Cantói Paradiso

Ich kann euch sagen, liebe Leute, es ist wunderschön, wenn man tot ist. Man hat keine Sorgen mehr, man muss keine Rechnungen mehr bezahlen, und vor allem hat man keine Gefühle mehr. Gefühle bringen nur immer Ärger. Aber wenn man tot ist, hat man keinen Ärger mehr. Der Tod ist das Paradies.

Glaubt jaa nicht, liebe Leute, dass man nicht mehr lebt, wenn man tot ist. Sobald man gestorben ist, fängt das Leben erst so richtig an. Man kann zum Beispiel über einen Felsen hinunterpurzeln und dann wieder aufstehen, ohne irgendwelche körperlichen Probleme, weil, ehrlich gesagt, wenn man tot ist, kann man ja nicht noch einmal zusätzlich sterben, oder? Der Tod ist die ungebrochene, absolute Freiheit. Vor allem für Wanderer und Kletterer. Wenn man tot ist, kann man die allerverrücktesten Touren unternehmen, man kann zum Beispiel von einem Tal ins andere fliegen, oder von einem Felsen zum anderen gumpen. 

Und natürlich kann man auch anderen Leuten begegnen, die ebenfalls tot sind. Das ist wunderbar. Man muss einander nichts mehr vormachen, denn tote Leute sind ja keine Personen mehr, die einander entfremdet sind. Es gibt keinen Wettbewerb mehr zwischen schön und hässlich und zwischen gesund und krank und zwischen reich und arm und zwischen gescheit und dumm. Tote Leute sind wunderbare Menschen, die zum Beispiel nicht mehr arbeiten müssen. Und wer nicht mehr arbeiten muss, ist immer gut drauf, und darum ist das Reich der Toten das Paradies.

Glaubt jaa nicht. liebe Leute, dass es im Reich der Toten langweilig ist. Bei uns Toten ist es nie langweilig. Es ist bei uns Toten so unlangweilig wie auf Hikr.org. Auch wir Toten haben unsere heftigen Diskussionen wie ihr auf Hikr.org. Der Unterschied ist nur, dass wir Toten uns einfach von einem Moment auf den anderen ausklinken können, indem wir einfach behaupten: "Was wollt ihr eigentlich von mir, ich bin tot, nicht gewusst?"


Wegbeschreibung für die Lebenden:

Vom Bahnhof Biasca wandert man ins Dorf hinein,
und dann kommt man an der Libreria Ecolibro vorbei,
das war während Jahren meine absolut bevorzugte Libreria im Tessin,
und ist es auch heute noch, nur bin ich im Moment nicht mehr so viel am Lesen,
weil ich tot bin.

Il signore Michele ist nach Cuba ausgewandert, er war vorher mit dem Velo
im Tibet unterwegs, die Libreria führt jetzt la bella e simpatica signorina Georgia.
In der Libreria Ecolibro kann man absolut alle Bücher haben, die man will,
von Bergbüchern bis zu iPhone-Ratgebern, in allen Sprachen, sogar auf Deutsch.
Ich empfehle allen Berggängern die Libreria Ecolibro von Biasca.

Dann wandert man an dieser unglaublich schönen Kirche vorbei, die ist nicht zu übersehen,
sie ist nämlich achteckig, und dann auf einem schönen Weg nach Santa Petronilla,
das ist eine Kapelle oberhalb der zwei sich kreuzenden Wasserfälle, und von dort
steigt man hinauf nach Cantói. Mehr kann ich dazu nicht sagen. 
Wer Cantói nicht findet, der findet überhaupt nichts.


Mein Bericht ist übrigens so eine Art Satire,
wir Wanderer sind ja immer mit dem Tod konfrontiert,
warum also nicht sich mit ihm auf irgendeine Art auseinandersetzen. Oder?