Tag 95: eine unvergessliche Begegnung mit 50 Geiern und einem Neugeborenen
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Im schönen Sommer 2015 unternahmen
Judith7 und ich eine Alpendurchquerung von Wien nach Monaco. 1832 Kilometer zu Fuß, 102.000 Höhenmeter, 103 Tage. Einmal die Alpen sehen, alle, von Ost nach West.
Ab und zu poste ich neben dem oben verlinkten Hauptbericht noch Berichte zu einzelnen Tagesetappen, aus ganz verschiedenen Gründen. Dieser hier dreht sich um die Geburt einer Kuh, bei der wir helfen konnten. Und weil um Weihnachten herum das Thema Geburt aktuell ist und die
Waldelfe und ich auch eine hinter uns haben, juckt mich dieser Bericht schon seit einiger Zeit in den Fingern. Also lasst euch erzählen!
Das Ganze begann eigentlich zwei Tage zuvor schon, an Tag 93 unserer Tour, von Sambuco nach Bagni di Vinadio bzw. Strepeis. Unser einziger Regenwandertag! Dass dieser auf uns zukommen würde, hatten wir schon fünf, sechs Tage zuvor erfahren, weshalb wir da unsere Etappen verlängerten, um die an Tag 93 so kurz wie möglich zu kriegen. Das hat zwar geklappt, aber Wasser aus unseren Schuhen kippen mussten wir am Ende doch...
Und wären wir nur ein paar Stunden später in Sambuco losgelaufen, hätten wir uns den Regen sogar ersparen können. Denn schon am frühen Nachmittag wurde das Wetter besser, und -
...und es geht hier ja eigentlich um eine ganz andere Tour!
Nur noch ganz kurz: Tag 94 war dann ein Pausentag gewesen. Wir erholten uns in (den) Bagni di Vinadio.
Bagni di Vinadio ist ein für die Region bedeutender Kurort, dessen Ursprünge bis in die Römerzeit zurückreichen. Er liegt im San Bernolfo-Tal, orographisch rechts vom Stura di Demonte-Tal.
Und eigentlich wollten wir nur in den Becken herumdümpeln, abpausen halt. Aber dann wurden wir nach Anwendungen gefragt.
Anwendungen? Wollten wir das?
"Na klar! Nur her damit, was immer ihr habt!"
"Nun, wir haben Schlamm"...
20 Minuten später standen wir zusammen mit anderen Badegästen im Kreis und schmierten uns und den Rücken vor uns mit Schlamm ein. Großartig! Wir hatten gedacht, das gibt's nur im Fernsehen. Das war aber noch lange nicht alles! Als nächstes wickelten wir uns mit Frischhaltefolie ein, wackelten in den nächsten Raum, wo wir dann mit Klangschalen beklangt wurden. Mit einem Wort: es war großartig. Bester Pausentag überhaupt.
Im Nachbarort Strepeis, wo wir (sehr nett und empfehlenswert) untergekommen waren, trockneten derweil unsere Schuhe, unsere Klamotten und das Zelt. Eine Wasche gab's dort sogar auch, wenn ich mich recht entsinne.
Und so konnten wir am nächsten Morgen trockenen Fußes und frischen Gewands in Strepeis (1281 m) starten. Wobei wir es an diesem Tag langsam angingen ließen, denn mit 12 Kilometern und 1200 Metern Aufstieg hatten wir erneut nur eine kurze Etappe vor uns. Aber was für eine....
Nichts ahnend schliefen wir aber erst einmal aus, und liefen auch dann noch nicht gleich los. Zunächst mussten noch einige Dinge erledigt werden: Ein Hotel in Monaco musste gebucht werden - und ein Heimflug von Nizza aus. Acht Tage noch - das Ende unserer Tour war in Sicht. Nach über drei Monaten zu Fuß ein ganz komisches Gefühl.
Als wir dann am späten Vormittag aufbrachen, war das Wetter gut, aber kühl. Passend zu den gemischten Gefühlen, mit denen wir uns an diesem Tag trugen. Es ging zunächst talweinwärts, ca. eine halbe Stunde bis kurz vor Callieri (1510 m), einer Fraktion Vinadios. Hier wandten wir uns nach links (Südosten), in ein herrliches Hochtal hinauf. Grüne Wiesen, bestanden von Lärchen und besetzt von kleinen und großen, hellgrauen Felsbrocken. Eine wunderbare Landschaft.
Das Tal dreht nach Süden, dann stiegen wir links eines markanten Horns hinauf in ein Seitental, wo das Gras noch einmal grüner war. Dunkle Stellen zeugten von einem feuchten Untergrund, und bald gelangten wir an einen kleinen, namenlosen See, an dem wir eine Pause einlegten. Es war gerade mal halb eins, und bis zu unserem Ziel war es nur noch eine gute Stunde Wegs.
Seit einiger Zeit schon beobachteten wir große Vögel über uns. Was wir zunächst für Adler hielten, vermehrte sich rasch so sehr, dass das unwahrscheinlich wurde. Geier!
Gänsegeier, vermuteten wir. Die Art übersommert seit langer Zeit regelmäßig in den Alpen und fliegt – wohl vor allem bedingt durch eine starke Bestandszunahme in Südwesteuropa – in den letzten Jahren im Sommer verstärkt auch in das nördliche Mitteleuropa ein. Diese Vögel sind riesig! Ausgewachsene Tiere sind über einen Meter lang, und haben eine Spannweite von 234 bis 269 Zentimeter. So einer kann dann schon mal elf Kilo wiegen!
Fun Fact: Eines der ältesten Musikinstrumente der Welt, die Knochenflöte aus der Höhle Hohler Fels im Alb-Donau-Kreis, wurde aus einem Flügelknochen eines Gänsegeiers hergestellt. Die Flöte ist ca. 35–40.000 Jahre alt....
Als wir aufbrachen, sahen wir, dass immer mehr Tiere über einer ganz bestimmten Stelle links über uns am Hang kreisten. Über fünfzig, schätzten wir. Was es dort wohl zu sehen gab? Wir wurden neugierig, warfen die Rucksäcke ab, und stiegen, na, eigentlich rannten wir weglos den Hang hinauf. Nach 95 Tagen ist man fit.
Wir näherten uns bald einem Absatz oberhalb, den die Geier als Startrampe nutzten.
Die Tiere müssen Anlauf nehmen, um ihre Körper in die Luft zu wuchten. Dabei sahen wir sie früher als sie uns, was dazu führte, dass sie über unseren Köpfen über die Absatzkante kamen, sich gerade in die Luft legen wollten - als sie uns entdeckten, erschraken und schnell abdrehten. Das passierte bald in so schneller Folge, dass wir bald kapierten, dass die Tiere den Absatz unseretwegen verließen. Und wir wurden umso neugieriger: Was gab es dort oben nur?
Schließlich stiegen wir auf den Absatz hinauf - und wurden sehr schnell sehr langsam. Die Situation war klar: Eine Kuh, die einige Meter links von uns stand, hatte nur Momente zuvor ein Kalb zur Welt gebracht. Beide standen zitternd da, logisch, wenn fünfzig Geier einen belagern!
Die waren allerdings nicht an den beiden interessiert: Geier fressen Aas. Und die Nachgeburt von Kühen, offensichtlich. Von der war nämlich keine Spur zu sehen. Dafür hatten offensichtlich die Geier gesorgt. Ein paar saßen sogar noch herum; die Tiere fressen gelegentlich so viel, dass sie Teile der Nahrung wieder herauswürgen müssen, um abfliegen zu können.
Das Kälbchen und seine Mama waren ziemlich fertig - kein Wunder bei dem, was die beiden hinter sich hatten. Dann noch von Geiern belagert zu werden, muss die beiden zusätzlich verstört haben. Wir hielten Abstand, bekamen aber mit, dass die zwei froh waren, dass wir - wenn auch unabsichtlich - die Geier verscheucht hatten.
Als wir uns schon zurückziehen wollten, setzten sich auch die Kuh und ihr Kälbchen in Bewegung - und bildeten mit uns eine kleine Vierergruppe. So wanderten wir nun langsam und vorsichtig auf einer breiten Geländekante, auf der die beiden wohl heraufgekommen waren, hinunter zum Wanderweg.
Von fern tönten die Glocken einer Kuhherde herüber, zu der unsere beiden Begleiter offensichtlich gehörten, und zu der sie nun wieder zurückkehren wollten. Aber dann passierte etwas, das für
Judith7 und mich zu einem der schönsten Momente unserer gesamten Tour werden sollte:
Wir nahmen unsere Rucksäcke wieder auf und schickten uns an, weiter nach Sant'Anna di Vinadio zu gehen. Da blieben die beiden stehen, drehten sich um und sahen uns an, langsam und ruhig mit den Köpfen wackelnd. Fast war es, als würden sie sich fürs Verjagen der Geier bedanken, und sich von uns verabschieden.
Etwa eine Minute lang ging das so. Dann wandten sich Kalb und Kuh ab, und liefen langsam zu ihrer Herde zurück.
So etwas hatten wir noch nicht erlebt. Schwer beeindruckt, und erst einmal ein Weilchen schweigend stiegen wir hinauf in den nahen Passo Tesina (2393 m).
Wer hätte damals gedacht, dass ich kaum ein Jahr später noch einmal zur Geburt von Kälbchen dazukommen würde! Aber das steht anderswo.
Wo wir dann 20 Minuten später schon ankamen. Halb drei war es inzwischen, und wir beschlossen, den Abstecher zur nahen Cima Tesina (2460 m) noch zu machen.
Ein schöner Aussichtsberg! Den Osten dominieren die Punta Maladecia, die Testa Gias dei Laghi, Monte Aver und Mont Malinvern auf der gegenüberliegenden Talseite. Den Südosten markiert der Sattel des Col de la Lombarde, über den es am darauffolgenden Tag weiter Richtung Mittelmeer ging. Rechts davon erhebt sich mit dem Mont Saint Sauveur noch einmal ein 2700er.
Es folgen Testa di colla Auta und Cime du Lausfer, den Südwesten markiert die nahe Tête Haute du Lausfer. Weiter Richtung Westen folgen dann Cime de Prals, Roche du Saboule und, genau im Westen, Serriera del Pignal.
Dann werden die Zacken schärfer: Der 3000er Corborant, die Punta Gioffredo, der Monte Laroussa und der Grand Cimon de Rabuons sind die eindrucksvollsten Hörner Richtung Nordwesten. Und dann kann man im Norden - bei guter Sicht - noch einige prominente 3000er erkennen: Brec de Chambeyron, Tête de Moise, Aiguille de Chambeyron, Brec de l'Homme und Mont de Maniglia.
Schließlich schiebt sich der nahe, 150 Meter höhere Monte le Steliere ins Blickfeld, bevor der fast 50 Kilometer entfernte Monviso den Norden markiert und man, rechts davon, sogar kurz aus den Alpen in die Ebene hinaus schielen kann.
Zurück am Passo Tesina (2393 m) wanderten wir dann an einigen hübschen Seelein vorbei hinunter zum Lago di Sant Anna (2180 m), schon unmittelbar über unserem Tagesziel.
Der Sant'Anna-See ist bei Wanderern und Besuchern der Wallfahrtskirche sehr beliebt, und so war hier einiges los.
Von hier aus könnte man direkt zum Santuario absteigen, wir nahmen aber eine kleine Schleife nach Süden, die uns bald an den Masso dell' apparizione (2079 m) führte, einen Fels von großer Bedeutung für die hiesige Wallfahrt.
Der Legende nach erschien hier die heilige Anna (Marias Mutter) der Hirtin Anna Bagnis, um ihr den Ort zu zeigen, an dem eine Kirche gebaut werden sollte. Am Ende wurde der Bau 550 Meter weiter nördlich errichtet - aber das dürfte wohl noch in Annas Toleranzbereich gelegen haben. Fels und Kirche befinden sich an einem alten Saumpfad, der weiter zum Sant'Anna-Pass führt. Auf dem Felsen stehen heute Statuen, die die Hirtin und die Heilige Anna mit Maria darstellen.
Wann das gewesen sein soll, ist allerdings nicht klar: Die Wallfahrtskirche Sant’Anna wurde 1682 erbaut, von einem Heiligtum hier heroben ist aber schon 1307 die Rede. Damals wurden an vielen Alpenpässen auf Initiative der Kirche Hospize zur Betreuung von Reisenden und Pilgern errichtet (das vermutlich bekannteste steht heute noch am Grand Saint-Bernard), und das damals noch der heiligen Maria geweihte Hospiz Santa Maria di Brasca war eines davon. Von Anna ist erst viel später die Rede.
Also vor Ort nachsehen, in Sant'Anna di Vinadio (2020 m).
Dort besichtigen wir die Kirche (und natürlich auch den Souvenirshop). Die Wallfahrtskirche Sant’Anna wurde, wie gesagt, 1682 erbaut. Sie gilt als die höchstgelegene christliche Kultstätte in Europa (wobei - ist das nicht die Rocciamelone?). Ihre Anfänge reichen zurück auf das oben erwähnte Hospiz Santa Maria di Brasca. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts verbreitete sich dann die Verehrung der Heiligen Anna im Piemont, und so hat man das Hospiz wohl irgendwann umgewidmet. 1443 dokumentiert ein Text, dass die Kirche damals nicht mehr Maria, sondern nunmehr ihrer Mutter Anna geweiht war.
Zu Beginn des Jahres 1500 ist von Menschenmengen die Rede, die zur Kapelle des Hospizes pilgern, von Transporten, Winterhilfe für die Führer, Verpflegung und Unterkunft für Reisende sowie vom Läuten von Glocken bei Sturm und Nebel. Im selben Jahrhundert schenkte die Kathedrale von Apt in Frankreich dem Heiligtum einen kleinen Teil der Reliquie der Heiligen. Im Jahr 1722 wurde die gestiftete Reliquie in den noch heute verehrten "Arm" gelegt.
1681/82 wurde dann die heutige Kirche errichtet, auf einem vom Gletscher glatt geschliffenen Felsen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kamen neue Gebäude hinzu, um die Pilger unterzubringen, die zum Heiligtum hinaufzogen. Von 1793 bis 1796 und noch einmal im Zweiten Weltkrieg war das Heiligtum Schauplatz von Kriegshandlungen, wurde geplündert und verwüstet. Doch die Anlage wurden immer wiederhergestellt. Seit 1964 führt eine asphaltierte Straße herauf.
Wir trafen dann auch noch auf Martin mit seiner Summit-Club-Gruppe. Und in meinen Notizen steht etwas von drei Mädels aus Belgien - aber was da war, weiß ich nicht mehr.
Ins Gedächtnis eingebrannt hatte sich aber sowieso etwas ganz anderes: unsere Begegnung mit den beiden Kühen. Und nachdem das jetzt auch neun Jahre später nicht vergessen ist, im Gegenteil sogar so präsent, als wäre es gestern erst gewesen, dachte ich, ich erzähle mal davon.
Tja, so war das damals. Und am nächsten Tag ging es gleich wieder weiter, auf zu neuen Erlebnissen. An Tag 96 machten wir eine lange, einsame Tour entlang der französischen Grenze und über zwei hohe Jöcher und am Rifugio Malinvern vorbei zum Rif. Valasco, der verrücktesten Hütte unserer Tour. Und damit verließen wir dann auch endgültig die GTA, der wir (mehr oder weniger) gefolgt waren, seit wir sie 31 Tage zuvor erreicht hatten.

Ab und zu poste ich neben dem oben verlinkten Hauptbericht noch Berichte zu einzelnen Tagesetappen, aus ganz verschiedenen Gründen. Dieser hier dreht sich um die Geburt einer Kuh, bei der wir helfen konnten. Und weil um Weihnachten herum das Thema Geburt aktuell ist und die

Das Ganze begann eigentlich zwei Tage zuvor schon, an Tag 93 unserer Tour, von Sambuco nach Bagni di Vinadio bzw. Strepeis. Unser einziger Regenwandertag! Dass dieser auf uns zukommen würde, hatten wir schon fünf, sechs Tage zuvor erfahren, weshalb wir da unsere Etappen verlängerten, um die an Tag 93 so kurz wie möglich zu kriegen. Das hat zwar geklappt, aber Wasser aus unseren Schuhen kippen mussten wir am Ende doch...
Und wären wir nur ein paar Stunden später in Sambuco losgelaufen, hätten wir uns den Regen sogar ersparen können. Denn schon am frühen Nachmittag wurde das Wetter besser, und -
...und es geht hier ja eigentlich um eine ganz andere Tour!
Nur noch ganz kurz: Tag 94 war dann ein Pausentag gewesen. Wir erholten uns in (den) Bagni di Vinadio.
Bagni di Vinadio ist ein für die Region bedeutender Kurort, dessen Ursprünge bis in die Römerzeit zurückreichen. Er liegt im San Bernolfo-Tal, orographisch rechts vom Stura di Demonte-Tal.
Und eigentlich wollten wir nur in den Becken herumdümpeln, abpausen halt. Aber dann wurden wir nach Anwendungen gefragt.
Anwendungen? Wollten wir das?
"Na klar! Nur her damit, was immer ihr habt!"
"Nun, wir haben Schlamm"...
20 Minuten später standen wir zusammen mit anderen Badegästen im Kreis und schmierten uns und den Rücken vor uns mit Schlamm ein. Großartig! Wir hatten gedacht, das gibt's nur im Fernsehen. Das war aber noch lange nicht alles! Als nächstes wickelten wir uns mit Frischhaltefolie ein, wackelten in den nächsten Raum, wo wir dann mit Klangschalen beklangt wurden. Mit einem Wort: es war großartig. Bester Pausentag überhaupt.
Im Nachbarort Strepeis, wo wir (sehr nett und empfehlenswert) untergekommen waren, trockneten derweil unsere Schuhe, unsere Klamotten und das Zelt. Eine Wasche gab's dort sogar auch, wenn ich mich recht entsinne.
Und so konnten wir am nächsten Morgen trockenen Fußes und frischen Gewands in Strepeis (1281 m) starten. Wobei wir es an diesem Tag langsam angingen ließen, denn mit 12 Kilometern und 1200 Metern Aufstieg hatten wir erneut nur eine kurze Etappe vor uns. Aber was für eine....
Nichts ahnend schliefen wir aber erst einmal aus, und liefen auch dann noch nicht gleich los. Zunächst mussten noch einige Dinge erledigt werden: Ein Hotel in Monaco musste gebucht werden - und ein Heimflug von Nizza aus. Acht Tage noch - das Ende unserer Tour war in Sicht. Nach über drei Monaten zu Fuß ein ganz komisches Gefühl.
Als wir dann am späten Vormittag aufbrachen, war das Wetter gut, aber kühl. Passend zu den gemischten Gefühlen, mit denen wir uns an diesem Tag trugen. Es ging zunächst talweinwärts, ca. eine halbe Stunde bis kurz vor Callieri (1510 m), einer Fraktion Vinadios. Hier wandten wir uns nach links (Südosten), in ein herrliches Hochtal hinauf. Grüne Wiesen, bestanden von Lärchen und besetzt von kleinen und großen, hellgrauen Felsbrocken. Eine wunderbare Landschaft.
Das Tal dreht nach Süden, dann stiegen wir links eines markanten Horns hinauf in ein Seitental, wo das Gras noch einmal grüner war. Dunkle Stellen zeugten von einem feuchten Untergrund, und bald gelangten wir an einen kleinen, namenlosen See, an dem wir eine Pause einlegten. Es war gerade mal halb eins, und bis zu unserem Ziel war es nur noch eine gute Stunde Wegs.
Seit einiger Zeit schon beobachteten wir große Vögel über uns. Was wir zunächst für Adler hielten, vermehrte sich rasch so sehr, dass das unwahrscheinlich wurde. Geier!
Gänsegeier, vermuteten wir. Die Art übersommert seit langer Zeit regelmäßig in den Alpen und fliegt – wohl vor allem bedingt durch eine starke Bestandszunahme in Südwesteuropa – in den letzten Jahren im Sommer verstärkt auch in das nördliche Mitteleuropa ein. Diese Vögel sind riesig! Ausgewachsene Tiere sind über einen Meter lang, und haben eine Spannweite von 234 bis 269 Zentimeter. So einer kann dann schon mal elf Kilo wiegen!
Fun Fact: Eines der ältesten Musikinstrumente der Welt, die Knochenflöte aus der Höhle Hohler Fels im Alb-Donau-Kreis, wurde aus einem Flügelknochen eines Gänsegeiers hergestellt. Die Flöte ist ca. 35–40.000 Jahre alt....
Als wir aufbrachen, sahen wir, dass immer mehr Tiere über einer ganz bestimmten Stelle links über uns am Hang kreisten. Über fünfzig, schätzten wir. Was es dort wohl zu sehen gab? Wir wurden neugierig, warfen die Rucksäcke ab, und stiegen, na, eigentlich rannten wir weglos den Hang hinauf. Nach 95 Tagen ist man fit.
Wir näherten uns bald einem Absatz oberhalb, den die Geier als Startrampe nutzten.
Die Tiere müssen Anlauf nehmen, um ihre Körper in die Luft zu wuchten. Dabei sahen wir sie früher als sie uns, was dazu führte, dass sie über unseren Köpfen über die Absatzkante kamen, sich gerade in die Luft legen wollten - als sie uns entdeckten, erschraken und schnell abdrehten. Das passierte bald in so schneller Folge, dass wir bald kapierten, dass die Tiere den Absatz unseretwegen verließen. Und wir wurden umso neugieriger: Was gab es dort oben nur?
Schließlich stiegen wir auf den Absatz hinauf - und wurden sehr schnell sehr langsam. Die Situation war klar: Eine Kuh, die einige Meter links von uns stand, hatte nur Momente zuvor ein Kalb zur Welt gebracht. Beide standen zitternd da, logisch, wenn fünfzig Geier einen belagern!
Die waren allerdings nicht an den beiden interessiert: Geier fressen Aas. Und die Nachgeburt von Kühen, offensichtlich. Von der war nämlich keine Spur zu sehen. Dafür hatten offensichtlich die Geier gesorgt. Ein paar saßen sogar noch herum; die Tiere fressen gelegentlich so viel, dass sie Teile der Nahrung wieder herauswürgen müssen, um abfliegen zu können.
Das Kälbchen und seine Mama waren ziemlich fertig - kein Wunder bei dem, was die beiden hinter sich hatten. Dann noch von Geiern belagert zu werden, muss die beiden zusätzlich verstört haben. Wir hielten Abstand, bekamen aber mit, dass die zwei froh waren, dass wir - wenn auch unabsichtlich - die Geier verscheucht hatten.
Als wir uns schon zurückziehen wollten, setzten sich auch die Kuh und ihr Kälbchen in Bewegung - und bildeten mit uns eine kleine Vierergruppe. So wanderten wir nun langsam und vorsichtig auf einer breiten Geländekante, auf der die beiden wohl heraufgekommen waren, hinunter zum Wanderweg.
Von fern tönten die Glocken einer Kuhherde herüber, zu der unsere beiden Begleiter offensichtlich gehörten, und zu der sie nun wieder zurückkehren wollten. Aber dann passierte etwas, das für

Wir nahmen unsere Rucksäcke wieder auf und schickten uns an, weiter nach Sant'Anna di Vinadio zu gehen. Da blieben die beiden stehen, drehten sich um und sahen uns an, langsam und ruhig mit den Köpfen wackelnd. Fast war es, als würden sie sich fürs Verjagen der Geier bedanken, und sich von uns verabschieden.
Etwa eine Minute lang ging das so. Dann wandten sich Kalb und Kuh ab, und liefen langsam zu ihrer Herde zurück.
So etwas hatten wir noch nicht erlebt. Schwer beeindruckt, und erst einmal ein Weilchen schweigend stiegen wir hinauf in den nahen Passo Tesina (2393 m).
Wer hätte damals gedacht, dass ich kaum ein Jahr später noch einmal zur Geburt von Kälbchen dazukommen würde! Aber das steht anderswo.
Wo wir dann 20 Minuten später schon ankamen. Halb drei war es inzwischen, und wir beschlossen, den Abstecher zur nahen Cima Tesina (2460 m) noch zu machen.
Ein schöner Aussichtsberg! Den Osten dominieren die Punta Maladecia, die Testa Gias dei Laghi, Monte Aver und Mont Malinvern auf der gegenüberliegenden Talseite. Den Südosten markiert der Sattel des Col de la Lombarde, über den es am darauffolgenden Tag weiter Richtung Mittelmeer ging. Rechts davon erhebt sich mit dem Mont Saint Sauveur noch einmal ein 2700er.
Es folgen Testa di colla Auta und Cime du Lausfer, den Südwesten markiert die nahe Tête Haute du Lausfer. Weiter Richtung Westen folgen dann Cime de Prals, Roche du Saboule und, genau im Westen, Serriera del Pignal.
Dann werden die Zacken schärfer: Der 3000er Corborant, die Punta Gioffredo, der Monte Laroussa und der Grand Cimon de Rabuons sind die eindrucksvollsten Hörner Richtung Nordwesten. Und dann kann man im Norden - bei guter Sicht - noch einige prominente 3000er erkennen: Brec de Chambeyron, Tête de Moise, Aiguille de Chambeyron, Brec de l'Homme und Mont de Maniglia.
Schließlich schiebt sich der nahe, 150 Meter höhere Monte le Steliere ins Blickfeld, bevor der fast 50 Kilometer entfernte Monviso den Norden markiert und man, rechts davon, sogar kurz aus den Alpen in die Ebene hinaus schielen kann.
Zurück am Passo Tesina (2393 m) wanderten wir dann an einigen hübschen Seelein vorbei hinunter zum Lago di Sant Anna (2180 m), schon unmittelbar über unserem Tagesziel.
Der Sant'Anna-See ist bei Wanderern und Besuchern der Wallfahrtskirche sehr beliebt, und so war hier einiges los.
Von hier aus könnte man direkt zum Santuario absteigen, wir nahmen aber eine kleine Schleife nach Süden, die uns bald an den Masso dell' apparizione (2079 m) führte, einen Fels von großer Bedeutung für die hiesige Wallfahrt.
Der Legende nach erschien hier die heilige Anna (Marias Mutter) der Hirtin Anna Bagnis, um ihr den Ort zu zeigen, an dem eine Kirche gebaut werden sollte. Am Ende wurde der Bau 550 Meter weiter nördlich errichtet - aber das dürfte wohl noch in Annas Toleranzbereich gelegen haben. Fels und Kirche befinden sich an einem alten Saumpfad, der weiter zum Sant'Anna-Pass führt. Auf dem Felsen stehen heute Statuen, die die Hirtin und die Heilige Anna mit Maria darstellen.
Wann das gewesen sein soll, ist allerdings nicht klar: Die Wallfahrtskirche Sant’Anna wurde 1682 erbaut, von einem Heiligtum hier heroben ist aber schon 1307 die Rede. Damals wurden an vielen Alpenpässen auf Initiative der Kirche Hospize zur Betreuung von Reisenden und Pilgern errichtet (das vermutlich bekannteste steht heute noch am Grand Saint-Bernard), und das damals noch der heiligen Maria geweihte Hospiz Santa Maria di Brasca war eines davon. Von Anna ist erst viel später die Rede.
Also vor Ort nachsehen, in Sant'Anna di Vinadio (2020 m).
Dort besichtigen wir die Kirche (und natürlich auch den Souvenirshop). Die Wallfahrtskirche Sant’Anna wurde, wie gesagt, 1682 erbaut. Sie gilt als die höchstgelegene christliche Kultstätte in Europa (wobei - ist das nicht die Rocciamelone?). Ihre Anfänge reichen zurück auf das oben erwähnte Hospiz Santa Maria di Brasca. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts verbreitete sich dann die Verehrung der Heiligen Anna im Piemont, und so hat man das Hospiz wohl irgendwann umgewidmet. 1443 dokumentiert ein Text, dass die Kirche damals nicht mehr Maria, sondern nunmehr ihrer Mutter Anna geweiht war.
Zu Beginn des Jahres 1500 ist von Menschenmengen die Rede, die zur Kapelle des Hospizes pilgern, von Transporten, Winterhilfe für die Führer, Verpflegung und Unterkunft für Reisende sowie vom Läuten von Glocken bei Sturm und Nebel. Im selben Jahrhundert schenkte die Kathedrale von Apt in Frankreich dem Heiligtum einen kleinen Teil der Reliquie der Heiligen. Im Jahr 1722 wurde die gestiftete Reliquie in den noch heute verehrten "Arm" gelegt.
1681/82 wurde dann die heutige Kirche errichtet, auf einem vom Gletscher glatt geschliffenen Felsen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kamen neue Gebäude hinzu, um die Pilger unterzubringen, die zum Heiligtum hinaufzogen. Von 1793 bis 1796 und noch einmal im Zweiten Weltkrieg war das Heiligtum Schauplatz von Kriegshandlungen, wurde geplündert und verwüstet. Doch die Anlage wurden immer wiederhergestellt. Seit 1964 führt eine asphaltierte Straße herauf.
Wir trafen dann auch noch auf Martin mit seiner Summit-Club-Gruppe. Und in meinen Notizen steht etwas von drei Mädels aus Belgien - aber was da war, weiß ich nicht mehr.
Ins Gedächtnis eingebrannt hatte sich aber sowieso etwas ganz anderes: unsere Begegnung mit den beiden Kühen. Und nachdem das jetzt auch neun Jahre später nicht vergessen ist, im Gegenteil sogar so präsent, als wäre es gestern erst gewesen, dachte ich, ich erzähle mal davon.
Tja, so war das damals. Und am nächsten Tag ging es gleich wieder weiter, auf zu neuen Erlebnissen. An Tag 96 machten wir eine lange, einsame Tour entlang der französischen Grenze und über zwei hohe Jöcher und am Rifugio Malinvern vorbei zum Rif. Valasco, der verrücktesten Hütte unserer Tour. Und damit verließen wir dann auch endgültig die GTA, der wir (mehr oder weniger) gefolgt waren, seit wir sie 31 Tage zuvor erreicht hatten.
Tourengänger:
Nik Brückner

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