Spaltenspringer


Publiziert von rojosuiza , 28. Januar 2017 um 19:20.

Region: Welt » Schweiz » Bern » Jungfraugebiet
Wandern Schwierigkeit: T5 - anspruchsvolles Alpinwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-VS   CH-BE 
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Jungfraujoch - Bahn
Zufahrt zum Ankunftspunkt:Belalp - Seilbahn Blatten - Postauto Brig - Bahn
Unterkunftmöglichkeiten:Driest-Hütte Hotel Belalp

 

Es gehen Wandrer um in hikr, die mit Steinen singen und mit Blättern sprechen. Dazu gehöre ich nicht. Zwar singen ab und zu Plättchen um mich herum, hauptsächlich unter meinen Bergschuhen, zwar habe ich mich auch schon ertappt beim Fotografieren und Publizieren von einem Blatt. Reden und Singen dürfen sie bei mir im weiteren nicht.

Ich vermute, dass die Erscheinung auf die Strahlung im Gebirge zurückzuführen ist - je länger und je höher einer in der Bergwelt weilt, desto stärker wirkt sie im Lauf der Zeit wohl. rojosuiza wohnt ja fast unter dem Meeresspiegel und ist von der Abgas- und Luftdecke über sich etwas besser geschützt.

 

Der Blätterraschler hebt die Geschichte an, wie man im obskuren Tessiner Bergtal fast ums Leben kommen kann, wenn man den Weg verliert und man seine Fünf Sinne einen nach dem anderen davonflattern sieht. In der Tat, nur die Ruhe kann es bringen, und schliesslich kommt der Bergheld dann immer wieder davon... Ausser an dem einen Male, wo er denn eben... Schweigen wir weiter davon, die Gedanken sind wieder einmal zu frei.

 

Ich möchte gern auch eine solche Geschichte erzählen. Aber sie muss unter uns bleiben, ich will nicht, dass einer sie herumerzählt. Man will ja der Jugend kein schlechtes Vorbild sein.

 

Ihr wisst, dass der Mensch, je älter er wird, immer klüger wird. Den heutigen, lebensklugen rojosuiza gab es damals noch gar nicht. Das wäre Raupe mit Schmetterling vergleichen. Manche Züge finden sich dann aber doch in beiden...

 

Damals war der Bergheld jung und schön. Es gab kein freilaufendes Telefon. 'The lure of the mountain' war im Zenith! Da verschlug es den Helden und seinen Gespielen in ein Hotel in Spiez. Das nahm sie gastlich auf, hatte aber in den nächsten Tagen eigentlich geschlossen... was später noch wichtig werden wird.

 

Man wollte Tourist spielen, mit der Bahn aufs Jungfraujoch fahren; dorten herumstehen und in die Weite hinaus fotografieren, wie alle Touristen zu tun pflegen. Danach mit der Bahn  wieder hinunterfahren. Wer kennt das Jungfraujoch nicht, es ist doch einfach zauberhaft bei schönem Wetter, nicht wahr?

 

Der Bergheld liess die Ausrüstung, die damals sowieso ganz rudimentär war, zurück im Hotel. Bergschuhe hatte er an den Füssen, eigentlich eher Wanderschuhe, und einen Rucksack hatte er bei sich. Der Rucksack war mehr oder weniger leer. Eine Karte von dem Gebiet war darin, sodass man auch zu sagen wusste, was man denn alles sah um sich herum.  Ganz, ganz spät ging man ab Spiez los - man war in den Ferien und konnte also ausschlafen! - von Bahn zu Bahn, bis man schliesslich oben war, um 14:00.

 

Ein Blick wirft rojosuiza auf das Panorama, und es ist geschehen. Strahlende Sonne, leuchtendes Licht, gleissendes Weiss, blauestes Blau! Kein Zweifel: rojosuiza wird die Bahn schiessen lassen und hier und jetzt über Firn und Gletscher hinabspulen nach Brig. Eine volle Stunde nimmt er sich jetzt Zeit, um den sehr zweifelnden Lebensgefährten zu überzeugen, dass dies das einzige richtige ist, und es ihm nicht zugemutet werden kann, sich an Vernunft und Versprechen zu halten. Heute abend ist er gewiss in Spiez zurück, dieses Stückchen Weg ist ab hier doch ganz und gar zu übersehen,  man kann ja gar nichts falsch machen. Immer hinab, immer geradeaus, und weiter unten hat man zusätzlich ja genaue Ortskenntnis, es kann nicht fehlen. Der Partner glaubt dem Helden nicht alles; so zwängt er ihm seinen lächerlichen Wanderstock mit Eisenspitze auf, der kann auf einem Gletscher nützlich sein...

 

Um Punkt 15:00 stürzt der Held sich ins Abenteuer, ausgerüstet denn halt mit Wanderstock mit Eisenspitze. Will er heute Abend glücklich in Spiez in seinem Hotelbett liegen, muss jetzt nur etwas Dampf  machen. Wenn er erst einmal am Gletscherende ist,  bei der in den Fels gehackte Riesenrampe für die Schafherden...da ist man fast schon in Brig... und wer in Brig ist, ist auch in Spiez...

 

Abwärts ist immer leicht. Bei Sonne und guter Sicht ist Richtungsfindung Kinderspiel. Im Nu ist der Bergheld, ohne zu Rutschen, auf dem Konkordia-Platz. Der ist heiter und alles darum herum leuchtet und glänzt. Zu Füssen leuchtet und glänzt es auch, das ist das Schmelzwasser, was auf den ebenen Flächen liegt. rojosuiza hat aber keine Zeit, sich nass werdender Füsse zu freuen, er muss weiter, so schnell es geht, hinab zur Bahn nach Brig. Es kommen bald einige Risslein, die sich weiten zu Spältlein, die werden zu grossen Rissen und nehmen schliesslich den Charakter von veritablen Spalten an. Sind sie überwindbar? - Ja, ganz gewiss. Der Bergheld überspringt sie mit einer Leichtigkeit! Er ist ja jung und frisch. Die Spalten werden allerdings immer etwas weiter und etwas breiter. Nur immer vorwärts... Allerdings wird mit jeden weiteren Satz abwärts die Möglichkeit zu einem eventuellen Rücksprung aufwärts ein wenig kleiner. Schliesslich wird es dem klugen kleinen Wicht auf dem Eis klar: aufwärts und zurück geht nimmermehr, abwärts ist nicht klug: also wollen wir es jetzt seitwärts probieren. Ostwärts liegt die Hütte, da will rojosuiza nicht hin, zu viel Volk. Westwärts sind die Randmoränen am Dreieckshorn, daran kann der Held sich weiterschleichen...

 

Wumm! Mit furchbarem Donnern rast ein Stück Eis in die Tiefe, ganz knapp hinter rojosuiza. Was festgefügt schien, ist hinabgeschossen in den Hades. Es ist ein Splitter von dem Wulst, von dem der tapfere Wanderer vor Sekunden gerade abgesprungen ist! Um Gottes willen, was hätte nicht alles passieren können... Um Gottes Willen, nur weg hier! Wie ein Gummibällchen springt es auf dem Eise nun dahin, von Wulst zu Wulst, über eine Spalte nach der anderen, nach Westen, immer zum Dreieckshorn, ans rettende Ufer.

 

Die Sonne leuchtet. Die Sicht ist wunderbar und gut. rojosuiza springt wieder... und er springt bis zur Mitte hindurch ins Eis! Er ist hindurchgesprungen, durchs Eis hindurch! Ein rascher Blick nach unten: die Füsse baumeln elend in die Leere. Nur die Ellenbogen halten den Helden. Rechts ruhen sie verschreckt auf Eis, links auf dem alten Schnee der Schneebrücke. Wäre der Körper etwas leichter gewesen, sie hätte gehalten - etwas schwerer, er hätte den Altschnee ganz durchstossen und der Spaltenspringer wäre jetzt rettungslos versenkt in der engen Spalte. Hat man Zeit zum Überlegen? - Keine Sekunde! Die Ellenbogen werfen sich nach unten, der Körper schnellt wie ein Sprungfeder heraus aus der Spalte und rojosuiza wird förmlich aufs Eis geschossen - und wie ein Hase rennt das Menschlein kopflos davon...

 

Wie es möglich ist, dass ein Knäblein von schwacher Statur dazu imstande sein kann, das entzieht sich dem menschlichen Fassungsvermögen - nur dem Adrenalin sei Dank! Der Hase schlägt auf dem Eis Haken um Haken, um Spalten und Wannen herum, und erreicht schon fast das rettende Ufer...

 

Die Bergschuhe geben guten Halt auf dem Eis. Es ist heller Tag. Aber vor dem Berghelden läuft eine scharfe Linie, der Bergschatten des Dreieckhorns. Kaum in ihn eingetreten ist's mit dem guten Halt vorbei. Wo das Eis mit Schutt besät ist, geht das Rennen und Fliegen weiterhin gut, aber da vorne kommen grossen Trichter, über die der Weiterweg zum Ufer führen muss. Sie sind oben lächerlich weit, haben schmale , mit Steinchen gesprenkelte Ränder , und am tiefsten Punkt des Trichters lauert dann, nun Blankeis,und eine kleine Spalte im Blankeis. Nein, tückisch wie die letzten sind diese nicht. Nur darf einer nicht ohne Steigeisen kommen... Mit den Steigeisen läuft der Bergnarr voller Lust um diese Spalten herum, und er lacht, kreuz und quer läuft er, ganz wie er will. Aber wenn einer nur auf die Adhäsion seiner Schuhe bauen kann? - Es muss riskiert werden. Die schmalen, gesprenkelt Ränder, sie geben sicheren Durchgang, wenn... ja, wenn man dem Rand nicht vor lauter Angst zu nahe kommt. Rutschen kann man hier ja beidseitig, auf die linke Seite in des wartende Loch, oder auf die rechte Seite in das wartende Loch. Es muss trotzdem gewagt sein, rojosuiza wagt es! Er ist schon fast aus dem Pfannenkuhlen-Gebiet heraus, da fühlt er, dass als nächstes sein rechter Fuss abgleiten wird... und danach gleitet alles weg und es rutscht hinunter ins wartende Loch. Peng! steckt der lächerliche Wanderstock (mit Eisenspitze) genau neben dem Fuss im Eis. Er stoppt das Gleiten, noch bevor es recht beginnt. rojosuiza kan den anderen Fuss erneut positionieren, sodass er ihm festen Stand gibt, und dadurch überwindet er das gierige Maul unter sich.

 

Man schaue auf die Karte. Wer unter dem Konkordia-Platz sein Eis-Abenteuer beenden will und dann den Zug in Brig nehmen will - er is nicht mir nichts, dir nichts am Ziel. Das Gehopse über Gletscher, und Schutt, und über Gletscherschutt dauert und dauert, die Schafs-Rampe ist auch noch in weiter Ferne. Statt dass sie kommt, geht das Licht. Der Tag ist vorbei. Ein letzter Blick noch auf die Karte, den Versuch machen, sich das Kartenbild einzuprägen, dann dunkle Nacht. Das Lauftelefon ist noch nicht erfunden, habe ich das schon gesagt? Und die Taschenlampe ist zur Zeit des Geschehens auch noch nicht erfunden, sonst kann man sich beihnahe nicht vorstellen, dass jetzt keine zur Hand sein soll... Im steilsten Stück im Geröll gleich oberhalb des Gletschers ist es fast völlig finster. Aber rojosuiza klagt nicht. Er fühlt sich sicher auf dem Festland, wie schon stundenlang nicht mehr auf dem wilden Wellengewoge des Eises. Er klettert steil hinauf, gerät schliesslich in ein Gebiet mit etwas Graswuchs - und darin verläuft ein Weg...

 

Dem Weg folgt er schliesslich bis nach Brig, dort nimmt er den Zug, und programmgemäss kommt er bald darauf in Spiez an...

Manchen Leuten geht die Fantasie durch... oder sie Lügen halt gern.

 

Dunkel ist's, und rojosuiza geht ein Licht auf: es sind Tierpfade.Auf ihnen kann man zwar auch etwas leichter hinansteigen, als pfadlos hinaufzukraxeln, aber ans Ziel, zu Menschenbehausungen! führen diese Pfade nicht. Nach einer halben Stunde is es soweit, rojosuiza übersteigt eine Kuppe und übersieht zum ersten Mal, was er gerade mühselig erklettert hat. Was sieht er denn, der Bergheld, wo es doch finstere Nacht ist? Was zeigt das wenige Mondlicht? Er sieht und hört: Schafe. Die Macher der Pfade, hier sind sie. Darüber, weit, weit oben strahlt etwas, kalt und hell: es scheinen Hängegletscher, die über dem Standort des müden Wanderers hängen. Eis und Gletscher! sonst Zeichen der Freude, jetzt wendet der Held sich nur ab und weint bitterlich. Eis will er nicht sehen, Eis hat er genug gehabt. Einen Weg will er sehen, der Weg, der ihn hin zur Rampe führt und nach Brig hinab zum Zug.

 

Der Mensch hat den Restlichtverstärker erfunden. Dieser Mensch ist rojosuiza nicht. Durchs Fernglas spähen, bei dieser Beleuchtung, was hat es für einen Sinn? Einen Weg findet man so doch nicht! - Aber was ist das? In der Ferne steht ein dunkler Block. Es muss ein riesenhafter Steinblock sein, er steht doch in einiger Entfernung, aber vielleicht kann man in seinen Windschatten etwas geschützter schlafen, als hier zwischen dummen Schafen? Es gibt hier viele kleine Wasserläufe, es ist nicht leicht, den Block zu erreichen. Das Glück ist einem aber hold, schliesslich ist man dort. Was ist es denn nun also?

 

Ohne zu wissen, was man sucht, hat man gefunden, was man hätte suchen sollen. Jahrzehnte später in seinem Leben sucht rojosuiza hier, was er damals gefunden hat, und er findet es nicht. Hier liegt also einer der Fälle vor, wo die Weisheit des Alters sich als völlig wertlos erweist, und alles Wissen der Welt hilft nicht gegen die Dummheit des Geschöpfs! Aber jetzt, jetzt ist rojosuiza beschütz und behütet, denn er hat gefunden, was er nicht zu suchen gewagt hätte: die Driest-Hütte.

 

Man suche sich nur, rojosuiza hat sie abgebildet, sie steht auf 'hikr'. Sogar am hellheiteren Tag ist das Bild ein Suchbild. Die Hütte gibt Schutz und Wärme, es gibt Betten und Wolldecken, es gibt Ordnung und Kultur. Für die Nacht ist rojosuiza aufgehoben wie in Abrahams Schoss, während draussen Herumstolpern leicht Hals- und Beinbruch bedeuten könnte, ganz wortwörtlich! Man muss nur ganz kurz den Gedanken wegdrücken an das Spaltenspringen; an die eigenen Beine, wie sie hilflos in der Spalte strampeln; und an den Hängegletscher über sich, wie er herabkrachen würde... und dann schläft der Gerechte tief und fest bis zum Tageslicht.

 

Am nächsten Morgen spult der Held dann wie aufgezogen oder wie gezogen von einem unsichtbaren Schnürchen hinab nach Brig zu seinem Zug.

 

Habe ich schon gesagt, dass das Lauftelefon noch nicht existiert hat? Habe ich schon gesagt, dass das Hotel zu ist, und damit die Rezeption keine Nachrichten annehmen kann? rojosuiza erreicht die Familie von der Belalp aus, und gibt dort Entwarnung. Aber der Lebensgefährte selber, der ist unerreichbar...

 

Schliesslich findet er ihn wieder, am Bahnhof in Spiez. Dort hat er jeden Zug abgewartet aus Brig, bis hin zum letzten in der Nacht, und alle anderen seit heute Morgen in er Früh. Man fällt sich in die Arme unter Tränen, und alles ist vergeben und vergessen und wieder gut, und so weiter...

 

Oder es kann auch sein - habe ich das schon gesagt? - dass es doch ganz anders war beim Wiedersehen, da manche Leute immer fabulieren und wohl auch gerne einmal ein kleines bisschen lügen...

 

 

 


Tourengänger: rojosuiza
Communities: Alleingänge/Solo


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Kommentare (6)


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bergler82 hat gesagt: ?
Gesendet am 28. Januar 2017 um 19:37
Heute schon was geraucht

rojosuiza hat gesagt: RE:?
Gesendet am 28. Januar 2017 um 20:01
...manchen gelingt's auch ohne Rauch...

silberhorn hat gesagt: ********************:-)))))))))))))))
Gesendet am 29. Januar 2017 um 20:46
Eine ganz andere Geschichte als üblich und doch nicht ...

LG,maria

rojosuiza hat gesagt: RE:********************:-)))))))))))))))
Gesendet am 29. Januar 2017 um 20:51
Wirklich anders wäre die Geschichte gekommen, wenn ich den Kopf nicht hätte aus der Schlinge ziehen können...

Aber, wie sagt unser Föifliber: Dominus Providebit!

mong hat gesagt:
Gesendet am 27. Oktober 2017 um 17:34
Erst jetzt gesehen, diesen spannenden Bericht.

Abenteuerliche Tour!

Da hast du einen guten Schutzengel gehabt, in der Spalte hängend ;-)

rojosuiza hat gesagt: RE:
Gesendet am 27. Oktober 2017 um 18:16
Ohne Schutzengel geht rojosuiza nicht Wandern, wo kämen wir da hin...


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