sind betroffen. Die Eisnase am Scerscen scheint gemäss den verfügbaren Fotos jedoch nicht betroffen zu sein (Fotos der Südostschweiz vom 15.4.2024). Gemäss Angaben des zuständigen Bündner Amts für Wald und Naturgefahren habe es keine Anzeichen für einen Bergsturz dieser Grössenordnung gegeben, was doch sehr erstaunt. Denn normalerweise kündigen sich Bergstürze an, wie der bekannte Schweizer Geologe Albert Heim in seinem oben zitierten Alterswerk "Bergsturz und Menschenleben" ausführt. Schon im Jahre 2023 und in früheren Jahren ereigneten sich am Piz Umur vermehrt Felsstürze, sodass die üblichen Zustiegsrouten zum Piz Roseg und zum Piz Scerscen nicht mehr begehbar waren.


Tourengänger: rhenus


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