Saisonstart im Jura (Roggenflue 995 m)


Publiziert von Fico , 12. März 2014 um 23:49.

Region: Welt » Schweiz » Solothurn
Tour Datum: 9 März 2014
Wandern Schwierigkeit: T5 - anspruchsvolles Alpinwandern
Klettern Schwierigkeit: II (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-SO 
Zeitbedarf: 5:00
Aufstieg: 800 m
Abstieg: 780 m
Strecke:Oensingen - Ravellengrat - Schloss Neu Bechburg - Roggenflue - Oensinger Roggen - SW Kamin - Chluser Roggen - Burg Alt Falkenstein - Station Klus (11 km)
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Oensingen
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Station Klus
Unterkunftmöglichkeiten:Hotel Chrüz, Oensingen (www.hotel-chruez.ch/)

Der Feuerlauf am Samstagabend war eine gute Gelegenheit, um gleich das ganze Wochenende in der Gegend zu verbringen. Und die Wetterprognosen hätten für den Saisonstart gar nicht besser sein können. Aus der Fülle an Hikr-Berichten fand ich schnell eine passende Tour: eine Jura-Trilogie, eine Art Drei-Gang-Menü mit dem Ravellengrat als knackige, pikante Vorspeise, dem SW-Kamin der Roggenflue als Hauptgang und dem Abstieg über den Chluser Roggen als Dessert. Doch es kam etwas anders als geplant.
 
Der Glaube soll bekanntlich Berge versetzen. In diesem Fall die Erwartung, dass beim Feuerlauf die Füsse völlig unversehrt bleiben, um gleich am nächsten Tag in die Berge gehen zu können. Genauer gesagt ist es die unerschütterliche Zuversicht, die eigenen Ziele zu erreichen, was auch immer geschehen mag, wie unüberwindbar die Hindernisse auch scheinen mögen, und selbst dann nicht aufzugeben, wenn einmal mehrere Anläufe nötig sind. In diesem Sinne gibt es für mich durchaus einen Zusammenhang zwischen Feuerlaufen und Bergsteigen. Sind es beim Feuerlauf die mentalen Grenzen, die überschritten werden wollen, kommen beim Bergsteigen auch körperliche Anforderungen hinzu, die trainiert und richtig eingeschätzt werden müssen.
 
Auf dem Parkplatz beim Hotel Chrüz, wo ich übernachtet habe, ziehe ich die Bergschuhe an. Für einmal habe ich das Auto genommen, um die Anreise zu den zwei unterschiedlichen Vorhaben nicht unnötig zu erschweren. Der Weg zum Ravellengrat ist in jedem Fall einfach zu finden. Kommt man vom Bahnhof Oensingen, kann man sich an die gelben Wanderwegweiser halten, bis man auf der Hauptstrasse steht. Dann auf dieser zur Klusstrasse und weiter, bis am Ortsende der Ravellenweg einmündet. Beim dortigen Wegweiser verlasse ich die Strasse. Wegspuren im Wald führen steil hinauf zu den Felsen.
 
Da ich den Wegspuren folge, verpasse ich den ersten Grataufschwung. Nordseitig ist der Boden noch rutschig feucht und die lockeren Steine verheissen keine Zuversicht. So rasch es geht, wechsle ich auf den trockenen, sonnigen Grat. Irgendwelche Markierungen hat es weit und breit keine. Man wähle selbst die beste Route. Anfänglich gelingt mir das ganz gut, dann wird es ein wenig schwieriger. Über mir sehe ich einen ziemlich neuen Bohrhaken, der mir unter den gegebenen Umständen aber wenig hilft. Griffe und Tritte hat es zwar viele, aber nicht immer dort, wo ich sie mir wünschte. Bevor meine Knie zu zittern beginnen, atme ich tief durch, um meinen Spannungszustand wieder ins Lot zu bringen. Ganz so, wie ich es am Abend vorher im Feuerlaufseminar geübt habe.
 
Ungewollt löst sich unter meinen Füssen ein kleiner Stein und saust in die Tiefe. Da erinnere ich mich wieder, was mir nicht mehr in den Sinn kommen wollte, als ich beim Aufstieg das ungute Gefühl hatte etwas vergessen zu haben. Im Rucksack nützt der Helm herzlich wenig. Kaum habe ich einen guten Stand, packe ich ihn aus und setze ihn auf. Mit dem Helm auf dem Kopf fühle ich mich einiges sicherer. Ganz so, als hätte mein Unterbewusstsein die Begriffe Klettern und Helm zusammen abgespeichert. Und noch ein paar andere Begriffe dazu, wie beispielsweise Seil und Bergführer. Da die Letzteren diesmal nicht dabei sind, taste ich mich umso vorsichtiger voran. Was die technischen Schwierigkeiten betrifft, bewegen sie sich zwischendurch vermutlich eher im III. als im II. Grad, je nachdem wie geschickt man seine Route wählt.
 
Oben auf dem Grat angekommen, sind die Schwierigkeiten schnell vorbei. Er ist zwar luftig und ausgesetzt, aber genügend breit, um sich einigermassen wohl zu fühlen. Es dauert nicht lange, bis einem der kettengesicherte Weg entgegenkommt, der dann um den letzten Aufschwung herum auf den Ravellengipfel (624 m) mit Sitzbank und Fahnenstange führt. Auf dem Weg über den Grat gelangt man bald einmal hinunter zum bekannten Schloss Neu Bechburg. Es ist beeindruckend zu sehen, wie der Burgturm direkt in die steilen Felswände hineingebaut wurde.
 
Statt den offiziellen Wanderweg zum Oensinger Roggen zu benützen, bleibe ich auf einem (auf der Karte gestrichelt eingezeichneten) Weg, der in nordöstlicher Richtung hinaufführt, in einer Art abgeflachter Fortsetzung des Ravellengrates. Kurz darauf kreuzt er zuerst die eine, dann die nächste Forststrasse und geht anschliessend  – obwohl auf der Karte nicht mehr eingezeichnet – nordostwärts weiter. In gespannter Erwartung und zugleich zuversichtlich, dass er mich meinem nächsten Ziel: dem SW-Kamin der Roggenflue näher bringen würde, folge ich ihm. Irgendwann wechselt das Weglein die Richtung und mündet bei P. 790 in eine weitere Forststrasse - kurz vor einer Absperrung: „Infolge Holzschlag ab sofort gesperrt!“. Das stört mich nicht, da ich bereits einen neuen Pfad entdeckt habe, der nördlich weiterführt und dann die geteerte Strasse kreuzt.
 
Nun geht es – bereits merklich steiler – wieder in nordöstlicher Richtung unter den ersten Felsen hinauf. Bald komme ich zu einer halb verfallenen Feuerstelle, dahinter eine recht neue, komfortable Sitzbank der Gemeinde Oensingen. An den Bäumen entdecke ich die ersten gelben Markierungen. Ich bin wieder auf einem der Wanderwege zum Bergrestaurant Roggen. Doch dorthin will ich eigentlich gar nicht, sondern auf möglichst direktem Weg zum SW-Kamin. Als ich die Tafel „Klettergebiet Roggenflue“ sehe, nehme ich sogleich an, dem schwarzen Pfeil auf der Tafel folgen zu müssen. Keine gute Idee! Es wäre besser gewesen, wenn ich die Wegbeschreibungen in den Hikr-Berichten genauer studiert hätte.
 
Der schmale Pfad wird schnell steiler und unwegsamer. Als mir ein umgestürzter Baum den Weg versperrt, steige ich weglos weiter und halte mich möglichst in westlicher Richtung. Ich will ja zum SW-Kamin, gleichgültig was sonst noch zum „Klettergebiet Roggenflue“ gehören mag. Bald einmal quere ich ein Geröllfeld, das von den Felsen hinunterzieht. Markierungen hat es nirgendwo. Zum ersten Mal in dieser Gegend helfe ich mir, indem ich einfach nach einem Kamin Ausschau halte, durch den man den Grat erreichen kann. Tatsächlich entdecke ich einen Einschnitt in den Felsen. Das könnte der gesuchte SW-Kamin sein. Mit den Augen klettere ich die vermutete Route ein Stück weit voraus: Es sollte möglich sein. Besonders sicher fühle ich mich allerdings nicht – auch wenn ich diesmal den Helm längst aufgesetzt habe.
 
Dass ich mich nicht im SW-Kamin befinde, ist mir längst klar. Also muss es sich um eine Art „Südkamin“ handeln, allerdings kann ich mich nicht erinnern, dafür irgendwo eine Beschreibung gefunden zu haben. Die klettertechnischen Schwierigkeiten sind zwar nicht unüberwindbar, dennoch fühlt sich die Umgebung wie T6-Gelände an, zumindest kommt es mir so vor. Dies vor allem, weil die Felsen ziemlich brüchig sind.
 
Ein schöner, bequemer Griff, den ich ausgewählt habe, um mich hochzuziehen, entpuppt sich als höchst unzuverlässig. Der lose Brocken ist so gross und so schwer, dass ich ihn mit beiden Händen halten muss und mir nichts anderes übrig bleibt, als ihn fallenzulassen. Polternd kracht er in die Tiefe, was kaum jemanden stören dürfte, da ich hier mutterseelenallein bin. Man spürt das Leben sehr intensiv, wenn man es fast buchstäblich in den eigenen Händen halten kann. Dazu kommt ein weiterer Faktor: Um mit den festen Bergschuhen auch kleinere Tritte ohne Scheu belasten zu können, so stelle ich fest, macht es einen grossen Unterschied, ob man am Seil gesichert ist oder nicht. Jedenfalls bin ich heilfroh, als ich am oberen Ende des Kamins ankomme und über eine steile, aber unschwierige Flanke den Grat erreiche.

Es ist verständlich, dass ich, bevor ich zum Gipfel hinüber gehe, nochmals nach dem mir verborgen gebliebenen SW-Kamin suche. Keine 50 Meter weiter westlich entdecke ich ihn und blicke wehmütig hinab. Er sieht einiges angenehmer aus als mein unbekannter Südkamin, der irgendwo zwischen SW-Kamin und Roggenloch liegt. Am Letzteren komme ich vorbei, kurz bevor ich den Wanderweg erreiche.

Auf dem mit Geländern versehenen Gipfelplateau der Roggenflue (995 m) herrscht ein emsiges Kommen und Gehen. Auch ich verweile nicht lange und nehme den bequemen Wanderweg zum Bergrestaurant Roggen unter die Füsse. Wie ich so hinunterschlendere, kann ich es immer noch nicht fassen, dass ich den SW-Kamin – mein eigentliches Tagesziel – verpasst habe. Beim nächsten Mal werde ich anders vorgehen müssen, denke ich mir. Beim nächsten Mal? Warum nicht heute? Zeit wäre ja noch genügend vorhanden!
 
Man mag mich für verrückt halten, doch kaum den Wald verlassend kehre ich und mache mich nochmals auf den Weg zum SW-Kamin. Da die Weide ringsum mit Stacheldraht eingezäunt ist, muss ich dennoch ganz hinunter zum Bergrestaurant Roggen. Dort nehme ich wieder jenen Wanderweg, den ich vorher beim Aufstieg zu früh verlassen hatte. Nach dem zweiten Weidetor folge ich im Wald der Wegspur, die nordwärts hinaufführt, in der festen Überzeugung, dass sie mich direkt zum gesuchten Ziel bringen würde. Als bereits wieder die Wanderer auf dem Weg von der Roggenflue in Sichtweite sind, stelle ich fest, dass ich vorher auch direkt, ohne Umweg zum Bergrestaurant, hätte zu den Felsen queren können. Denn dort entdecke ich einen Pfad, der unmittelbar beim Einstieg in den SW-Kamin endet. Daneben steht eine jener komfortablen Sitzbänke der Gemeinde Oensingen, die mir nun als Rastplatz sehr willkommen ist.
 
Frisch gestärkt steige ich in den SW-Kamin ein. Im Vergleich zu meinem Südkamin die reinste Genusskletterei! Nicht zuletzt, weil von Anfang an die Gewissheit besteht, dass ich mich im "richtigen" Kamin befinde. Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass auch hier manche Griffe sich anfühlen wie lockere Zähne, die bald einmal ausbrechen werden. Oben angekommen gehe ich bis zum Roggenloch und anschliessend auf dem Wanderweg - an diesem ersten Frühlingssonntag ein echter Grüezi-Weg - wieder hinab. Die Gegend kommt mir nun schon ganz vertraut vor...
 
Der Bergweg über den Chluser Roggen ist ein schöner, beschaulicher Abschluss meiner Jura-Trilogie. Da aus dem Drei-Gang-Menü eine recht nahrhafte Mahlzeit mit vier Gängen geworden ist, geniesse ich das Dessert umso mehr. Immer wieder halte ich inne um zu fotografieren oder lasse mich unter den kraftspendenden Bäumen nieder. Da sie noch kein Laub tragen, ist die Sicht weitgehend frei. Fernsicht hat es heute zwar keine, doch die senkrechten, von der Nachmittagssonne durchfluteten Wände bieten atemberaubende Tiefblicke, sobald man sich etwas näher an den Abgrund heranwagt. Man wähnt sich in einer abgeschiedenen Bergwelt, obwohl nur rund hundert Meter weiter unten auf der Klusstrasse pausenlos der Verkehr vorbeibraust. Die Fahrzeuge sehen aus wie kleine Spielzeugautos. Krass wirkt von hier oben betrachtet der Gegensatz zwischen der Natur und einer Zivilisation, die mir so nah und doch so fern erscheint.
 
Am liebsten würde ich noch stundenlang bleiben, so herrlich erholsam ist es in dieser Gegend. Der Bericht könnte darum auch den Titel tragen: Ein Ostschweizer entdeckt die Schönheiten des Jura. Abgesehen von der Lägern als seinem letzten Ausläufer und der Gerstelflue im letzten Sommer, ist es tatsächlich das erste Mal, dass ich auf den Jurahöhen unterwegs bin.
 
Der Bergweg endet direkt auf der viel befahrenen Kluserstrasse, die – ohne Fussgängerstreifen – zu überqueren nicht ganz ungefährlich ist. Bis zu Station Klus sind es fünf Minuten zu Fuss, die Bahn (bzw. heute das Postauto, infolge Sperrung der Bahnlinie) fährt im Halbstundentakt.
 
Wieder auf dem Parkplatz beim Hotel Chrüz, die schweren Bergschuhe bereits ausgezogen, sitze ich in der Abendsonne und esse das noch übrig gebliebene Käsebrot. Mit den letzten Sonnenstrahlen findet dieses wunderschöne, erlebnisreiche Wochenende seinen Abschluss. Wie wenig es doch braucht, um das Leben zu geniessen! Der Parkplatz liegt bereits im Schatten, als ich nochmals zu den hell erleuchteten Felsen hinaufschaue. Es ist, als würden sie mir zuzwinkern: Hm, wieder einmal alles gut gegangen! Dann steige ich ins Auto und achte auf den Verkehr.

Tourengänger: Fico
Communities: Alleingänge/Solo


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Kommentare (1)


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bergstrolk hat gesagt:
Gesendet am 20. März 2022 um 07:34
Lieber Fico
Es hat mich außerordentlich gefreut, Dich und Deine nette Begleitung gestern an der Roggenflue kennenlernen zu dürfen.
Schade eigentlich, schreibst Du keine Berichte mehr. Sie sind ein wahrer Lesegenuss!
Dass Dir mit dem Stein im Südkamin damals dasselbe passiert ist, wie mir vor zwei Jahren beim Versuch in der Flanke etwa 10 m links davon, ist schon speziell. Der Südkamin hat das T6 durchaus verdient....
Wünsche Dir eine tolle Saison auch für dieses Jahr und viele weitere tolle Touren - pass auf Dich auf!
bergstrolk


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