Vallone dei Russi – einsames Refugium

Giuseppe Brenna beschreibt treffend im SAC-Clubführer, Tessiner Alpen Nr. 2, in der Headline von Route 1380 (Punta di Spluga über den SSE-Grat): „Vallone dei Russi und Costa dei Russi sind Eigennamen, deren Ursprung in die Zeitepoche zurückgeht, da die österreichisch/russisch/ungarischen Truppen bis ins Valle Maggia vorstiessen(Ende 1700, anfangs 1800): nicht, dass die Russen die entlegensten, unwegsamsten Örtlichkeiten unserer Berge erobert hätten; vielmehr brachten sich viele Bewohner hier oben in Sicherheit“
Diese Zeilen las ich vor Jahren und haben mich in ihren Bann gezogen. Und heute ist es soweit. Durch glückliche Umstände kann ich die Tour auf zwei Tage verteilen. Ein gut geübter Wanderer könnte sie in einem Tag absolvieren.
Ich starte in Someo 378m und folge dem markierten Wanderweg bis zur schwer erkennbaren Abzweigung nach rechts auf 1060m. Auf knapp erkennbarem horizontalem Weg erreiche ich Sinda 1063m. Ich wundere mich, ein wrw-Zeichen zu sehen und folge diesem ehemaligen Wanderweg. Schon bald weiss ich, weshalb dieser eingegangen ist: Eine etwa 50 m lange Passage führt über ein schmales, exponiertes Felsband.
Nach dieselbiger benütze ich den folgenden Rücken links , um vorerst weglos, dann auf dem  Zubringer von Mondada dort hinauf zu steigen. Nun horizontal auf schönem Weg nach Boscheia. Allesamt neu ausgebaute Rustici mit gepflegten Wiesen und Helilandeplätzen. Ein paar Schritte weiter treffe ich auf den direkten Weg von Someo herkommend und folge ihm über Sassello – Cortone 1296m nach Pianastrino 1368m.
Nun wenig steil – und sogar über ein Holzbrücklein– in den Graben des Vallone dei Russi hinein. Auf etwa 1400m quert der Weg den Bach und schlängelt sich nach Alpe di Carpagnasca 1694m hinauf.
Doch der Vallone reizt mich. Ich bleibe auf der orographisch linken Seite des Baches und erkenne nach etwa 40 hm das erste Wegzeichen – ein Steinmännchen. Den mageren Trittspuren entlang erreiche ich ein steiles, grasiges Couloir hinauf auf den Bosco delle Selle (Wald der Sättel). Sehr steil kraxle ich in diesem Wald ohne Unterholz Meter um Meter bis sich der Rücken etwas zurücklegt und „nur noch“ angenehme 40°-Steigung beträgt. Der Weg ist teilweise gut zu erkennen. Und das Andere überlasse ich meiner Spürnase. Doch ist auf dem Rücken ein Verirren eher unwahrscheinlich. Umso erstaunter bin ich, dass der Weg gegen oben immer ausgeprägter wird und sich von Sattel über Sattel teils auf offenen Wiesen hinaufschlängelt.
Schon bald wird mir klar, dass dieser Jägerpfad zur Costa dei Russi Pt. 2006 hinaufführen wird. Sensationelle Tiefblicke ins Maggiatal. Von weitem grüssen die Walliserberge und der Basodino, Val di Campo und das Tälchen zur Capanna d‘Alzasca. Viele verbrannte Bäume: Blitzschlag hat sie vor Jahren entzündet. Mühsam konnte der grossflächige Waldbrand gelöscht werden.
Oberhalb 1840m beginnt ein Felsgrat (abgelegter Stacheldraht-Zaun), welcher elegant eher links umgangen wird.
So stehe ich auf dem SSE-Grat der Punta di Spluga und könnte von hier leicht in 1 Stunde zu ihm hinauf. Ich entscheide mich jedoch, auf den Zubringerweg der Capanna Alpe Spluga abzusteigen. Das heisst eher auf ausgedehnten Wachholderfeldern hinunterwaten. Und während ich mich die letzten Meter elegant auf den feudalen Weg hinunterrollen lasse, erschrecke ich zwei Damen dermassen, dass die Ärmsten an einen Überfall denken und kein Wort des Grusses über die Lippen bringen. „Buongiorno – Salve – Grüezi – Guten Tag – Hallo – Bonjour…“, nichts nützt, sie davon zu überzeugen, dass ich ein gutmütiger, wohl etwas schrullig anzusehender, bärtiger Bergtiger bin. Sie verschwinden „tifig“ um die nächste Ecke Richtung Capanna!
Ich hingegen säubere meine Schuhe von den Wachholder-Nadeln und nehme den Weg Richtung  Pt.1906 - Costa 1505m – Arnau 1108m. Begrüssung durch das Arnau-Fest. Schock nach einem Tag mit Begegnung von ausschliesslich den zwei erschreckten Damen. Da sind es mehr wie hundert. Lotto-Bekanntgabe weit herum hörbar: Nr. 565 – Bravo – Lachen! Helikopter bereit zum Rückflug. Ich freue mich mit ihnen.
Über  Berzona 889m steige ich ab. Im Ganzen werden es 1700hm Abstieg sein. Dann wieder zurück zum Auto in Someo 378m über Pt. 402 und  Pt. 376.
Mit Ö.V. ginge es einfacher denke ich mir, als ich in der prallen Sonne die letzten Meter auf der Teerstrasse unter die Füsse nehme.
Es lebe das Valle Maggia mit seinen hunderten von Seitentälern!
Welches wird das nächste sein?