Das Geheimnis des Wanderns


Publiziert von mong , 17. September 2016 um 03:52.

Region: Welt » Schweiz » Tessin » Bellinzonese
Tour Datum:23 August 2006
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-TI   Gruppo Poncione Rosso 
Zeitbedarf: 6:00
Aufstieg: 1028 m
Abstieg: 1028 m
Strecke:Lodrino ➙ Pronzolo ➙ Pianascio ➙ Bergnauri ➙ Lodrino
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Mit dem Bus von Biasca nach Lodrino
Zufahrt zum Ankunftspunkt:Mit dem Bus von Lodrino nach Biasca
Kartennummer:1293 OSOGNA

Beim Wandern denke ich ständig irgendeinen Unsinn, zum Beispiel diesen: Wenn es irgendetwas auf unserem Planeten nicht gibt, dann ist das die Zeit. Die Zeit gibt es nicht. Denn wenn es die Zeit gäbe, dann gäbe es den Augenblick nicht, weil der Augenblick das Gegenteil der Zeit ist.

So wie ich es sehe, ist der Augenblick die kleinste Zeiteinheit, die man sich vorstellen kann, und so wie ich informiert bin, hat die kleinste Zeiteinheit, die es gibt, auch eine Zahl. Alles was eine Zahl hat, ist statisch, bewegungslos. Der Augenblick ist also bewegungslos.

Dann frage ich mich natürlich sofort, wie es kommt, dass ein bewegungsloser Augenblick in einen anderen Augenblick hinüber wechselt. Denn etwas, was sich nicht bewegt, kann sich ja nicht in etwas anderes - in diesem Fall nicht in einen nächsten Augenblick - verwandeln. Denn dazu müsste sich etwas Unbewegtes in das nächste Unbewegte bewegen. Aber das ist völlig unmöglich.

Oh mein Gott, das ist schwierig. Ich beginne zu schwitzen....das hingegen ist zwar nicht schwierig, denn heiss ist es heute sowieso im Val di Lodrino.

Mittels einem Foto kann ich (und andere Leute auch, schon klar)  zwar beweisen, dass es den Augenblick gibt. Aber dass es die Zeit gibt - das konnte bisher, soviel ich weiss, noch niemand beweisen. Warum nicht? Ganz einfach. Weil die Zeit entweder bereits vergangen ist, oder erst noch kommt. Die Zeit ist immer damit beschäftigt, entweder zu kommen oder zu gehen - nur stehen bleiben kann sie nicht, die Zeit, dieser elende und verantwortungslose Vagabund, und genau das ist die Schwäche der Zeit. Sie kann nicht stehenbleiben.

Darüber habe ich mich schon oft geärgert, auf meinen Wanderungen, wenn es schön war, dass die Zeit nicht stehenbleiben kann. Dabei weiss ich immer noch nicht ganz genau, ob die Zeit nicht stehenbleiben will oder ob sie einfach unfähig ist, stehenzubleiben. Das Tragische ist, dass nicht einmal der Augenblick fähig ist, stehen zu bleiben. Sogar der Augenblick ist in ständiger Bewegung - von einem Augenblick zum andern, obwohl das - logisch gesehen - völlig unmöglich ist, weil jeder Augenblick statisch ist - also bewegungslos.

Und trotzdem fliesst ein Augenblich irgendwie in einen anderen Augenblick hinüber, und ich frage mich (und andere Leute auch), wie das überhaupt möglich ist. Denn zwischen einem Augenblick und dem nächsten Augenblick ist ein Abgrund, den die Zeit überspringen muss. Wie macht sie das nur, die Zeit? Aber eben, kümmert sich die Zeit um irgendwelche Widersprüche? Nein. Die Zeit steht über der Logik und über den Widersprüchen des Verstandes. Nur durch ein Foto kann ich beweisen, dass ich in Bergnauri war. (Aber ein Foto von Bergnauri werde ich erst in meinem nächsten Bericht hochladen, weil ich heute Nacht einfach nicht mehr mag.)

Aber eben - was ich eben gerade vorher erzählt habe, ist natürlich ein totaler Unsinn, denn in 500'000 Jahren werden meine Fotos verschwunden sein, und niemand wird sich mehr an sie erinnern - was natürlich ebenfalls ein Unsinn ist, denn das weiss ich ja gar nicht. Ich weiss ja nicht, was in 500'000 Jahren sein wird. Ja, so ist das, und während ich diesen Gedanken über die Illusion der Zeit nachgrüble, bin ich unterwegs von Pronzolo nach Bergnauri.

Was passiert eigentlich, während ich wandere. Ich setze einen Fuss vor den andern. Ich mache einen Schritt vorwärts und dann kommt der nächste Schritt. Aber was passiert zwischen den Schritten? Nichts? Geht nicht, denn nichts gibt es nicht, sonst wäre es nicht nichts. Aber zwischen den einzelnen Schritten muss etwas sein, sonst gäbe es ja nicht viele Schritte nacheinander, sondern nur einen einzigen, riesengrossen, weltumspannenden Schritt.

Aber was ist das, was zwischen den einzelnen Schritten ist? Das Vakuum? Der leere Raum? Die Leere des Buddha? Oder vielleicht sogar ein Zeitloch? Ist es möglich, dass einige der Personen, die jedes Jahr auf unserem Planten verschwinden und nie mehr auftauchen, in einen leeren Raum zwischen den Schritten hineingeplumpst sind und nun in einem Paralleluniversum weiterleben? Kein noch so genialer Wissenschaftler hat das bisher herausgefunden, und darum ist das Wandern ein Geheimnis - und zwar seit seinen Anfängen (also ungefähr seit den Völkerwanderungen der Indogermanen nach Osten und Westen, oder schon vorher) bis heute.

Niemand weiss, was das Wandern ist. Und genau darum wird das Wandern immer beliebter. Warum? Weil das Wandern eines der letzten Rätsel ist, die uns Erdenbewohnern - ausser dem Leben und dem Tod - noch geblieben ist zu lösen. Sobald wir das Rätsel des Wanderns gelöst haben werden, wird kein müder Knochen mehr wandern gehen, weil es nur noch langweilig sein wird.

Wir Menschen lieben das Neue, die Zukunft, die Rätsel, die Geheimnisse. Und wo kann man die Geheimnisse besser erfahren als beim Wandern? Na ja - eben nirgendwo sonst.



Wegbeschreibung:

Von Lodrino steigt man hinauf nach Pronzolo und dann wandert man dem Weg entlang nach Pianascio und dann nach Bergnauri. (Von Bergnauri werde ich aber erst in meinem nächsten Bericht ein Foto hochladen, weil es heute schon spät ist und ich im Moment einfach nicht mehr mag.) (Das habe ich zwar schon gesagt.) (Ist ja egal, oder nicht?)

Tourengänger: mong


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Kommentare (25)


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Henrik hat gesagt: Nu oder nicht Nu
Gesendet am 17. September 2016 um 13:23
„Alles, was dir begegnen wird, ist leider nicht zu vermeiden“ von Sören Kierkegaard - das ist mit der Zeit die Zeit und der Augenblick schlechthin – Danke für die Gedankenwälzerei!

mong hat gesagt: RE:Nu oder nicht Nu
Gesendet am 18. September 2016 um 00:19

Chronos = Zeitquantität
Kairos = Zeitqualität

(habe eben gegoogelt)

Danke für dein Feedback ♬♫♬

Kik hat gesagt:
Gesendet am 17. September 2016 um 15:34
zyt isch nid zahl nid schtrecki
zyt isch es löcherbecki
wo scho nach churzem ufenthalt
der mönsch z'dürab i d' unzyt fallt

Kurt Marti

Viele Grüsse Kik

mong hat gesagt: RE:
Gesendet am 18. September 2016 um 00:17
Das gibt's ja nicht! Alles was ich - des Langen und Breiten - versucht habe, während der Wanderung im Val di Lodrino aus mir heraus zu quetschen, bringt Herr Marti locker in vier Zeilen auf den Punkt. Peinlich für mich ♬♫♬

Lieber Gruss
Jerry

silberhorn hat gesagt: RE:
Gesendet am 18. September 2016 um 14:00
"Denn zwischen einem Augenblick ist ein Abgrund, den die Zeit überspringen muss."

Nö, sie gleitet darüber hinweg...

LG, maria

mong hat gesagt: RE:
Gesendet am 18. September 2016 um 19:15
Hallo Maria

> sie gleitet darüber hinweg...

Du könntest recht haben:

> Dort erscheint Chronos, der Gott der Zeit, als bartlose Gestalt mit großen Flügeln.

⬇︎☟⬇︎
/de.wikipedia.org/wiki/Chronos

Zugegeben: Mit Flügeln überspringt man keinen Abgrund - man gleitet darüber hinweg.

(Wieso der Gott der Zeit bartlos sein muss, weiss ich aber nicht ;-)


Kik hat gesagt: RE:
Gesendet am 18. September 2016 um 16:46
Nichts von peinlich. Kurt Marti ist schon 29 Jahre gewandert, als Du Deinen Weg gerade begonnen hast. Wir wandern, also denken wir…und Du schreibst, also dürfen wir ein bisschen in die gleiche Richtung wandern - denken. Danke.

mong hat gesagt: RE:
Gesendet am 18. September 2016 um 20:46
Schöner Gedanke ♬♫♬

georgb hat gesagt: Was ist zwischen zwei Schritten?
Gesendet am 18. September 2016 um 14:25
Das ist eine der großen Fragen der Menschheit. Danke mong für diesen mir neuen Denkanstoß!

mong hat gesagt: RE:Was ist zwischen zwei Schritten?
Gesendet am 18. September 2016 um 20:14
Hallo Georg

Danke dir für dein schönes Feedback!

> Was ist zwischen zwei Schritten?
So wie ich dich einschätze, wirst du uns allen schon bald einmal die endgültige Antwort auf Hikr präsentieren ♬♫♬


georgb hat gesagt:
Gesendet am 18. September 2016 um 22:23
Mit einer endgültigen Antwort werden die wunderbaren Fragen überflüssig. Wäre schade, oder?
Grüße an den großartigen Fragensteller mong ;-)

silberhorn hat gesagt: Zeit. Zeit,
Gesendet am 18. September 2016 um 16:43
Sali Jerry

Habe noch ein bisschen über den "Abgrund" Satz sinniert und denke die "mechanische Zeit", also die vom Menschen erfundene müsse manchmal sehr wohl über einen Abgrund springen. Als Beispiel die Schweizer Bahnhofuhr. Der Sekundenzeiger bleibt jeweils bei 00:59 stehen. Danach überspringt er eine Minute und landet bei der vollen Stunde.

Die "natürliche Zeit" die gleitet. Wie vom Wach- in den Schlafzustand. Müsste sie hier über einen Abgrund springen wäre nix mir Einschlafen.

mong hat gesagt: RE: Zeit. Zeit,
Gesendet am 18. September 2016 um 20:44
> also die vom Menschen erfundene

Damit berührst du meiner Meinung nach ein ganz tiefes Geheimnis, was die Zeit betrifft.

Die Frage ist nämlich, ob die Zeit nur in unseren Köpfen existiert, oder ob sie auch ohne unsere menschliche Mitwirkung existiert.

Oder anders gesagt: Gäbe es die Zeit auch, wenn niemand da ist, der sie wahrnehmen kann?

Ok, bei den Katzen bin ich sicher, dass sie sich langweilen können. Also kennen sie die Zeit.

Na ja....immerhin bringt einem das Wandern auf seltsame Gedanken, die einem Formel-1-Rennfahrer während eines Rennens wahrscheinlich nicht kommen ;-)

Danke für dein Interesse!
Gruss, Jerry

silberhorn hat gesagt: RE: Zeit. Zeit,
Gesendet am 18. September 2016 um 20:58
Die "natürliche Zeit" ist von Menschen unabhängig. Allerdings ohne Namen.

In Worten der "mechanischen Zeit": Augenblicke, Sekunden, Stunden, Tage (Tag und Nacht), Wochen, Monate, Jahre. Die Jahreszeiten egal auf welchem Kontinent. Mond Auf- und Untergang und der Vielen mehr.

mong hat gesagt: RE: Zeit. Zeit,
Gesendet am 18. September 2016 um 21:06
Die Frage ist, ob ein Berg auch dann noch existiert, wenn es kein Bewusstsein gibt, das ihn wahrnimmt.

silberhorn hat gesagt: RE: Zeit. Zeit,
Gesendet am 18. September 2016 um 22:02
Was war zuerst da, das Ei oder das Huhn.

mong hat gesagt: RE: Zeit. Zeit,
Gesendet am 19. September 2016 um 06:28
Zuerst war der Hühnerdieb ♬♫♬

georgb hat gesagt:
Gesendet am 19. September 2016 um 08:55
nein, vorher war der Hahn am Werk ;-)))

silberhorn hat gesagt: RE: Zeit. Zeit,
Gesendet am 19. September 2016 um 17:00
"Die Frage ist, ob eine Berg auch dann existiert, wenn es kein Bewusstsein gibt, das in wahrnimmt."
"Was war zuerst da, das Ei oder das Huhn."

So um die 1970er Jahre kursierte eine Aussage die lautete in etwa: Die Natur (Erde, Kosmos) existiert nur weil der Mensch sie wahrnimmt.

mong hat gesagt: RE: Zeit. Zeit,
Gesendet am 19. September 2016 um 19:05
Hallo Maria

So ist es!
(ausser, dass diese Aussage schon vor den 70er Jahren kursierte):

> Die Welt existiert nicht - außer, wir nehmen sie wahr.

⬇︎☟⬇︎
[/www.getabstract.com/de/zusammenfassung/klassiker/eine-abhan...]

silberhorn hat gesagt: RE: Zeit. Zeit,
Gesendet am 19. September 2016 um 19:54
Aber ganz sicher kursierte die Aussage um die 1970er in Basel unter Gleichgesinnten!

Danke für den Link! Suchte gestern danach ohne fündig zu werden. Lese den Artikel jedoch später.

mong hat gesagt: RE: Zeit. Zeit,
Gesendet am 19. September 2016 um 20:10
Also, ich habe nicht bestritten, dass es diese Aussage in den 70er Jahren gab. Ich wollte nur zeigen, dass diese These schon älter ist. Vielleicht gab es diese These schon, seit die Menschen von den Bäumen gestiegen sind und denken gelernt haben - was weiss ich ;-)

silberhorn hat gesagt:
Gesendet am 19. September 2016 um 16:54
Kik, ein lustiges Gedicht des in der Schweiz bestens bekannten Schriftsteller und Pfarrer Kurt Marti. Habe es abgeschrieben.

Sunnige Gruess
maria

Runner hat gesagt:
Gesendet am 20. September 2016 um 13:58
Interessant: wenn es die Zeit nicht gibt, den Augeblick aber schon und dieser die kleinste Einheit der Zeit darstellt... verwirrend! Aber eben - was ist Zeit? Das fragte schon Udo Jürgens und die Antwort bleibt bis heute offen. Und wenn es die Zeit nicht gibt so ist das damit erklärbar, dass wir von ihr sowieso nie haben... Vielleicht ist es wie mit der Unendlichkeit des Universums: eifach nöd z'wiit studiere! Wünsch' Dir noch viele schöne und phylosophische Wanderungen.

Runner

mong hat gesagt: RE:
Gesendet am 20. September 2016 um 20:28
> eifach nöd z'wiit studiere!

Genau so ist es! "Nid hindersinne!" ;-) Und äh...meine Grübeleien sind ja nichts Neues unter der Sonne. Die Frage, was die Zeit eigentlich ist, und ob es sie in der Realität überhaupt gibt usw. ist ja uralt. Und wenn man dann mit seinen eigenen Gedanken darüber nicht mehr weiterkommt, dann beginnt - sozusagen als Belohnung fürs harte Nachgrübeln - das Staunen. Und wenn das Staunen einsetzt, ist das jedesmal ein grosser Augenblick ;-)

Danke, Runner
Gruss, Jerry


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