Von Sonogno nach Chironico (via Bassa del Barone)
Vorgeschichte
Seit Jahren fahren meine Frau und ich immer wieder für die Ferien ins Verzascatal. Meistens buchen wir in Brione eines der drei Rustici Maria, Miro oder Dani. Eigentlich hatten wir auch immer mal vor, es in Sonogno zu probieren, aber das hatte sich bisher nie ergeben. Es blieb bei leidenschaftlichen Planungen auf der Karte und im Internet, sehnsüchtigen Blicken zu den hohen Gipfeln oder von Zürich aus über die Alpen. Etliche Routen hatte ich auf diese Weise schon im Geiste organisiert - Bassa del Barone, Forcola di Redorta, Capanna Nimi, Poncione della Marcia, Pizzo di Vogorno, Monte Zucchero... Vielen dieser Gipfel ist zu eigen, dass es nur wenige Berichte über sie gibt und die Fotos sind oft nicht sehr aussagekräftig. Für den Bassa del Barone ist der letzte Bericht von 2014, überhaupt gibt es nur sieben davon auf Hikr und nur drei auf deutsch.
Dann kam Max und erzählte mir, dass "seine" Männergruppe genau eine dieser Wanderungen plante: Von Sonogno durchs Val Vegorness zur Barone-Hütte, dann auf den Pizzo Barone, über die Bassa del Barone hinüber ins Chironicotal und mit Zwischenstopp im Rifugio Sponda hinunter in die Leventina. Alleine hätte ich mich das nie getraut, zu spärlich sind die Bildbelege und Berichte, deutsch wie italienisch, zu einheitlich die Bewertung mit T4 und dem steilen, rutschigen Auf- bzw. Abstieg, den der Bassa bereit hält. Auch so hatte ich meine Bedenken, ich kannte die Gruppe nicht, nur ihren Leiter Hannes (flüchtig) und eben Max. Den Führer Beat kannte ich nicht. Frühere Erfahrungen hatten mich gelehrt, dass den üblichen Beteuerungen wie "eigentlich ganz harmlos" oder "da sind wir schon als Kinder immer hoch" oder auch "da war ich vor zehn Jahren schonmal" kein Gewicht beizumessen ist und senkrechte Felswände oder absturzgefährdete Pfade sich durchaus mit diesen Formulierungen vertragen (zumindest im Auge bzw. Ohr des Gefragten).
Ich konsultierte Max und seine Frau. Die beruhigten mich soweit, dass ich es wagte mitzugehen. Die richtige Entscheidung, alles bewegte sich absolut im erträglichen Bereich, selbst für einen Wanderparanoiker wie mich, der immer einen kantigen Felsen zum Festhalten braucht. Zwar sah das Wetter nicht sehr vielversprechend aus, seit Tagen war für Samstag Regen bzw. Gewitter vorhergesagt, aber Freitag und Sonntag sollten schön sein. Ich musste mich mit meinem Kontroll- und Planungstick zurücknehmen und drauf vertrauen, dass der Führer der Gruppe weiss, was er tut.
Tag 1: Sonogno - Capanna Barone
Wir treffen uns in Zürich am HB und fahren mit dem Zug nach Tenero. Die Gruppe ist sehr nett, wir kommen gut ins Gespräch, obwohl ich bisher fast niemanden kenne. Weiter geht's mit dem Bus bis Sonogno. Wochentags ist es hier sehr nett, die vielen Touristenstände tauchen nur am Wochenende auf. Wir geniessen eine kurze Pinkel- und Besichtigungspause, kaufen Geissenkäs und Wildschweinsalami beim Agriturismo (dumme Entscheidung, wenn man bedenkt, dass wir zwei Muslime dabei hatten; Hirsch oder Ziege wäre besser gewesen) und stiefeln schliesslich um zwölf Uhr mittags los ins Val Vegorness. Zwanzig Minuten später halten wir wieder an, suchen ein nettes Plätzchen im Flussbett und geniessen erstmal ein ausgiebiges z'Mittag in der Sonne...
Dann geht es weiter, durch Secada und Vald (beides sehr schöne Dörfchen mit einigen Rustici), immer auf der Fahrstrasse, die erst in Cabioi endet. Die Wolken sammeln sich hinten im Tal, wir aber haben noch recht viel Licht und Wärme. Oben auf einem Buckel können wir die Flagge der Capanna Cógnora sehen - auch ein schönes Ziel! Den Geocache an der Abzweigung zur Capanna verpassen Max und ich leider, das GPS braucht zu lange für einen Fix. Hinter Cabioi überqueren wir die junge Verzasca und der Wanderweg beginnt (T2). Immer gut ausgebaut, nie sehr ausgesetzt und nur an einer Stelle mit einer Bachquerung, die bei starkem Regen etwas Vorsicht erfordern dürfte, speziell die anschliessende Querung einer Gneisplatte, verläuft der Weg auf der orografisch rechten Seite des Flusses. Wir sehen schöne Wasserfälle, steile Felswände, Blumen und - herrrliches Tessin! - ganze Büsche voll mit reifen, wenn auch sehr kleinen Himbeeren und Blaubeeren. Beat "avanciert" vom Führer der Gruppe zum Lumpen- bzw. besser Beerensammler und geht ganz hinten. Hier braucht es seine Führungsqualitäten noch nicht, der Weg ist offensichtlich. Auch wir anderen kommen deshalb langsamer voran als geplant, aber wir haben genug Puffer eingeplant.
Schön schlängelt sich der Weg nach Corte di Fondo aufwärts, sehr abwechslungsreich, mit schönen Blicken ins Tal. Gekonnt wird das 1820m hohe Plateau bezwungen, das aus der Ferne senkrecht wirkt und nur einen schmalen Durchschlupf für die Verzasca frei lässt. Bei Piodoo erwartet uns eine Überraschung: Statt den üblichen Nera Verzasca-Ziegen, Schafen oder Kühen treffen wir eine Herde niedlicher rosa Hausschweine an, die - man glaubt es kaum - dem Boden noch mehr zusetzen als die Ziegen. Ein späterer Blick auf die Karte lässt uns vermuten, dass die Schweinehaltung hier oben Tradition hat: Auf der gegenüberliegenden Hangseite gibt es die Alpe di Porchier, die Alpe della Porchieirina und den Lago di Porchiér (oder dei Porchieirsc, je nach Version). Für unsere Muslime in der Gruppe war das vermutlich etwas mühsam, sie schlugen sich aber tapfer und liessen sich nichts anmerken.
Endlich erreichen wir wenig später die unbewartete Barone-Hütte. Die 1200m Aufstieg mit Unmengen Essen im Gepäck waren doch recht anstrengend und wir sind dankbar für die Möglichkeit einer heissen Dusche (für den Spottpreis von 5 CHF!). Während die anderen die Gelegenheit nutzen, mache ich mich kurz auf die Suche nach dem Hütten-Geocache... Da die Hütte auf sehr schonende Weise erweitert wurde (das alte Rifugio bildet jetzt einfach den rechten Teil, dann kommen zwei Toiletten und einige Waschgelegenheiten und anschliessend die moderne, neue Hütte), können wir ganz rustikal im kleinen Rifugio übernachten. Auf drei Betten-Etagen bietet es bei gutem Willen elf bis vierzehn Schlafplätze, wir beanspruchen deren acht. Im Aufenthaltsraum des neuen Teils treffe ich noch einen früheren Arbeitskollegen, der mit zwei Freunden die Via Alta Verzasca absolviert hat - Respekt!
Schon im fensterlosen Rifugio fällt uns auf, dass die Lichtschalter eine rein dekorative Funktion haben. Auch in der neuen Hütte gibt es kein Licht. Vermutlich wäre irgendwo ein Hauptschalter oder eine Zeitschaltuhr, aber wir wissen nicht wo und auch keine der anderen beiden Gruppen. Vielversprechende Türen sind verschlossen. Natel-Empfang gibt es keinen. Also nehmen wir mit Stirnlampen und dem Kerzenvorrat Vorlieb und lernen Jass bei trübem Stearinlicht. Spass macht's auf jeden Fall und Hüttenfeeling ist garantiert! Allzulange halten wir auch nicht durch, morgen wartet eine ordentliche Strecke auf uns. Schnarchen aus wechselnden Quellen vermindert die erholsame Wirkung der Nacht zwar etwas, aber das ist ja auf Hütten normal...
Tag 2: Capanna Barone - Lago Barone - Bassa del Barone - Rifugio Sponda
Schon um halb sieben stehen wir auf. Die Idee wäre gewesen, nach blauem Himmel Ausschau zu halten und den Aufstieg zum Pizzo Barone zu wagen, wenn welcher zu sehen ist. Tatsächlich sehen wir welchen, aber die allgemeine Wettersituation wirkt nicht anders als vorhergesagt. Nach dem Frühstück brechen wir auf, aber die Besteigung ist da schon abgesagt. Wie sich später herausstellt, war das die richtige Entscheidung von Beat.
Trotzdem können wir schöne Lichtspiele auf der anderen Talseite beobachten. Die Landschaft ist unglaublich schön und ebenso wild, eine Eigenschaft der Tessiner Täler, die mich immer wieder begeistert und hierher zurückzieht. Wir steigen mässig steil, aber gemütlich auf bis zum Lago Barone, Max und ich suchen einen weiteren Geocache und wir bewundern den schönen See in seinem Becken. Gerade am Weg hat die göttliche Vorsehung eine Aussichtskanzel aus Fels plaziert, auf der wir auch unser Gruppenbild schiessen und wo Hannes eine kurze Geschichte vorliest.
Dann steigen wir zum Bassa del Barone auf. Zunächst über "Kinderkletter"-Felsen, gross, kantig, fest sitzend und griffig, dann vom See weg im Zickzack den steilen, undeutlichen Rücken hinauf. Der Weg ist gut sichtbar, die Füsse rutschen nicht, die Steine auch nicht. Nur bei der Querung eines früheren Hangrutsches, wo sich Schutt und Erde (bzw. feingemahlener Gneis und Glimmer) mischen, muss manchmal nachgetreten oder mit beiden Händen zugegriffen werden. Stöcke sind in diesem Teil eher hinderlich, der restliche Aufstieg lässt sich besser mit als ohne bewältigen. Nie wird es wirklich ausgesetzt, aber schöne Tiefblicke zum See gibt es dauernd. Die letzte Rampe zum Bassa ist eher grasig, wieder gut griffig und dann stehen wir auf dem Pass - fast zu einfach, wie uns scheint. Wir sind begeistert, schiessen Fotos in beide Richtungen, haben plötzlich wieder Natelempfang und die Geistesgegenwärtigen tragen sich ins Passbüchlein ein. Ich vergesse es wieder mal vor Fotografieren und SMS schreiben (meine Ex-Chefin hat heute Geburtstag). Wir bewundern den senkrecht scheinenden Absturz auf der anderen Seite - und bald dämmert es uns: Da müssen wir runter!
Weg? Welcher Weg? Vom Bassa aus sehe ich drei kleine Tritte, erkennbar am feinen Schutt. Dann scheint die Wand ins Bodenlose abzubrechen. Vorlehnen und schauen will ich nicht. Der Erste geht los, biegt nach den drei Tritten nach rechts ab. Ich folge als einer der letzten - aber siehe da, ist man mit ein bisschen Festhalten (für die Psychologie) um den ersten Block herum, zeigt sich ein recht gut ausgebauter T4-Weg, der einen Vergleich mit dem Südaufstieg der Rigi Hochflue durchaus zulässt. Ohne Seile, natürlich. Aber die Felsen sind wieder fest, griffig, der Weg gut erkennbar. Rechts und links aufstemmen und dann langsam zum nächsten Tritt ablassen funktioniert an den wenigen heikleren Stellen wunderbar. Vorsicht ist geboten, natürlich, es ist T4, aber in den wenigsten Fällen setzt sich im steilsten Bereich des Abstiegs (bis ca. 2500m) das Gestein in Bewegung.
Heikler ist der nächste Abschnitt bis etwa 2400m, der offenbar eher für den Aufstieg konzipiert ist. Teils besteht der Weg aus einer längeren "Rutschbahn" aus feinem Schutt und Erde oder Abrieb entlang der Falllinie, der Untergrund hält nicht und ein Ausweichen in die benachbarten Steine ist angesagt. Auch hier muss aber von Schritt zu Schritt geprüft werden, ob der Untergrund an Ort und Stelle bleibt. Losgetretene Steine rollen hier sehr viel weiter als im steileren Teil, weil die grossen Brocken fehlen, die sie bremsen würden. "Achtung Stein" rufen wir öfters, trotz vorsichtigen Absteigens lösen sich manchmal auch koffergrosse Brocken ohne Vorwarnung. Einmal wird aus dem Warnruf ein "Achtung Fernglas", als sich mein Spektiv vom Rucksack löst und erst 15m tiefer liegen bleibt. Es übersteht den Sturz zum Glück unbeschadet - im Gegensatz zu unserem Gruppenleiter, der in einem unachtsamen Augenblick ausrutscht und sich ein paar Blessuren an beiden Beinen und einer Hand zuzieht. - Klingt alles recht gefährlich, aber wir haben ein paar sehr unerfahrene Leute dabei und trotzdem kommt keiner sonst zu Schaden, sie meistern die Schutthalde prima. Ein Mitgänger ist dankbar für meine Landi-Thermohandschuhe, die ich ihm anbiete. Ich bin froh, dass ich sie nicht selber brauche und immer irgendwo einen Griff für mein Sicherheitsgefühl finde.
In einer kleinen Senke auf etwa 2400m pausieren wir und geniessen die Aussicht auf den weiteren, sehr viel flacheren Abstieg (T4-). Er erweist sich als ungefährlich, aber anstrengender, weil kein Weg mehr erkennbar ist. Blau-weisse Markierungen zeigen alle 30-50m den Weg auf, aber dazwischen sind die (teils schön gemachten) Erleichterungen der Wegbauer wie kleine Treppchen, Brücken aus flachen Platten oder aufgefüllt Spalten nur mit etwas Aufmerksamkeit zu erkennen, auf den ersten Blick wirkt alles gleich. Ich hüpfe trotzdem mit viel Freude über die grossen Brocken und teste am mal rauhen, mal glattgeschliffenen Gneis die Haltegrenzen meiner Schuhe auf schrägen Flächen. Erstaunlich, was Vibram da immer zustande bringt!
Der Weg über die Alpe Campioni bis runter auf 2020m (T2-T3) ist dann reinstes Tessin: Tümpel, Bäche, Felsstufen, Gras, bunte Blumen, alles vor der atemberaubenden Kulisse des hinteren Talabschlusses. Hier könnte man links abzweigen und den Pizzo Barone von Norden über den Grat erklimmen - laut Brenna der Normalweg vom Rifugio Sponda aus (R. 1262 im Clubführer Tessiner Alpen 2). Ich hätte mir da etwas vorgestellt, was öfter begangen wird oder auf Hikr mehrfach beschrieben wurde... Ich finde gerade mal einen Winter- und einen Sommerbericht.
Dann plötzlich öffnet sich dramatisch und überraschend die Schlucht des Ticinetto: Steil schlängelt sich der Weg hinunter zum Fluss und drüber hinweg (T3+). Wieder ist an einer Stelle kurz die Zwei-Hand-Stemmtechnik gefragt, wenn man nicht etwas ausgesetzt aussen herum geht. Insgesamt ist der Abstieg aber wieder unproblematisch, er dürfte nur bei Regen ziemlich heikel werden. Einige Felsen werden bei Kontakt mit unseren feuchten Sohlen überraschend glatt wie Schmierseife, ein paar kleine Ausrutscher gibt es.
Und dann - Stichwort "Regen" - setzt gerade, als wir an der markanten Fichte oder Lärche auf dem grossen Felsblock vorbeigehen, der Guss von oben ein. Er kündigt sich harmlos als Nieselregen an, aber schon bevor ich mein Cape umständlich auseinandergefaltet habe, wird er unangenehm stark. Wenige Minuten später hat sich der Regen auf eine konstant hohe Niederschlagsmenge eingependelt, die uns bis zum Rifugio Sponda begleitet. An Fotos ist fast nicht mehr zu denken, will ich die Kamera nicht dem Ertrinkungstod aussetzen. Auch bin ich recht gefordert, auf den schrägen Platten und in den Flussquerungen die rauhen, Halt gebenden Stellen mit dem Schuh zu ertasten (T3+). Bald jedoch habe ich den Dreh buchstäblich heraus, ein kurzes Drehen des Schuhs beim Auftreten zeigt zuverlässig die rutschigen Stellen auf und die hervorstehenden Quarzadern sind praktische Fussrasten. Das ist auch gut so, der Weg besteht hier plötzlich zu gefühlten 80% aus solchen Platten. Ich bin trotzdem froh, dass der Regen erst nach der Schlucht eingesetzt hat (und insbesondere nach dem Abstieg vom Bassa), nur fünf Minuten früher hätte er uns die Freude am Wandern eklatant vermiest.
Recht früh schon sehen wir die Capanna, aber es sind noch etliche Rücken zu umrunden und Bäche mit zunehmend mehr Wasser zu queren, bevor wir uns glücklich im Eingangsbereich von unseren nassen Kleidern befreien und uns aufwärmen können. Ich bin überrascht, mein Cape hat absolut dicht gehalten, mir ist nicht mal kalt, der Rucksack ist trocken und selbst das Brot im unteren Fach hat nichts abbekommen. Andere in der Gruppe sind weniger glücklich, ihnen ist das Wasser in die Stiefel gelaufen. Bis zum nächsten Morgen haben wir einen Stapel mit Bergschuhen neben dem Holzfeuerherd stehen, gelegentlich zeigt ein leichter Plastikgeruch an, dass wieder einer zu nah dran steht. Auch das Zeitungspapier, zum Trocknen in die Schuhe gesteckt, liegt dazwischen zum Trocknen auf der Herdplatte.
Durch die abgeblasene Barone-Besteigung haben wir jetzt viel zuviel Essen und einen Nachmittag ohne Programm. Der z'Mittag auf dem Weg ist buchstäblich ins Wasser gefallen. Wir richten uns ein nettes Mahl auf dem Achtertisch an (wie speziell für uns gemacht!) und geniessen den Blick auf die Wassermassen, die vom Himmel stürzen. Auch den Hüttenwart lernen wir kennen, der sich entschuldigt: Sie hätten fürs Abendessen kein Gemüse auf der Hütte, es hätte ein Problem mit dem eigentlichen Hüttenwart gegeben, er und sein Kollege, der später kam, seien nur die Aushilfen. Wir versuchen ihn zu beruhigen: Gemüse haben wir noch mehr als genug dabei, Peperoni, Gurken, Möhren, Tomaten, auch an Brot, Käse und Coppa mangelt es uns nicht. Nuss-Schoki und Shortbread runden das Festmahl ab.
Den Rest des Nachmittags verbringen wir klassisch nach Hüttenmanier: Mittagsschlaf, Erkunden der Hüttenumgebung, dem Regen zuschauen, Jassen, Jenga, Würfelspiele, auch die Hüttengitarre kommt mehrfach zum Einsatz. Wir geniessen die erzwungene Ruhe und leichte Langeweile. Ein nettes Schweizer Pärchen, das den Übergang via Capanna Cógnora und Passo di Piatto gemacht hat, gesellt sich dazu und ein Berliner mit Schweizer Vergangenheit, der am Sonntag über den Bassa will. Die Hütte ist gross genug, dass man Ruhe findet, wenn man sie sucht.
Dann naht das Abendessen. Diego hat sich dem Hüttenwart beigesellt, mit der Selbstbeschreibung "Io sono Putzfrau". Die beiden haben immer noch ein schlechtes Gewissen: Es gibt ein echtes Drei-Gänge-Menu mit Piatto ticinese als Vorspeise, Risotto mit Luganerwürstchen satt (und extra Käse für die Nicht-Schwein-Esser), Schokopudding mit Amarettini... Eine Flasche Wein bestellen wir, die zweite, deutlich bessere (aus der Kellerei, in der beide Hüttenwarte Mitglieder sind) wird uns geschenkt. Dann fährt Diego seinen Grappa auf, der ein sehr feines Birnenaroma hat (er will die Bestandteile aber nicht verraten), und anschliessend noch einen extrem feinen Nocino. Wir kennen vor lauter Begeisterung und Dankbarkeit keine Worte mehr. Reden ist auch schwierig, wir sind voll bis Oberkante Unterlippe, getreu dem Prinzip des Amerikafahrers Jürnjakob Swehn: "Denn der Mensch soll nicht mehr essen, als mit aller Gewalt hineingeht." Der restliche Abend verläuft sehr nett und gesellig. Draussen ändert sich nicht viel, es regnet und regnet. Das gehört zum Tessin wie die steilen Berge. Um halb elf gehen wir ins Bett. Beat und ein weiterer aus unserer Gruppe wollen am Morgen noch zum Passo di Ghiacciaione laufen, damit wenigstens ein bisschen Gipfelfeeling aufkommt.
Tag 3: Rifugio Sponda - Doro - Cala - Chironico
Heiss ist es in der Nacht, obwohl der Regen aufgehört hat, der Himmel aufklart und wir das Fenster offen haben. Einer kann gar nicht schlafen, die anderen eher unruhig, obwohl diesmal weniger geschnarcht wird. Um sechs Uhr ist die Hälfte unserer Gruppe schon wach. Ich gehe in den grossen Aufenthaltsraum und warte dort mit Max und zwei anderen auf den Sonnenaufgang um 6:30 Uhr. Das dauert länger als erwartet. Zwar ist die Wolkendecke durchbrochen, aber am Horizont sind zuviele Wolken, so dass wir die Sonne erst später und zuerst ihren Widerschein auf der gegenüberliegenden Talseite sehen. Die Pferde und Esel, die um die Hütte streifen - auch das für uns überraschend -, vertreiben uns die Zeit. Trotzdem ist es ein wunderbares Erlebnis! Als die Sonne endlich durchkommt, springen wir von Fenster zu Fenster, suchen nach dem besten Platz für Fotos oder die Sicht und geniessen das goldene Licht.
Das Frühstück ist wieder ausgesprochen opulent und lecker. Diego zeigt uns Bilder von der alten Hütte und dem Bau der neuen. Gut gesättigt packen wir dann unsere Rucksäcke, die letzten Trocknungsversuche für Schuhe, Socken und Bekleidung werden unternommen, unsere Schulden beglichen (wir bekommen 10 CHF pro Person erlassen, weil es kein Gemüse gab), wir werden grosszügig mit Chicco d'Oro-Werbemützen, -sonnenhüten und -halstüchern beschenkt und müssen dann schweren Herzens dieses gastliche Haus verlassen, als sich langsam der hartnäckige Wolkendeckel über dem Tal auflöst. Wir kommen sehr gerne wieder!
Auf dem Weg ins Tal verlassen wir bald den offiziellen Weg (T2) und folgen dem "Sentiero non ufficiale" (T3) nach Doro. Für einen inoffiziellen Weg ist er sehr schön rot-weiss markiert und mit etlichen Stahlseilen gesichert, wo ein Absturz drohen könnte. Rechts geht es auch ordentlich ins Loch hinunter. Wir kommen am Abzweiger nach Cala vorbei, gehen aber geradeaus und lassen nach einem kurzen, steilen Anstieg die Felswandquerung hinter uns. Jetzt wandern wir in "Klein Kanada", in einem lichten Wäldchen mit Pilzen, dafür aber keinen Beeren mehr. Wenig später sind wir in Doro.
In diesem noch recht urwüchsigen Dorf mit seiner ungewohnten Architektur (unten Stein, oben Holz, wie bei den Walsern) wohnen ein paar Aussteiger, die selber Käse machen. Also lassen wir uns wieder zu Lustkäufen verleiten. Dann besichtigen wir die kleine, alte Kirche (der aussenliegende Glockenzug ist ein beliebtes Spielzeug für ein paar Kinder), machen Mittagsrast und Hannes liest wieder eine Geschichte vor. Auch das Pärchen aus der Hütte, das etwas früher aufgebrochen war, treffen wir wieder. Sie steigen über Ces ab.
Für uns geht's zurück nach Cala, diesmal über steile Wiesen auf schmalem, mit trockenem Gras bedecktem Weg (T3). Ich habe meine Erfahrungen mit solchen Wegen gemacht und fühle mich wieder zurückversetzt, aber hier ist man eigentlich sicher unterwegs. Bei Nässe oder langem Gras wäre mir hier nicht mehr wohl. Wir erreichen Cala, sind enttäuscht ob der vielen "artfremden" Ferienhäuser, die wie aus dem Hubschrauber abgeworfen wirken, und nehmen den langen Zickzack-Abstieg zur Fahrstrasse (T2) unter die Füsse. Eine halbe Stunde später stehen wir in Chironico, besichtigen auch hier noch die uralte romanische Kirche mit den zwei speziellen Apsiden und - treffen wieder auf das Pärchen aus der Hütte! Sie vergisst leider beim Einsteigen in den Bus ihre Stöcke, so müssen die beiden bei der nächsten Haltestelle aussteigen und zurücklaufen. Der nächste Bus geht drei Stunden später... bitter. Wir dagegen geniessen es zu sitzen und fahren über Lavorgo, Faido und Arth-Goldau zurück nach Zürich.

Comments