Ortler - Nordwand "Ertlweg" (Versuch)


Publiziert von Peter K. , 14. September 2012 um 19:12.

Region: Welt » Italien » Trentino-Südtirol
Tour Datum: 3 Oktober 2011
Hochtouren Schwierigkeit: SS
Eisklettern Schwierigkeit: WI3
Wegpunkte:
Geo-Tags: I 
Zeitbedarf: 3:00
Unterkunftmöglichkeiten:Tabarettahütte
Kartennummer:Tabacco "Nr. 08 - Ortlergebiet"

Ortler - Nordwand "Ertlweg" (Versuch)

Es gibt Touren die vergisst man nicht so schnell. Sei es, weil sie erhabene und schöne Erlebnisse bieten – oder weil es mal nicht so läuft, wie es laufen sollte.
Uns stand Anfang Oktober ein goldenes Herbstwochenende bevor, das natürlich für eine schöne Hochtour zum Saisonende genutzt werden wollte. Nachdem sich die großen Wände rund um Chamonix laut OHM als zu blank oder zu trocken herausstellten, beschlossen wir unser Glück weiter östlich in der Ortlergruppe zu versuchen.

Zwei Tatsachen sind vermutlich jedem Ortler-Aspiranten bewusst. Die Nordwand bietet den längsten und mit schönsten Eianstieg der Ostalpen, doch müssen die zahlreichen Schreckensgeschichten um Eisschlag und Seracstürze auf tatsächlichen Begebenheiten basieren. Als ich Informationen zu dieser Tour einholen will, rät mir ein guter Freund von unserem Vorhaben ab. Während er diese Wand vor ein paar Jahren beging, entkamen sie auf Höhe der Gurgel nur knapp einer Eislawine. Als sich der Staub gesetzt hatte, standen sie wie Schneemänner eingehüllt in der Steilwand – die Emotionen, die einen in diesem Augenblick überkommen möchte ich mir nicht vorstellen.
Um das Risiko der Ortler Nordwand sind wir uns also bewusst, als wir in Richtung Südtirol aufbrechen. Aber schließlich lernt der Einfältige nur aus eigenen Fehlern.

Zustieg

Den ersten Eindruck der Ortler Nordwand können wir auf der Zufahrt kurz vor Sulden erhaschen – über den herbstfarbenen Waldhängen des Vinschgaus thront der Ortler in seiner kühlen, abweisenden Pracht, als sei er unserer Jahreszeit schon einige Wochen voraus. Es ist spät im Jahr, die Firnspur der Nordwand hat sich stark zurückgezogen und ist mit herabgestürzten Steinen gepfeffert. Fels und Eis bilden ein Mosaik, das uns geradezu einladen will einen Weg durch dies Labyrinth zu suchen.

Am Parkplatz in Sulden begegnen wir einer osteuropäischen Vierer-Seilschaft, die uns von guten Bedingungen und einer klasse Tour in der Nordwand berichten kann – wir sind guter Dinge für den morgigen Tag. Vom Tal aus geht es über gut ausgeschilderte Wege hinauf in Richtung Tabarettahütte. Der Zustieg erweist sich als sehr übersichtlich. Zunächst durch grünbraune Wälder Nadelwälder, später durch das Gletscherkar unterhalb der Nordwand zieht der Weg im Schatten des Ortlers aufwärts. Nach knapp eineinhalb Stunden haben wir die westliche Moräne unterhalb der Tabarettahütte erreicht, wo wir biwakieren wollen.

Das Lager ist schnell hergerichtet, wir kundschaften den Zustieg über den Moränenrücken aus und werfen vom Beginn des Gletschers einen genaueren Blick auf die Wand. Die untere Schlucht ist von tiefen Furchen durchzogen, die Eis- und Steinschlag während des Sommers hinterließen. Der Aufstieg würde uns in diese Gräben zwingen, die gleichauf sämtliches herabfallende Material bündeln. Eine Umgehung linksseitig lässt anspruchsvolles Kombigelände erwarten, das uns nur noch mehr Zeit in der Gefahrenzone kosten würde. Wir entscheiden uns also diese Schreckens-Couloirs direkt anzugehen um schnellstmöglich das mittlere Eisfeld zu erreichen. Dort heißt es nochmals eine Stunde Vollgas im Eis hoch zur Gurgel – einer Verengung zwischen den beiden Eisfeldern – bevor wir uns dem direkten Einflussbereich der Gipfelseracs entziehen können. Das obere Eisfeld würde uns nur noch mit technischen Schwierigkeiten und Blankeis konfrontieren, allerdings mit weitaus geringeren objektiven Gefahren. Der Plan für den Folgetag steht also.
Bevor es dämmert steigen wir noch zur Tabarettahütte hinauf, um uns dort noch ein Bier zu genehmigen und uns nach den Verhältnissen zu erkundigen. Der Hüttenwart berichtet ebenfalls von der Vierer-Seilschaft, die heute souverän durch die Wand stieg, und bestätigt unsere Wegwahl im unteren Wandteil. Philipp möchte wissen, wie oft er denn die Wand schon durchstiegen hätte, und erwartet vermutlich eine hohe zweistellige Zahl. Der Wart verneint, die Wand reize ihn nicht, es reicht ihm die Folgen der missglückten Begehungen in guter Regelmäßigkeit am Wandfuß aufzulesen. Er präsentiert uns das Wandbuch der Ortler Nordwand, das die bisherigen Begehungen auflistet. Als wir das Buch aufschlagen, erschreckt uns die niederschmetternde Aufzeichnung. Jährlich sind vielleicht ein bis zwei Dutzend Begehungen notiert und es findet sich keine Jahreszahl ohne verunglückte Seilschaften – der letzte Unfall ereignete sich auf den Tag genau drei Monate zuvor. Der Hüttenwart scheint unsere Bedrückung zu erahnen und versucht uns etwas aufzubauen – wir sollten im unteren Wandteil den Kopf ausschalten und diese Passage einfach so schnell wie nur möglich überwinden. So makaber es klingt, Recht hat er vermutlich.
Für uns prallen hier erstmals Wunsch und Realität unerbittlich im Jetzt aufeinander – keine Geschichten von Freunden und Bekannten, verwegene Tourenberichte im Internet oder förmliche Unfallmeldungen in den Medien. Nichts was man relativieren oder ignorieren könnte – die nackten Zahlen der Statistik und der abweisende Berg vor unseren Augen sprechen klare Worte.

Wir kehren zum Biwak zurück und kriechen in unsere Schlafsäcke. Etwas bedröppelt sprechen wir uns Mut zu – schließlich ist die Wahrscheinlichkeit genau in diesen zwei bis drei Stunden des Aufstiegs in einen Eisabbruch zu geraten theoretisch doch sehr gering. Wir können unserer Psyche etwas Zuversicht vortäuschen.
Die folgenden Stunden gestalten sich äußerst zäh. An Schlaf ist kaum zu denken – die Gefahren der Wand geistern unablässig vor dem geistigen Auge herum. Vor keiner bisherigen Tour habe ich so schlecht geruht und war so aufgewühlt. Doch es gibt nichts mehr zu optimieren – es bleibt nur das Restrisiko. Spielen wir dieses Mal vielleicht allzu sehr mit dem Feuer?

Route

Die kurze Nacht gönnt uns wenig Schlaf. Zwischendurch schießen immer wieder kleinere Rutsche die Wand hinab. Was zunächst nach einer sanften Meeresbrandung klingt, lässt einen erschrocken auffahren, sobald die wahre Ursache ins Unterbewusstsein durchgedrungen ist. Wird die Nordwand jetzt nachaktiv?
Mit dem Weckton zeigt sich glücklicherweise die alteingesessene Routine. Alle Bedenken scheinen wie verflogen. Frühstück einnehmen, Rucksack fertig machen, Biwakplatz räumen – die vertraute Praxis. Unsere Motivation überwiegt nun klar das gestrige Zögern.

Um drei Uhr in der Früh verlassen wir unseren Biwakplatz und steigen die Moräne hinauf. Ärgerlicherweise leisten wir uns einen Verhauer als wir über den Weg im Schotter hinweg und den Hang zu weit rechts hinauf steigen. Wir müssen etwas absteigen und queren nach Südosten in Richtung Gletscherauslauf.
Die ersten Schritte im Schnee lassen uns zögern – im nassen Schnee sinken wir bedenklich tief ein. Doch die Temperatur fühlt sich nicht übermäßig hoch an. Es klingeln noch keine Alarmglocken – schauen wir erst mal weiter. Wir verfolgen die wenig ausgeprägten Spuren unserer Vorgänger – sie schienen am Vortag noch auf etwas bessere Bedingungen gestoßen zu sein. Im Zickzack geht es über den mäßig steilen Firnkegel zwischen Spalten und Steinen in Richtung Bergschrund hinauf. Der Schnee wird nicht besser.
Wir halten für eine Lagebesprechung und sammeln die Fakten. Contra – wir haben mit dem Verhauer Zeit und Energie verloren, der Schnee ist äußerst weich. Pro – so viel Zeit haben auch nicht verloren, vermutlich wird der Schnee etwas höher schnell wieder fester, die Wand ruht – zumindest momentan. Philipps Bauchgefühl spricht für eine Umkehr, meines behauptet, dass wir es auch bei diesen Bedingungen noch schnell durch die untere Wand schaffen können. Ich kann Philipp überzeugen, dass wir uns zumindest den weiteren Weg bis zum Bergschrund anschauen.
Wir gewinnen weiter an Höhe. Keine 50 Meter weiter, gelange ich im schweren Schnee auch langsam zur Einsicht, dass ein Weitersteigen jegliche Berechtigung verloren hat. Wir beraten uns abermals – alles spricht für eine Umkehr. Die Entscheidung fällt nicht mit Vorliebe, aber sie fällt durchaus einfach, wenn man sie auf objektivem Niveau treffen kann.

Über den Firnkegel steigen wir zur Schotterflanke ab und schlagen der Pfad zur Tabarettahütte ein, wo wir Bescheid geben wollen, dass wir umgedreht sind, damit man uns nicht nachmittags erwartet. Noch während wir über den kleinen Pfad zu Hütte hinaufsteigen können wir ein langes, massives Rauschen aus Richtung des Nordwand-Trichters vernehmen. Erschrocken stellen wir fest, dass wir zu dieser Zeit vermutlich in den unteren Rinnen unterwegs gewesen wären, wenn wir uns nicht für den Rückzug entschieden hätten. Selten bin ich so froh um einen Verhauer und Faulschnee gewesen.
An der Tabarettahütte zeigt sich noch keine Betriebsamkeit und wir beschließen wieder zum Biwak abzusteigen, wo wir uns nochmal in die Schlafsäcke legen wollen. Abermals schreckt uns dort ein weiterer Lawinenabgang in der Nordwand auf, den wir nun in der Dämmerung halbwegs erahnen können. Ob wir uns in der schmalen Schlucht der Flut aus Eis und Fels hätten entziehen können, bezweifeln wir stark, verwerfen diese nun überflüssige Überlegung aber schnell.

Abstieg

Mit dem Sonnenaufgang können wir ein zweites Frühstück genießen, packen unsere Sachen, geben dem Hüttenwart telefonisch Bescheid, dass wir umgekehrt sind, und steigen wieder ins Tal hinab. Der wolkenfreie Himmel verspricht einen wunderschönen Herbsttag, den wir nun mit einem Alternativprogramm nutzen wollen. Von Sulden aus geht es mit dem Auto wieder hinauf zum Reschenpass nach Graun, von wo aus wir noch eine reizvolle Wanderung zur *Klopaierspitze angehen.

Fazit

Der Ortler bietet sicherlich eine der schönsten Nordwände des Alpenraumes, fordert seine Begeher in vielen Disziplinen und entlohnt mit einer einzigartigen Erfahrung. Doch darf man die weit überdurchschnittlichen Gefahren der Wand, trotz zahlreicher erfolgreicher Begehungen, nicht vernachlässigen. Es verbleibt leider ein hohes Restrisiko.

Ich möchte niemanden von dieser fantastischen Tour abbringen – wir wären diese schöne Wand gerne geklettert – jedoch möchte ich die möglichen Konsequenzen aufzeigen, die bei geglückten Begehungen gerne verschwiegen werden. Die Durchsteigung der Ortler Nordwand stellt kein Zeugnis höchster technischer Fertigkeit oder übermenschlicher Kondition dar, es ist zuvorderst leider eine schlichte Partie Russisch Roulette.

     
 
Schwierigkeit: SS V 3
Aufstieg: 1.550 hm (1.200 hm Wandhöhe)
Exposition: N - NO
Gefahren: Hohes Risiko durch Steinschlag, Schneerutsche und Eisschlag vom Seracgürtel oberhalb der Nordwand.
Verhältnisse: Ungünstige Verhältnisse. Weicher Schnee, gespickt mit Steinen. Tiefe Rinnen im unteren Wandteil. Blankeis im oberen Wandteil. Nicht übermässig warm.
Mit dabei: Philipp
Wertung: Sehr schön!
 
     

Wissenswertes

wie ein massiver Seracabbruch am Ortler aussieht konnte der Bergführer Kurt Ortler am 9. Juli 2011 um 7.00 Uhr morgens festhalten
eine Begehung ist im Frühjahr ratsam, um bei guter Firndecke schnell durch den unteren Wandteil aufzusteigen
zahlreiche Biwakgelegenheiten finden sich unterhalb der Nordwand entlang des Weges; es hat kleinere Bachläufe
eine gute Einsicht in die Wand bietet die Webcam bei Sulden.it

Persönliche Erkenntnis

Im Nachhinein ärgere ich mich sehr, dass Ehrgeiz und Routine meine objektive Sachkenntnis, defensive Einstellung und mein vermeintlich sicheres Bauchgefühl so fundamental untergraben haben. Trotz ausgiebiger Erfahrung verbleibt dieser Eifer ein maßgeblicher Faktor für potentielle Fehler.
Für uns hat sich die Einsicht ergeben, dass wir nicht bereit sind solch ein hohes Risiko abermals für eine Tour einzugehen. Die Berge warten mit abertausenden faszinierenden Routen auf, die weitaus weniger Restrisiko bergen.

Tourengänger: Peter K.


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Kommentare (4)


Kommentar hinzufügen

alpstein hat gesagt:
Gesendet am 14. September 2012 um 19:33
Eindrücklicher Bericht. Ich bin 2x auf dem Weg zur Payer Hütte an den vielen Gedenktafeln vorbei gekommen, was immer ein mulmiges Gefühl auslöste. Auch als bergsteigerischer Laie kann man erkennen, dass es in der Nordwand bei Steinschlag oder Eisabbruch kaum ein entrinnen gibt.

Gruß
alpstein

steindaube hat gesagt:
Gesendet am 14. September 2012 um 22:05
Vielen Dank für den Bericht. Ich kann alpstein's "eindrücklich" nur wiederholen...

joe hat gesagt:
Gesendet am 15. September 2012 um 17:45
Ich war schon einige Male auf dem Ortler. Immer als Eingehtour für hohe Westalpengipfel. Damals wohnte ich noch in München.

Damals unternahm ich auch oft Nordwandrouten. Die Ortler-Nordwand hat mich nie gereizt, da die objetiven Gefahren für mich zu hoch sind. Dies wird durch den trichterförmigen Verlauf der Wand besonders deutlich.

Als wir einmal die klassiche und sehr faszinierende Überschreitung des Ortlers unternahmen, wurde am Fuss der Wand gerade eine Seilschaft per Heli geborgen. Dies ist mir beim Lesen dieses Berichtes wieder in Erinnerung gerufen worden.

Wenn ich heute mal eine "steile" Route unternehme, dann nur noch im Winter bei entsprechend "sicheren" Verhältnissen.

Peter K. hat gesagt:
Gesendet am 16. September 2012 um 14:57
Für mich stand die Wand lange Zeit auch jenseits jedem Streben. Aber mit jeder positiven Erfahrung relativieren sich Schwierigkeit und Risiko leider immer mehr und so kam es, dass wir uns dachten "Wieso eigentlich nicht?".
Es ist lehrreich sich auf diese Weise erneut seiner Grenzen bewußt zu werden. Eine gesunde Portion Demut vor der Natur ist immer noch die beste Grundlage für ein langes Bergsteiger-Dasein.


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