keepwild! Neuland am Madone (Val Calnègia)


Publiziert von Alpin_Rise , 28. August 2013 um 20:27.

Region: Welt » Schweiz » Tessin » Locarnese
Tour Datum:20 August 2013
Wandern Schwierigkeit: T5 - anspruchsvolles Alpinwandern
Klettern Schwierigkeit: V- (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-TI   Gruppo Pizzo Biela 
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Am bequemsten von cff logo Bosco/Gurin über die Bochetta d'Orsalia
Unterkunftmöglichkeiten:Freiluftbiwak, wunderbare Plätze am Lago d'Orsalia

mit "keepwild! climbs" setzt sich Mountain Wilderness Schweiz seit gut zehn Jahren für naturbelassenes Felspotential ein.
Klettern ohne fixe Absicherung war für mich erst befremdlich; tätigte ich doch meine ersten Kletterschritte Mitte der Neunziger bereits an den soliden Bohrhaken der ersten Plaisir-Welle. Seither war für mich diese Art der Kletterei der Normalfall, denn der Schweiz fehlt - im Gegensatz zu den USA und Grossbritannien (Trad-Climbing) oder Teilen Deutschlands (Elbsandstein/Pfalz) - die Kultur des bohrhakenlosen Kletterns. Dazu gehört, beim Klettern möglichst wenig Spuren zu hinterlassen, daher auch der Begriff "clean climbing".

Ein paar Gedankengänge weiter - und erst recht nach der hier beschriebenen, wunderbaren Kletterei weitab der Zivilisation - erschloss sich mir Philosophie und Genuss hinter dem Begriff "clean climbing". Für durchschnittliche Sportkletterer, die hauptsächlich im kompakten Kalk der mittleren Schwierigkeitsgrade unterwegs sind, ist es schwer vorstellbar, dass sich eine Route mit Keilen, Friends und Schlingen zuverlässig, ja fast à discretion, abgesichert lässt.
Der richtige Ort ist entscheidend: An den Graten und Wänden zwischen Bosco Gurin und dem Val Bavona ist der Fels oft derart ideal strukturiert, dass sich die mobilen Sicherungsmitteln fast von alleine legen. Dieses Erlebnis muss man sich jedoch mit mehrstündigen, schwer bepackten Aufstiegen und öfters mal einem Freiluftbiwak erkaufen, was für mich unter anderem den Reiz dieser Kletterei ausmachte - es war bestimmt nicht mein letzter Ausflug in "unberührten" Fels!

  
keepwild! Die kletter- und wunderbare Illusion von unberührter Natur - dazu gar eine Erstbegehung?  

Eine detaillierte Beschreibung für den Nordwestpfeiler am Madone westlich P. 2394 erübrigt sich aus mehreren Gründen:
- Erstens ist die Routenführung im unerschlossenen Gelände sehr individuell, die Schwierigkeiten variieren im Meterraster. Jede:r steigt die eigene Linie und sichert nach Bedarf ab, kann sich so kurze Zeit PionierIn fühlen.
- Zweitens liegt der Reiz wie oben erwähnt im selbst gesteuerten, eigenverantwortlichen Wirken. Zu viele Infos sind dieser Art Erlebnis kaum dienlich.
- Drittens beschreibt ein hervorragender Kletterführer die Nachbarrouten, den Zustieg sowie die Eigenheiten des Gebietes bereits bestens: Seiten 50 und 51 im TICINO keepwild! climbs aus dem Topoverlag von Dani Silbernagel.

Dort wird auch das Val Calnègia wie folgt charakterisiert:
"Oft wird das Val Bavona als schönstes Tal im Tessin angepriesen. Wenn dies so ist, ist das Val Calnègia das schönste Seitental des schönsten Tales. Hier stimmt wirklich alles [...]  Der südliche Teil des Val Calnègia gehört zu den wildesten Ecken der Schweiz. Die Wege sind zugewachsen, die Orientierung schwierig und mannshohe Farne sowie undurchdringliche Erlendickichte machen das Fortkommen zur Tortur. Kein Wunder warten hier noch eindrückliche Wände auf ihre ersten Besucher. Zum Glück kann man die schönen Klettereien rund um den Lago d'Orsalia gewissermassen auch durch die Hintertür erreichen - mit einem bequemen Zustieg vom deutschsprachigen Walserdorf Bosco/Gurin."
Auf hikr.org ist Seeger seelig unbestrittener Gebietsdoyen. Seine Tourenberichte aus dem Val Bavona würdigen sowohl unbändige Naturkräfte wie auch den Nachhall der einstigen Bewohner mitsamt ihren unglaublichen Geschichten.

Zur Kletterei selbst sei so viel verraten: Der Pfeiler weist besten, griffigen Fels auf einer Länge von etwa 150 m auf, was in diesem Gelände ca. 4-6 Seillängen um den 4. Grad ergibt. Einzelne Stellen liegen im (unteren) 5. Grad, können aber bis auf die Traverse unter einem Dach in der zweitletzten Seillänge umgangen werden. Diese Stelle ist auch die einzige, die nicht perfekt abgesichert werden kann, hier muss einige Meter vom letzten, dafür sehr guten Sicherungspunkt auf Reibung horizontal nach links traversiert werden - auch für den Nachsteiger nicht zu unterschätzen.
Abstieg am bequemsten durch das Couloir rechterhand, d.h. westlich. Um T5,  45 Grad, schlecht gestuft, mit einer Stelle II zum abklettern bzw. abseilen (Schlinge).
Material: Mind. 30 m Einfachseil, 1 Set Friends bis Cam 2, ein Set Keile, Schlingen, Helm. Kletterfinken nicht zwingend.

Mit Hilfe der Fotos sollte der Einstieg und Abstieg leicht zu finden sein, mit etwas Pionierlust können in unmittelbarer Nachbarschaft etliche Linien gefunden werden - auf ins Neuland!



* Ein paar Gedanken zum "clean climbing"
Fels ist eine endliche Ressource. Erst recht gilt das für talnahe Wände und Grate mit guter, klettertauglicher Felsqualität. In einen Grossteil davon wurden Löcher gebohrt für Borhaken oder gar Stahlseile und Eisenbügeln. Das ist einerseits dem gut zwanzigjährigen Boom des (Plaisir-)Sportkletterns und den gestiegenen Sicherheitsansprüchen zu verdanken: Immer mehr "Bergsteiger" drängen aus den Kletterhallen ins Freie und erwarten vergleichbare Sicherungspunkte wie an der Kunstwand. Andererseits haben auch die handfesten kommerziellen Interessen der Berg(sp)ort-Sommerdestinationen und -Ausrüster dazu beigetragen, die Berge nach DIN-Norm einzurichten.

Ergo schrumpft der Freiraum für diejenigen, die im Fels selbst für Ihre Absicherung sorgen möchten. Sei es nun aus dem Wunsch nach der "heilen, unberührten Natur" oder dem Bedürfnis entspringend, den Massen der Vollkasko-Gesellschaft für ein paar Stunden zu entkommen. Ebenso wichtig scheint mir, attraktive Felsen in möglichst natürlichem Zustand für die zukünftigen Generationen und ihre Bedürfnisse zu bewahren - auch wenn sie dereinst Bohrhaken oder Invasiveres an diesen Orten für unumgänglich halten.

Tourengänger: Alpin_Rise, Bergzottel


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Kommentare (8)


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Saxifraga hat gesagt: Schön!
Gesendet am 28. August 2013 um 21:35
Ich hab kürzlich selbst einen Bericht über ein clean climbing Gebiet auf Hikr gestellt. Durch deinen Bericht motiviert, habe ich nun eine Community "Clean Climbing" erstellt. Wäre schön deinen Bericht dort auch zu finden :-)
LG & keep wild!
Philipp

WoPo1961 hat gesagt:
Gesendet am 28. August 2013 um 22:30
Aus meiner bescheidenen Hochtourenecke betrachtet, erscheinen deine tollen Bilder sehr einladend und machen neugierig auf ein für mich doch ziemlich unbekanntes Terrain... für diese Uhrzeit ein nicht gerade "unziemliches" Kompliment. Und ja,mir gefällt dein Schreibstil!
LG WoPo

orome hat gesagt:
Gesendet am 29. August 2013 um 08:52
Deinen Ausführungen kann ich so nur zustimmen! Für jede Spielart des Kletterns gibt es in den Alpen genug Möglichkeiten, sodass es nur selbstverständlich sein sollte, den vorgegebenen Charakter einer Route durch die Art der Erstbegehung zu akzeptieren und sich die Route nicht auf das eigene Niveau zurecht zu bohren.
Danke für den Bericht!
Aber nicht nur im Elbsandstein hat es unverbohrte Risse, sondern auch in der Pfalz laden Risse zum jammen nach Herzenslust ein ;)

Pere hat gesagt: Bravo !
Gesendet am 29. August 2013 um 11:21
Danke für den Bericht.
Excuse français !
Trop de montagnes abimés par "ferratas" et Borhaken.!
D'autres plaisirs existent que le..". Schweiz-Plaisir de J.V.Känel "
Pedro

tricky hat gesagt:
Gesendet am 31. August 2013 um 22:53
Einfach Genial. Schöne Bilder in schöner Umgebung

t2star hat gesagt:
Gesendet am 1. September 2013 um 10:00
Ein echt schöner Bericht aus einer einsamen Ecke! Da bekommt man wieder unsagbare Lust auf das cleane Klettern - macht man irgendwie viel zu selten...;-(

Die Idee mit der Community find ich ganz gut.

Noch schöne genußvolle Spätsommertouren,
t2star

chmblum hat gesagt: Suchtpotential
Gesendet am 6. September 2013 um 19:22
Biwak am Lago, Klettern in schönem Gneis in der Abendsonne, das hat Suchtpotential. Solche Berichte von Gleichgesinnten freuen mich. Ich bin gespannt auf Deine weiteren Erlebnisse. Christoph

krobbo hat gesagt: keep wild community & ticino
Gesendet am 6. September 2013 um 20:24
Gutes Auge - habe den Pfeiler die letzten Jahre bei der Recherche für den TICINO keepwild!climbs übersehen, Gratulation! Wunderbare Ecke dort hinten - bin dieses Jahr wg. Kreuzbandriss leider ausser Gefecht gesetzt - nächstes Jahr wieder!

Bez. Keepwild Community: Wir versuchen auf www.keepwildclimbs.ch auch ein wenig was in die Richtung zu machen. Meldet euch doch bei kirsten.schuetz[at]mountainwilderness.ch damit wir da kreuzverlinkungen hinkriegen.

P.S: am 20-22. Sept. sind Keep Wild Climbing Days auf der Alpe Spluga. Mehr infos unter http://keepwildclimbs.ch/aktuell/einzelansicht/artikel/keepwild-climbing-days-27-30-sept-alpe-spluga-ti/


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