Über Grossvaters Grätli...


Publiziert von lorenzo , 10. Mai 2019 um 21:10.

Region: Welt » Schweiz » Bern » Oberhasli
Tour Datum: 7 September 2004
Wandern Schwierigkeit: T5 - anspruchsvolles Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: SS-
Klettern Schwierigkeit: IV (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-BE 
Zeitbedarf: 14:30
Aufstieg: 1875 m
Abstieg: 2645 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Handegg
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Innertkirchen
Unterkunftmöglichkeiten:Hotel Handeck, Biwakplätze auf Ärlen bei der Hütte 1696, in der Mulde W P. 2150 oder Bi Seewlenen, Gruebenhütte SAC
Kartennummer:LK 1230 Guttannnen; H. Grossen, Berner Oberland - Die 100 schönsten Touren, Bruckmann 1989; U. Mosimann, Clubführer Berner Alpen V, SAC 1996; D. Silbernagel, S. Wullschleger, Berner Alpen, topo.verlag 2016;

Mein Grossvater hatte sich in jungen Jahren oft und gerne mit seinen Cousins in den Bergen herumgetrieben. Sie machten v.a. im Haslital, aber auch in anderen Gebieten des Berner Oberlands ausgedehnte Wanderungen, Kletter- und Hochtouren. Nach der Heirat und der Geburt der Kinder steckte er Familie und Beruf zuliebe seine bergsteigerischen Aktivitäten etwas zurück und beschränkte seinen Radius immer mehr um die Gegend rund um Thun, seinem Wohn- und Arbeitsort, und um Brienz, seinem bevorzugten Ferienort. Villeicht als einer der Ersten erkundete er, ausgerüstet mit Kletterzeug und Fischerstiefeln, oftmals begleitet vom Familienhund, den er bei Bedarf auch ans Seil nahm, die nahen Flussläufe und Schluchten von Rotache und Zulg sowie das Räbloch am Oberlauf der Emme. So praktizierte er eine Art Canyoning lange vor der Etablierung dieser Disziplin.

Er war auch ein Tüftler und erfand die "Ente", ein Abseilgerät aus einem grossen und zwei daran geschweissten kleineren Ringen unterschiedlichen Durchmessers (für verschiedene Seildicken bzw. Doppel- oder Zwillingsseil), von dem er bei einem Schlosser in Thun zuerst einen Prototypen aus Stahl herstellen liess - der naturgemäss noch viel zu schwer war -, bevor er die Lizenz für die Serienproduktion aus Aluminium an Arnold Glatthard in Meiringen verkaufte. Das Seilbremsprinzip, wurde später von W. Munter für seine Bremse übernommen und findet heute beim beliebten Abseilachter noch immer seine Anwendung.

Während er in den Sommer- und Herbstferien seinen Kindern Latscher wie Gärsten- oder Tannhorn oder Kraxelein wie Juchlistock oder Sustenlochspitz zumutete, oder wenn es morgens verhangen war, und die Kinder lieber ausgeschlafen hätten, die Wolken als "Morgenäbeli" oder "Schönwätterwüuchli" umdeutete, habe er laut meiner Mutter zum Ritzlihorn dann doch gemeint: "dä Bruchhuufe chöi mer üs spare!" Insgeheim träumte er für sich aber von der schönsten und schwierigsten Route auf das Ritzlihorn über das Ärlengrätli, das, im Unterschied zu den übrigen "Bruchrouten" und dem 
Schlussaufstieg über den Grau- bzw. S-Grat  aus mehr oder weniger brüchigem Schiefer, aus bestem Aaregranit besteht. Viel später erklärte er mir dann einmal die Gesteinsgrenze am Wyssenbachlimelti, wo gegenüber dem Ärlengrätli der viel kürzere und leichtere Stampfhoren WNW-Grat aus Amphibolit ansetzt.

So machte ich mich denn in den Herbstferien 1979 mit einem Schulkollegen, der bereits ein erfahrener JO-ler war, zuerst einmal Richtung Stampfhoren auf. Wir biwakierten in der Hütte auf der Ärlenalp und stiegen anderntags zum Wyssenbachlimelti auf. Beim ausgesetzten Turm am W-Grat musste ich dann zwar etwas auf die Zähne beissen, am Seil des vorauskletternden Kollegen gelangte ich jedoch sicher hinauf. Der übrige W- und der Abstieg über den E-Grat und über das Stampfseeli und die Schwarzi Flue zurück boten dann aber keine weiteren Probleme. Trotzdem war ich mit dieser verhältnismässig einfachen Überschreitung des Stampfhoren derart beansprucht, dass ich dem nahen Ärlengrätli, das für mich bergsteigerisch damals noch in weiter Ferne lag, nicht viel Aufmerksamkeit schenkte.

Erst 25 Jahre später, der Grossvater war wenige Monate nach unserer Stampfhorenbesteigung gestorben, fühlte ich mich nach einigen Lehr- und Wanderjahren und mehreren Besteigungen des Ritzlihorns über andere Routen bereit, das Ärlengrätli zu versuchen. In meinen Herbstferien 2004 überschritt ich zur Vorbereitung zuerst die beiden Gelmerhörner, bevor ich 4 Tage später bei immer noch stabilem Wetter frühmorgens zur Handegg fuhr. Mit einem relativ schweren Kletterrucksack und der Stirnlampe stieg ich über den mir inzwischen zum Glück vertrauten Weg zum Wyssenbachlimelti auf. Hier stand ich endlich am Beginn des lange ersehnten Neulands - ich war gespannt!

Bei erst langsam eintretender Morgendämmerung kletterte ich über den zunächst leichten Grat bis zum ersten schwierigen Aufschwung, den ich S auf einem Band umging. Den zweiten, ebenfalls schwierigen Aufschwung umging ich zunächst ebenfalls, um wie bei der ersten Umgehung auch hier mit Sichern nicht zu viel Zeit zu verlieren, indem ich auf Platten in die N-Flanke querte und dann durch einen gut gestuften Kamin und einem Riss
 folgend (20m, III) zurück zum Grat kletterte, den ich vor dem senkrechten Aufschwung (Schlüsselstelle) erreichte (Variante 672a im Clubführer?). Diesen überwand ich gesichert (IV+/A0), danach ging es wieder leichter und bei immer eindrücklicherem Tiefblick und sich zunehmend erweiterndem Horizont weiter zum Vereinigungspunkt P. 3193 und über den S-Grat zu den beiden Gipfeln des Ritzlihorns. Nach rund 8h 30min konnte ich hier erstmals etwas aufatmen, aber nicht zu lange und nicht zu tief, denn noch stand mir ein langer, wenn auch nicht allzu schwieriger und mir bereits bekannter Abstieg ins Urbachtal hinunter bevor. Aber jetzt genoss ich zuerst einmal die wunderschöne Aussicht, die sich sehen liess: im Westen tief unten der Mattenalpsee und der  - leider stark zurückgegangene - Gauligletscher, darüber dominierend am Horizont Finsteraarhorn, Lauteraar- und Schreckhorn sowie die Wetterhorngruppe, gegen Südosten über Gelmer-, Räterichsboden- und Grimselstausee der Galenstock, die Grimselberge und die Gipfel des Bedrettotals.

Fast schon routiniert, aber nichtsdestoweniger konzentriert stieg ich über den vertrauten, aber langen NW-Grat zur Mattenlimmi ab. Hier passierte mir ein kleines Missgeschick, indem mir infolge einer Unachtsamkeit - ich war wohl trotz allem Durchhaltewillen langsam etwas müde - meine Kamera aus der Hand glitt, und ein Stück weit die Abstiegsrunse hinunter kollerte. Sie wurde zum Glück bald von Felsblöcken gestoppt, war aber kaputt, und alle Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. So konnte ich den noch einmal fordernden Abstieg hinunter zur Mattealp und die prächtige Wanderung durch das herbstliche Urbachtal leider nicht mehr fotografisch dokumentieren. Auf der Urbachstrasse durfte ich dann ein kurzes Stück bis Pfengli mitfahren, bevor ich für die letzte Steilstufe hinunter nach Innertkirchen noch einmal die Pferde des Franziskus bemühen musste. Von dort nahm mich dann ein freundliches Ehepaar, das noch auf die Grimsel wollte, bis zur Handegg mit. Vielen Dank!

Zustieg von Handegg zum Wyssenbachlimelti

Von Handegg (1401m) auf dem weiss-rot markierten Bergweg nach Ärlen und nach NW durch das Rindertal weglos über Gras und Geröll bis unter die Schwarzi Flue. W vom Bach über steile Grasschrofen (Pfadspuren) hinauf und nach NE über abschüssige Platten (Kabel) auf ein Rasenband, welches zur Mulde W P. 2150 leitet. E vom Bach über Gras und Geröll über Undrem Stampfhoren hinauf und durch eine kurze Geröllrinne zum Wyssenbachlimelti, 990Hm, 2h 30min bis 3h, T5.

Ärlengrätli-S-Grat-Ritzlihorn
Vom Wyssenbachlimelti (2392m) auf dem nur wenig ansteigenden Grat, z.T. mit Umgehungen rechts, in leichter Kletterei (II-III) bis vor den 1. Aufschwung bei P. 2814: nun entweder direkt über die Kante (IV) oder in der S-Flanke auf einem leicht ansteigenden Band (Wegspuren) und über Platten und kurze Stufen oberhalb P. 2814 zurück auf den Grat (II-III). Weiter über den wieder weniger steilen Grat bis vor den grossen 2. Aufschwung, einen hohen rötlichen Turm (ca. 135m). Nach rechts hinauf zu einer kleinen Terrasse (IV+) und nach links auf die Kante zurück. Direkt über diese hinauf und nach rechts gegen die N-Kante des Turms (IV+), welcher man N-seitig ca. 8m bis zu einem Absatz folgt. Nach rechts durch eine Rinne zurück zum Hauptgrat und auf diesem bis zu einem senkrechten Aufschwung. Rechts der Kante 15m hinauf (IV+), Querung nach links an die Kante und über diese 6m hinauf zu Stand (mehrere Hk). Rechtshaltend auf einen Grasabsatz und über den sich zurücklegenden Grat zu einer Scharte, von der 10m nach rechts auf ein Band abgeseilt werden kann. Über die folgenden Graterhebungen in leichter Kletterei (II) zu P. 3193, dem Vereinigungspunkt mit dem S-Grat, 5-7h, SS-. Diesem entlang in anregender Kletterei (II-III) über Türme und Zacken, einige links umgehend, auf den Ritzlihorn S- (3278m) und nach einer Scharte zum N-Gipfel (3263m), 1h 30min, ZS. Insgesamt 885Hm, 6h 30min-8h 30min.

Abstieg über die Mattenlimmi ins Urbachtal
Vom Ritzlihorn N-Gipfel (3263m) auf dem langen und z.T. brüchigen NW-Grat, stellenweise in die SW-Flanke ausweichend (II), hinunter zur Mattenlimmi (2701m), 2h-2h 30min, WS+. Nach SW durch eine Schrofenrunse hinunter auf eine Grasterrasse, die nach SSW bis ca. 2220 hinunter gequert wird. Nach W durch eine breite Rinne hinunter in den unteren Chielauenengraben und weiter bis ca. 1980m, 1h 30min-2h, T5. Nun entweder über die Staumauer des Mattenalpsees oder die Brücke über das Urbachwasser zum Siderenhubel (1869m), und auf dem weiss-rot markierten Gaulihüttenweg über Schrätteren (1439m) und Rohrmatten (1043m) hinunter nach Mürvorsess (877m), 2h, T3. Auf der Urbachtalstrasse (ev. Autostop) bis zur Kurve 766 unterhalb Bim Chäppeli (815m) und auf dem gelb markierten Wanderweg hinab nach Innertkirchen zur KWO (635m), 1h, T1. Insgesamt 2645Hm, 6h 30min-7h 30min. Von hier entweder ins Dorf zur Bahn- oder Busstation oder per Autostop zurück nach Handegg.

Material: übliche Kletterausrüstung mit 50m Einfachseil, 7 Express, 3 Schlingen, 3 kleinen und mittleren Friends sowie Kk-Set.

Fahrplan: 3.50 Handegg, 6.05 Wyssenbachlimelti, 10.50 Ausstieg P. 3193, 12.20 Ritzlihorn, 14.30 Mattenlimmi, 17.40 Mürvorsess, 18.20 Innertkirchen KWO.

Tourengänger: lorenzo


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