Masnàn – unser Heldengipfel im Tessin V2.0


Publiziert von ABoehlen , 5. November 2023 um 12:08.

Region: Welt » Schweiz » Tessin » Bellinzonese
Tour Datum:30 August 2000
Wandern Schwierigkeit: T4 - Alpinwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: Gruppo Torrone Alto   CH-TI   Gruppo Pizzo di Claro 
Zeitbedarf: 14:00
Aufstieg: 2400 m
Abstieg: 2400 m
Strecke:Biasca Stazione – Santa Petronilla – Aldirèi – Álbat – Alpe di Basso – Alpe di Pivicióu – Masnàn – A Merisciöu (Merisciolo) – Osogna Paese
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Biasca
Zufahrt zum Ankunftspunkt:Postauto nach Osogna
Kartennummer:LK1273 Biasca, 1293 Osogna

Hinweis: Dieser Bericht ersetzt jenen im Jahre 2010 verfassten. Die Bilder wurden anhand der analogen Papierabzüge neu gescannt und der Text überarbeitet. Die Schreibweise der Örtlichkeiten richtet sich nach der vom Kanton Tessin gemeldeten und in der heutigen Landeskarte abgebildeten. Die seinerzeit gültigen Namen sind – wo abweichend – in Klammer ergänzt.

Der Masnàn gehört aufgrund der Tatsache, dass er den Talgrund der Tessiner Riviera um über 2200 m überragt (und dies bei einer ungefähr identischen Horizontaldistanz) zu den eindrücklichsten Bergen der Schweiz. Dennoch ist er kaum bekannt und auch auf Hikr gibt es erst wenige Tourenberichte. Die liegt daran, dass er sich inmitten einer äusserst wilden und wenig erschlossenen Gegend befindet, wo es kaum Aufstiegshilfen gibt und auch die meisten Täler lediglich durch Fusswege erschlossen sind. Ausdauer im Bergauf- und Bergabwandern sind also Voraussetzung, will man diesen Gipfel erreichen.

Nach zwei Wochen Wanderferien in verschiedenen Ecken der Schweiz fühlen sich mein Kollege Oskar und ich genügend fit für dieses Unterfangen. Im Ristorante Stazione, das mir bereits von früheren Unternehmungen bekannt ist (z.B. im Frühling desselben Jahres), finden wir am Nachmittag des 29. August 2000 eine preisgünstige Unterkunft. Da wir vorhaben, in der Nacht zu starten, legen wir uns bereits am Nachmittag aufs Ohr, müssen aber feststellen, dass an Schlafen an dieser Lage zu dieser Uhrzeit nicht zu denken ist. Das Gebäude ist ringhörig und vor dem geschlossenen Fenster donnern Lastwagen und Güterzüge in rascher Folge vorbei. Mehr als ein Gewälze liegt nicht drin, und es erscheint uns wie eine Erlösung, als es endlich Mitternacht ist und wir aufbrechen.

Unten in der Gaststube sind sie eben dabei, den Laden dicht zu machen, und staunen nicht schlecht, als wir voll ausgerüstet die Treppe hinuntersteigen. Unsere Erklärung, jetzt auf eine Bergtour zu gehen, löst einiges Stirnrunzeln aus. Um diese Zeit??? Natürlich, der Aufstieg dauert mindestens 7 Stunden und hinunter wollen wir ja schliesslich auch wieder! Die Verwirrung seitens des Hotelpersonals wird mit diesem Erklärungsversuch nicht kleiner, woraus zu schliessen ist, dass Bergwandern für sie offensichtlich ein Fremdwort ist, obwohl sie am Fusse eines der eindrücklichsten Massive der Schweiz zuhause sind.

Unter einem klaren Nachthimmel bei angenehmer Temperatur gelangen wir vom Bahnhof (293 m) aus in die Ortsmitte (303 m), wo der schöne, erst gepflästerte, später geteerte Weg zur Brücke von Santa Petronilla (388 m) beginnt. Dies ist ein reizvoller Platz, den ich zuvor bei Tageslicht viele Male aufgesucht habe. Der Ri della Froda, der aus dem eindrücklichen Valle Santa Petronilla hervorströmt, stürzt über viele hohe Wasserfälle in die Tiefe und unter der schönen Bogenbrücke letztendlich über eine finale Klippe direkt zum Bahnhof hinunter. Diese Szenerie ist sicherlich jedem Gotthard-Bahnreisenden wohlbekannt.

Bei besagter Brücke endet die Strasse. Ein markierter Pfad zieht sich dort in spektakulärer Linienführung nach Negressima und weiter gegen das Valle Santa Petronilla hinauf. Wir schlagen indessen den Hangweg ein, der nicht markiert, mir von einer Erkundung zwei Jahre zuvor bei Tageslicht aber bereits bekannt ist. Dennoch ist das Aufspüren der richtigen Route in der Dunkelheit nicht immer einfach. Nach einem stetigen Anstieg nimmt die Steigung auf etwa 540 m Höhe ab und bald erreichen wir die verfallenen Hütten von Motta (601 m). Im weiteren Verlauf ist der Weg teilweise sogar leicht abfallend und wir passieren In Aldirèi (620 m), welches ebenfalls nur noch eine Ruine ist. Gleich dahinter queren wir das Val Scura (ohne Namen auf der Karte), welches meist wasserlos ist, auf einer stabilen Brücke. Hier endet nun der gemütliche Teil, denn ab jetzt geht es ernsthaft zur Sache!

Durch ein lockeres Birkenwäldchen zieht sich der hier gut erkennbare, oft aus übereinander geschichteten Granitplatten bestehende Weg kontinuierlich in die Höhe und passiert auf ca. 1020 m mehrere sich in gutem Zustand befindliche Häuser. Nicht weit von hier, aber abseits unseres Weges, liegt die Bergstation (heute Zwischenstation) einer privaten Seilbahn, die einen einfachen Zugang zu dieser Örtlichkeit sicherstellt. Wir gehen unterhalb des untersten Hauses durch und biegen gleich anschliessend rechts ab, wo sich eine Spur überaus steil den Wald hochzieht, um die Häusergruppe Ra Vall Scüra (Val Scura, ca. 1100 m) zu erreichen. Ein Brennnesseldickicht gilt es dort unbeschadet zu überstehen, um bei einer weiteren Ruine auf die Hangkante zu stossen, wo man bei Tageslicht einen prächtigen Tiefblick in den mittlerweile rund 900 Meter tiefer liegenden Talgrund genösse. Aber auch bei Nacht verraten uns die Lichter tief im Abgrund, wie hoch wir schon sind. Genau auf der anderen Seite sähe man übrigens zum ersten Mal den Gipfel des Masnàn, noch respekteinflössende 1400 Meter höher. Vielleicht ist es doch besser, dass es dunkel ist…

Ein weiterer Aufstieg folgt, immer schön im Zickzack und im Wald. Hier ist der Weg nicht zu verfehlen. Vorsicht ist oberhalb der 1400-Meter-Höhenlinie geboten, dass man nicht den Pfad erwischt, welcher nach In Álbat d Zótt (1463 m) führt. Da ich diese Stelle bereits kenne, geht alles gut vonstatten und wir erreichen nach Überwindung einer auffälligen Geländestufe um ca. 4:00 Uhr die Alphütten von In Álbat d Zóra (Albat, 1567 m). Ein bellender Hund nimmt schon von uns Notiz, als wir noch weit weg von der Ansiedlung sind. Dies deutet darauf hin, dass diese Alp zurzeit bewohnt ist. Die Bewohner werden sich schön bedanken, zu dieser frühen Stunde wegen uns geweckt zu werden! Aber nein, wir werden freundlich begrüsst und sogar zum Kaffee eingeladen! Wegen der zu diesem Zeitpunkt kaum existenten Italienischkenntnissen unsererseits, ist die Unterhaltung zwar äussert rudimentär, aber wir erfahren, dass sie unser Tagesziel kennen und werden informiert, dass man den Namen korrekt «Maschnàn» ausspricht.

Frisch gestärkt machen wir uns nach einer halben Stunde wieder auf den Weg. Die weitere Strecke zur Alpe di Basso (1805 m) ist nicht schwer und führt leicht ansteigend auf gutem Weg durch den waldigen Steilhang. Allmählich verblassen die Sterne und der neue Tag kündigt sich an. Als wir die Alp erreichen, ist es bereits hell. So realisieren wir auch, dass der bisher wolkenlose Himmel allmählich von dünnen Schleierwolken überzogen wird. Zu Befürchtungen ist aber noch kein Anlass vorhanden, und so schlagen wir frohen Mutes die undeutliche Strecke in den nördlichen Abhang des Valle d’Osogna ein. Dass nun über 100 Höhenmeter eingebüsst werden, will uns zwar nicht gefallen, lässt sich aber leider nicht umgehen. An der tiefsten Stelle (ca. 1690 m) zweigt rechterhand gut sichtbar der Weg ins Valle d’Osogna ab, den wir als Rückweg vorgesehen haben.

Ein erneuter Aufstieg führt uns zur Alpe d’Otri (1870 m) und hinein in den Talkessel Piancra di Pivicióu. Bald lockert sich der Wald auf und zeigt uns, dass die Waldgrenze nicht mehr fern ist. Durch reichlich verbuschtes Gelände passieren wir die spärlichen Reste von Larecc (ca. 1940 m) und die Kehle des Tales (ca. 2020 m), worauf es erneut leicht fallend zur Alpe di Pianvèdri (1978 m) weitergeht. Dort gilt es, einen von üppig wucherndem Gestrüpp bedeckten Steilhang zu erklimmen, ehe wir die höchstgelegene Alphütte auf diesem Weg, die Alpe di Pivicióu erreichen. Auf einem erstaunlich breiten Weg gelangen wir nun abermals hinein in die Piancra di Pivicióu, wo sich die letzten Wegspuren bei der Höhenkote 2216 endgültig im grünen Nirvana verlieren. Nun gibt es nichts anderes, als den hauptsächlich von Gras bedeckten Abhang 300 Höhenmeter in der Falllinie emporzukraxeln, teils auf allen Vieren. Oben am Grat angelangt, ist es nur noch ein kurzes Stück zum Gipfel, den wir um 9:15 Uhr erreichen. Er besteht bloss aus einem tristen Steinhaufen, ohne Gipfelkreuz und -buch, aber der Tiefblick hinunter in den über 2200 Meter tiefer liegenden Graben der Riviera ist überwältigend!

Leider bleibt uns aber nicht viel Zeit, ihn zu geniessen, denn mittlerweile haben die Wolken den Himmel völlig bedeckt und beginnen auch schon, die Berggipfel einzuhüllen, was natürlich auch mit einem drastischen Temperaturrückgang einhergeht. Deshalb rutschen wir bereits eine Viertelstunde später vorsichtig wieder den Grashang hinab und folgen weiter unten dem Weg zur Alpe di Pivicióu. Dort werden wir bereits erwartet: Rund 30 Schafe nähern sich, und nehmen uns alsbald in ihre Mitte. Unsere seit rund 10 Stunden mit Schweiss getränkten Kleider müssen eine unglaubliche Anziehungskraft auf sie ausüben. Uns wird dies freilich bald zum Problem, denn sie folgen uns nicht nur auf Schritt und Tritt, sondern schubsen uns auch noch frech von hinten an, wenn wir es an einer heiklen Stelle etwas langsamer angehen müssen. Die Sorge, dass uns diese Tiere bis ins Tal folgen, erweist sich zum Glück aber als unbegründet, denn etwa bei der Alpe d’Otri werden sie unser überdrüssig und ihr Interesse wird von etwas anderem in Beschlag genommen. Uns ist das nur recht, denn auf dem nun bald folgenden Steilabstieg in den Talgrund des Valle d’Osogna ist Konzentration gefragt und aufdringliche Schafe wären definitiv fehl am Platz!

Der Weg ist in gutem Zustand und führt uns über hunderte Höhenmeter in die Tiefe. In der kleinen Ansiedlung A Merisciöu (Merisciolo, 1240 m) haben wir den Boden dieses Tales erreicht, wobei wir uns hier immer noch fast 1000 Meter über dem Zielort im Haupttal befinden. Allein diese Zahlen geben einem eine gute Vorstellung der Welt dieses Tales, die man nur mit gewaltig, imposant, eindrücklich und ähnlichen Adjektiven beschreiben kann. Dass keine Strasse, sondern nur ein Fussweg in dieses Tal führt, macht es noch sympathischer. Der Fluss, die Nala, hat sich tief in den Tessiner Granit eingefressen und bildet z.B. im Bereich der Brücke Pt. 950 herrliche Wasserfälle mit tiefen Gumpen darunter.

Im vorderen Teil des Tales drängt sich gegenüber die gut 1000 Meter hohe Felswand der Trenta Sassi ins Blickfeld, dessen höchster Punkt, die Cima di Basso (oder Parete d’Osogna, 1698 m) trotzdem noch weit unter der von uns heute erreichten Höhe liegt. Dies führt uns eindrücklich vor Augen, wie weit wir schon abgestiegen sind. Aber zuvorderst im Tal, bei den Häusern von Pönt (753 m) befinden wir uns noch immer 500 Meter über unserem Ziel Osogna, das wir jetzt zum ersten Mal erblicken.

Dieser finale Abstieg wird noch zu einer ziemlichen Tortur, denn die lang gezogenen Windungen, die der Weg im Kastanienwald beschreibt, wollen und wollen nicht enden. Zudem macht sich die Müdigkeit immer stärker bemerkbar und zu allem Übel beginnt es zu regnen. Aber irgendwann ist auch der längste Abstieg zu Ende und um 14:20 Uhr erreichen wir die Bushaltestelle Osogna-Paese (274 m) und können bald mit dem Postauto nach Biasca zurückkehren. Müde, aber stolz auf die vollbrachte Tour freuen wir uns jetzt darauf, aus den nassen Kleidern raus- und unter die Dusche zu kommen. Und das Abendessen ist auch nicht mehr fern. Pizza wird aufgetischt und auch für ein Dessert ist noch Platz!

Tourengänger: ABoehlen


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