"Vom Winde verweht" oder in drei Tagen von Carena nach Brè


Publiziert von kopfsalat , 25. Oktober 2014 um 13:22.

Region: Welt » Schweiz » Tessin » Sottoceneri
Tour Datum:22 Oktober 2014
Wandern Schwierigkeit: T3 - anspruchsvolles Bergwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-TI   I   Gruppo San Jorio-Monte Bar   Gruppo Portola-San Jorio   Gruppo San Lucio-Monte Boglia 
Zeitbedarf: 3 Tage
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Carena
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Brè Paese
Unterkunftmöglichkeiten:zig, wenn sie offen sind ...

Da hatte ich nun eine Woche frei machen können und was passiert? Hurrikan "Gonzalo" entscheidet sich mit Sturm, Schnee und Regen auch über die Schweiz abzudriften. Über die ganze Schweiz? Nein, ein kleiner Zipfel im Süden leistet, dank Nordföhn, erbitterten Widerstand.

Den Entwurf für die Tour kann ich zum Glück aus dem Schublade oder genauer einer Kartonschachtel ziehen, denn dort liegen die Unterlangen einer Grenzschlängeln-Tour von Chur bis St-Gingolph die ich vor sieben Jahren kurz vor San Bernardino abgebrochen hatte.

Da ich nicht weiss, welche Verhältnisse mich erwarten und wieviele Tage ich schliesslich dafür benötigen werde, nehme ich meine Biwakausrüstung und gut 3.5kg Proviant mit (war wie immer viel zu viel !!!). So wiegt der Rucksack alles in allem inklusive 2 Liter Wasser unter 10kg.



22.10.2014 (5km, auf 840m, ab 50m, Zeit 2.5h *), T2

Da mir die frühe Anreise nach Roveredo zeitlich nicht möglich ist, nehme ich den Zug nach Bellinzona und fahre von dort mit dem Taxi nach Carena zu hinterst im Val Morobia (CHF 62.--, man gibt 70.--). Der Wegweiser am ehemaligen Grenzwachtposten zeigt die Richtung zur Cap. Gesero. Gemäss Internet ist sie seit gestern nicht mehr bewartet aber der Winterraum ist offen. So ist es. Und auch schon recht kalt. So braue ich mir erst mal einen heissen Tee. Danach gibts Tomatenreis mit Käse und schon gehts ab ins Bett. Dank Daunenschlafsack ist's bald mollig warm und ich schlafe in totaler Stille ein. (CHF 15.- als SAC-Mitglied).

23.10.2014 (27km, auf 1300m, ab 1500m, 8.5h *), T3

Nach gegen 12h Schlaf erwache ich kurz nach 8 Uhr. Ein Blick aus dem Fenster und ich weiss, wieso es noch kälter ist, als gestern abend. Draussen ist alles leicht überzuckert. Das Frühstück schenke ich mir, irgendwie hab ich keine Lust noch länger in der eisigen Hütte rumzuhocken.

Der breite Militärweg bis Biscia Pt .1995 ist ideal um dem Körper die nötige "Verbrennungs"-Wärme zuzuführen. Ein Hirsch hat anscheinend die selbe Idee und treibt am Gegenhang zwei Hirschkühe vor sich her. Leider etwas zu weit weg für meine kleine Kamera. Je höher ich steige, desto stärker bläst der Wind. Um die Militärhütten pfeifen Böen, dass ich mich zeitweise niederkauern muss, um nicht umgeblasen zu werden.

"Vom Winde verweht"

Vom Sättelchen östlich Pt. 2045 führt der Pfad nun fast eben durch die Flanke der Cima delle Cigone. An einer durch Legföhren und -erlen gut windgeschützten Stelle mache ich bei herrlichem Sonnenschein meine Frühstückspause - Wurst, Käse und ein guter Schluck Wasser. Auch montiere ich meine Microspikes, denn der Teils schmale Pfad ist stellenweise recht exponiert und ein Ausrutscher auf dem schneeig-eisigen Boden hätte fatale Folgen.

Auf dem Passo San Jorio Pt. 2012 pfeift der Wind wieder mit voller Stärke, sodass ich beschliesse, statt den Weiterweg, wie geplant, über den Grat zu nehmen, auf der italienischen Seite abzusteigen. Wenige Meter weiter unten erwartet mich beim Rifugio San Jorio (geschlossen) eine tiptop gepflästerte und betonierte Strasse mit angenehmen Gefälle.

Da Italien im ersten Weltkrieg fürchtete, die Schweiz würde mit Deutschland paktieren (was ob der offen zur Schau gestellten Bewunderung Deutschlands durch General Wille kein Wunder war), wurden hier und anderswo an der Grenze zur Schweiz Anstrengungen zur Verteidigung getroffen. In den 1930er Jahren änderten sich die Vorzeichen und Mussolini's Expansionsdrang führte dazu, dass die bestehenden Militärstrassen grosszügig ausgebaut wurden, um darauf einen Einfall in die Schweiz zu ermöglichen.

Vom Rifugio Il Giove Pt. 1706 (geschlossen) führt die "Alta Via del Lario" ein weiterer nun nicht mehr so breiter Weg mehr oder weniger eben durch die Flanke zum Refugio Sommafiume CAI Pt. 1784 (geschlossen). Hier gibts erst einmal eine grosse Portion Müsli aus dem Rucksack, bevor ich der nun wieder breiteren Strasse in zig Kehren zum Gipfel des Motto della Tappa/Cima Verta Pt. 2078 folge. Oben bläst mich der "orkanartige" Wind (gemäss Meteoschweiz wurden Böenspitzen mit bis über 130km/h gemessen) wortwörtlich zu Boden und ich komme nur noch auf allen Vieren vorwärts.

Auch während des südwestseitigen Abstiegs muss ich immer wieder anhalten und mich niederkauern, um nicht umgeblasen zu werden. Somit steht auch hier ein Weiterweg der Grenze nach über den Grat ausser Frage. Stattdessen folge ich der "Via del Ferro", einer ehemaligen Säumerroute zwischen Bellinzona und Porlezza auf der u.a. das im Val Morobbia verhüttete Eisen transportierte wurde. Auf dem gut ausgebauten und in Stand gehaltenen Weg muss ich wohl oder übel fast 1000 Höhenmeter vernichten, bis ich rund zweieinhalb Stunden später in Cavargna Pt. 1080 ankomme.

"Pièce de Résistance"

Das Schild "passo s. lucio m. 1541" verweist auf das nun folgende "Pièce de Résitance". Aber ich werde positiv überrascht, der gut markierte Weg zieht sich in angenehmer Steigung durch den lichten Wald an einem Brunnen vorbei und über eine Brücke über einen Wildbach zum Weiler Colonè Pt. 1415 hinauf. Abermals wird nicht der Steilaufstieg gewählt, sondern in einer langen Traverse über Roccoli 1480m auf die Fahrstrasse wird der Pass in einer weiten Kehre erreicht.

Auf dem Passo San Lucio Pt. 1542 bläst's wieder wie wild und ich muss hinter der dort eigenes zu diesem Zweck errichteten Kirche Schutz suchen. Gemäss Internet ist die Capanna auf der Schweizer Seite bis am 31.10. geöffnet, aber anscheinend weiss die Capanna das nicht. Da ist alles verriegelt und verrammelt.

Somit bleibt mir wohl nicht anderes übrig, als zur Capanna Alpe Cottino abzusteigen und zu schauen, wo ich dort am besten mein Biwak errichten kann. Just in dem Moment fällt mein Auge auf ein weiteres Gebäude auf der Italienischen Seite - eigentlich unübersehbar aber von mir in der Planung irgendwie komplett vernachlässigt. Beim Näherkommen steht da "Rifugio San Lucio"!!! Die Läden sind offen, die Türe nicht abgeschlossen. Ich trete ein. In der Küche ist jemand am Gemüse schneiden. "Aperto? Dormire? Mangiare?" Ja, kein Problem. Ich bin der einzige Gast und kann mir im Schlafraum mit Dusche und WC mein Bett aussuchen.

"Alle Sette" gibts eine währschafte Minestrone mit Salami- und Käseteller. Kurz nach acht falle ich todmüde ins Bett und schlafe praktisch durch bis am nächsten Morgen. (€ 40.-- alles inklusive).


24.10.2014 (15.5km, auf 400m, ab 1150m, 4.5h *), T3

Um 7h zeichnen sich über dem östlichen Horizont orange Lichter ab. Einen klassischen Sonnenaufgang gibts nicht. Plötzlich ist's hell. Um 8 Uhr gibt mir das typische Italienische Frühstück aus Biscotti, Nutella und Kaffee einen kleinen Zuckerschub, sodass ich alsbald aufbrechen kann. In geringer Steigung gehts zur Bochetta di San Bernardo Pt. 1586. Den Aufstieg zur Cima de Fojorina schenke ich mir und traversiere stattdessen durch die stellenweise noch gefrorene Nordflanke zum Passo di Pianca Bella Pt. 1677.


"Transa-Katalog on Tour"

Bei Sonnenschein und herrlicher Aussicht wandere ich alles der Grenze entlang bis zum Passo Pairolo Pt. 1406. Da passierts. Entgegen kommt mir der Transa-Katalog auf Tour. Vier junge Männer gekleidet und beladen mit nur der feinsten, besten, teuersten (?) und natürlich auch schwersten Ausrüstung wuchten keuchend überkopfhohe Rucksäcken den Berg hinauf. Als ob dies in dieser "gottverlassenen" Gegend nicht reichen würde, tragen sie auch noch je ein Walky-Talky mit sich! Sie wollen auf den Gazzirola 2116m und dort biwakieren. Weiter unten treffe ich dann noch auf weitere Gruppen ähnlich beladener Wanderer. Wohl um bei der Rast nicht ausser Schnauf zu geraten, machen diese deshalb ein paar Liegestützen. "Charakterbildenes Wochenende für 100 Männer einer christlichen Organisation" klärt mich ein wohl knapp über 20-jähriger auf. Naja, jedem das seine. WYOW! Leichten Schrittes enteile ich ihnen in meinen Shorts und Turnschuhen.

Um die Sassi Palazzi herum wähle ich den südseitigen Weg. Bei Pt. 1398 wechsle ich auf den stellenweise etwas ausgesetzten Pfad um die Fels-Denti della Vecchia. Ab dem Passo Streccione wechselt der Weg wieder in die sonnendurchflutete Südseite, wo ich alsbald mein wohlverdientes Mittagspäuslein mache. Weiter gehts alles der Grenze entlang bis zum Pian di Scagn 1174, wo zur Alpe Bolla Pt. 1129 abzweige.

Auch wenn es mittlerweile nach 13 Uhr ist, laden die paar Steintische zum Verweilen und einer kleinen Stärkung ein. Eine Minestrone und ein Gazosa später muss ich leider wieder aufbrechen, denn ich habe beschlossen, keinen weiteren Tag mehr anzuhängen, sondern schon heute wieder nach Hause zu fahren.

Ob aus wirtschaftlichen Gründen, falsch verstandenem Sicherheitsdenken oder dem (auch von "Schweiz Tourismus"-Direktor Jürg Schmid unlängst angeprangerten) um sich greifenden Bequemlichkeitswahn geschuldet, wird der stellenweise etwas ausgesetzte Bergweg durch die Nordflanke des Monte Boglia mit schwerem Gerät eingeebnet und rollstuhltauglich gemacht. Schade. Bei Pt. 1033 Carbonera nehme ich den ehemaligen, stellenweise nicht gerade knieschonend gepflästerten Sentiero Alpe Bolla nach Bré hinunter. Den Wiederaufstieg zum Funi spare ich mir und nehme stattdessen ein kühles Bier in der Osteria, bevor ich den Bus nach Lugano besteige.

* gemäss "Karte Wanderland Schweiz"

Tourengänger: kopfsalat


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Geodaten
 22736.gpx Carena - Cap. Gesero
 22737.gpx Cap. Gesero - San Lucio
 22738.gpx San Lucio - Bré

Galerie


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Kommentare (6)


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fuemm63 hat gesagt:
Gesendet am 25. Oktober 2014 um 18:41
12h Schlaf?? - wow, die Tour mache ich auch!

kopfsalat hat gesagt: RE:
Gesendet am 25. Oktober 2014 um 23:54
bei sonnenuntergang um 18h und -aufgang um 8h bleibt dir, ohne künstliches licht, nicht viel anderes übrig als zu schlafen.

das ist das schöne an solchen touren "fernab" all der wunderbaren "errungenschaften" der zivilisation.

Gelöschter Kommentar

kopfsalat hat gesagt: RE:
Gesendet am 26. Oktober 2014 um 19:03
ich "glaube" fast, das wäre was für dich ... ;-)))))

DanyWalker hat gesagt: Super
Gesendet am 27. Oktober 2014 um 11:43
Eine tolle Tour. Nichts für Weicheier :) Hat mir Freude gemacht Deinen interessanten Bericht zu lesen.
Gruss Dani

Felix hat gesagt: RE: Super
Gesendet am 4. Januar 2015 um 10:29
Dani's Meinung schliesse ich mich an - kaltes Spätherbstwandern in abgelegenen Gegenden; anspruchsvoll und schön.

lg Felix


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