Chalbersäntis NW-Gipfel (2455 m) - gescheiterter Versuch einer Direktbesteigung


Publiziert von Fico , 22. Oktober 2012 um 12:31.

Region: Welt » Schweiz » St.Gallen
Tour Datum: 8 September 2012
Wandern Schwierigkeit: T4+ - Alpinwandern
Klettern Schwierigkeit: I (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-SG   Alpstein   CH-AI   CH-AR 
Strecke:Gamplüt-Thurwis (P. 1260)-Langenbüel-Wis (P.1519)-Aelpli-Chlingen-Thurwis-Laui-Unterwasser (1. Versuch) / Gamplüt-Schafboden-Chalbersäntis-Säntisgipfel (2. Versuch)
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Wildhaus, Post, Seilbahn Gamplüt
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Unterwasser (1. Versuch) / Säntisbahn Bergstation, cff logo Schwägalp (2. Versuch)
Kartennummer:1115 (Säntis)

Soviel vorweg, das Gipfelbuch ist oben angekommen. Auch wenn es dazu zwei Anläufe gebraucht hat. Doch darüber später mehr. Wie angekündigt habe ich ein Gipfelbuch für den NW-Gipfel des Chalbersäntis (2455 m) geschaffen und in einer Felsspalte gleich unter dem Gipfelkreuz deponiert.

Wie kann man bloss eine derartige Leidenschaft entfesseln für einen Gipfel, den der 'Clubführer Säntis-Churfirsten' als "unbedeutende, breite Kuppe im Lisengrat" beschreibt? Der Landeskarte ist er nicht einmal einen offiziellen Punkt wert, einzig als graue Schraffur ist er dort knapp zu erkennen. Wäre da nicht noch das uralte, windschiefe und rostige Gipfelkreuz, auch ich hätte ihn wahrscheinlich kaum je beachtet. Vermutlich ist es genau diese Schlichtheit, diese Unscheinbarkeit, die seinen Charme ausmacht. Ebenso seine Naturbelassenheit: kein Wegweiser, keine Markierung führt hinauf, kein Drahtseil und keine Eisentritte erleichtern den Zugang - man muss kraxeln, wenn auch nur ganz kurz, ein paar Meter. Keine 300 Meter Luftlinie vom zubetonierten Hauptgipfel entfernt, ist er ein eigentlicher Vorgipfel des Säntis und ausserdem der zweithöchste Punkt im Alpstein (der Altmann bringt es auf 2435 m, der Girenspitz auf 2448 m, der kaum je besuchte Säntis Westgipfel auf 2453 m). So hat es seinen besonderen Reiz, wenn man ein paar Meter über dem stark frequentierten Verbindungsweg Säntis-Lisengrat in aller Ruhe das emsige Treiben auf dem Hauptgipfel beobachten kann. Dreht man den Rücken, wähnt man sich auf einem einsamen Berggipfel und geniesst die Fernsicht.

Das Gipfelbuch hatte ich mir beim letzten Besuch, im Anschluss an die Chammhaldenroute, in den Kopf gesetzt. Die Idee einer Direktbesteigung kam mir, als ich beim Betrachten dieses Bildes glaubte, ich hätte unten rechts eine Wegspur zwischen den beiden Geröllfeldern entdeckt, die zum Einstieg in die Felsen führt. Da ich nirgendwo einen Bericht darüber finden konnte, nahm ich an, es müsste sich um eine bisher nicht dokumentierte Route handeln, die aber - wie die Wegspur zeigte - offenbar doch ab und zu begangen wird. Im Nachhinein finde ich mein Vorhaben unglaublich naiv: Die vermeintliche Wegspur ist in Wirklichkeit ebenfalls eine Geröllspur und Wegspuren in dieser Gegend gibt es weit und breit keine. Doch ich war von meiner Idee derart  begeistert, dass ich den Versuch unbedingt wagen wollte. Obwohl ich bezüglich Steilheit des Geländes gewisse Zweifel hatte, meinte ich, auch als Alpinwanderer käme ich schon irgendwo durch, und schätzte meine Chancen auf wenigstens 50 Prozent.


Um meine Kräfte zu schonen, nahm ich morgens die erste Seilbahn von Wildhaus nach Gamplüt und wanderte dann hinunter zum P. 1260, wo der Weg von Thurwis herkommt. Diesem folgte ich bis zu den Hütten von Wis auf 1519 m Höhe. Dort verliess ich den Bergweg und stieg weglos gegen den Toggenburger Hundstein hinauf. An dieser Stelle nahm das Abenteuer seinen Lauf. Das Gehen im weglosem Gelände ist zwar mühsam, vermittelt aber auch ein Gefühl grenzenloser Freiheit. Man sucht sich seinen eigenen Weg, ist völlig frei, wo man sich bewegt - bis man aufgrund der Beschaffenheit des Geländes an seine Grenzen stösst. Der Reiz an der Sache besteht darin, auf diese Weise die eigenen Grenzen stets ein Stück weiter hinauszuschieben.

So kam ich langsam, aber lustvoll aufwärts. Auf einem Felsblock machte ich Mittagsrast und genoss in vollkommener Einsamkeit die Ruhe und Stille dieser grandiosen Landschaft zwischen dem Toggenburger Hundstein und dem Säntismassiv. Für den Weiterweg benutzte ich eine trockene, tief ins Gestein eingefressene Bachrinne, die zunehmend steiler wurde. Die Bachrinne wurde zur Kletterrinne, eine Art Canyoning ohne Wasser. Auf einmal bemerkte ich, dass ich mich ein Stück weiter östlich von dem Ort befand, wo ich den Einstieg vermutete. Daher querte ich nun über Geröll und Gesteinsblöcke zu den Felsen und suchte nach der richtigen Stelle. Hätte ich erst einmal den untersten und wuchtigsten Felsriegel überwunden, wäre der Rest kein Problem mehr, dachte ich. Die ersten Felsen, die ich besichtigte, waren leicht überhängend und daher unpassierbar. Beim nächsten Einschnitt sah es besser aus, hier schien es möglich zu sein. Die ersten Meter bis zu einer Felsplatte kletterte ich hinauf und - um mir gewissermassen den Rückzug zu sichern - auch gleich hinab. Dann erneut empor auf die leicht abschüssige Platte, auf der ich mich vorsichtig vorwagte. Nach kurzer Zeit gelangte ich zu einem ziemlich glatten Wändchen, das mir unmissverständlich vor Augen führte, dass hier Schluss für mich war. Weitere Versuche in dem luftigen Gelände, ohne jede Sicherung, hielt ich für zu riskant. Mein Bauchgefühl riet mir ebenfalls zum Rückzug. Behutsam kletterte ich hinunter und war heilfroh, als ich wieder festen Boden unter den Füssen hatte.

Keine 500 Meter Luftlinie war ich von meinem Ziel entfernt, als ich aufgeben musste. Dieses Ziel befand sich allerdings ziemlich genau 500 Meter weiter oben, sozusagen in der direkten Falllinie. Wieder einmal war ich bis an meine Grenzen gegangen, mit einem Fuss vielleicht sogar darüber hinaus. Darum empfand ich mein Scheitern nicht als Niederlage, sondern erfreute mich an der einmaligen Schönheit der Natur in diesem imposanten Talkessel zwischen Gir und Südseite des Säntis, mit seinen mächtigen Felswänden auf beiden Seiten. Ohne meine verrückte Idee wäre ich gar nie in diese Gegend gekommen. Mein Plan B bestand nun darin, um den Gir herum den Bergweg nach Tierwis zu erreichen, und zwar möglichst ohne Höhenverlust. So könnte ich mein Gipfelbuch doch noch auf dem NW-Gipfel des Chalbersäntis deponieren.

Eine Zeitlang schien ich damit erfolgreich zu sein, bis ich dann wieder an eine abschüssige Stelle kam, die mich zur Umkehr zwang. Das Gehen in der zerklüfteten Karstlandschaft war ausserordentlich zeit- und kraftraubend. Aus den Felsspalten spriesste kniehoch dichtes Grün, vornehmlich Disteln und Brennnesseln, die sich nicht nur abweisend und feindselig anfühlten, sondern obendrein jede Sicht auf den Boden verhinderten. Ich sah nicht, wo ich den Fuss aufsetzte, und kam nur langsam tastend voran. Es war, als wollte sich die Natur auf diese Weise vor unerwünschten Eindringlingen in ihre letzten Rückzugsgebiete schützen.

Als ich eine kurze Rast einlegte, war es bereits 15 Uhr. Damit war es - abgesehen von der Müdigkeit, die sich langsam, aber sicher bemerkbar machte - auch für den Plan B zu spät. Das Vernünftigste war nun, das Abenteuer zu beenden und den wunderschönen Tag ausklingen zu lassen, mit einem gemütlichen Abstieg zur Alp Chlingen, und dann auf dem Bergweg nach Unterwasser zu wandern. Mit dem Gipfelbuch noch immer im Rucksack kam ich gegen Abend dort an und nahm mir vor, es bei der nächsten Gelegenheit an seinen Bestimmungsort zu bringen. Dann allerdings ganz unspektakulär auf dem normalen Bergweg.

Diese Gelegenheit bot sich am Samstag, 20. Oktober 2012. Der Föhn hatte den ersten Schnee in wenigen Tagen wieder weggeblasen. Die Geschichte dieser zweiten Tour ist schnell erzählt. Wieder um die gleiche Zeit startete ich bei der Bergstation der Seilbahn Gamplüt und wanderte über Gersellen und Langenbüel zum Schafboden, wo bald einmal der Bergweg zum Chalbersäntis links abzweigt und steil, aber gut ausgebaut in die Höhe leitet. Als ich um die Mittagszeit rastete, war ich bereits beim P. 2133, während ich mich beim ersten Versuch um die gleiche Zeit noch 400 Höhenmeter weiter unten befunden hatte. Der vermeintliche "Umweg" über den Schafboden entpuppte sich als beträchtlichen Zeitgewinn und machte einmal mehr deutlich, wie zeitraubend der Aufstieg im weglosen Gelände im Vergleich zum Bergweg ist.

Erwähnenswert ist noch, dass mir an diesem sonnigen und ausserordentlich milden Oktobersamstag in den vier Stunden Aufstieg lediglich vier Personen begegnet sind. Bis ich dann auf die "Wanderautobahn" Säntis-Lisengrat kam. Dort hörte ich auf zu zählen. Immerhin kann man auf dem breiten Rücken des Chalbersäntis dem Menschenstrom gut ausweichen, da man nicht zwingend den Markierungen zu folgen braucht. Und für das letzte Stück auf den Gipfel zog ich die luftigen, aber trockenen Gratfelsen dem schneebedeckten, matschigen Weg vor. Bis auf eine Stelle, wo man ganz kurz hinabklettern muss, bietet der spitze Grat keinerlei Schwierigkeiten. 

Um den Abstieg brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Der Chalbersäntis NW-Gipfel liegt sozusagen vor den Toren der Zivilisation. Wer nicht zu Fuss ins Tal hinunter gehen mag, steht in einer Viertelstunde in der Eingangshalle der Säntisbahn. Dort erwartete mich am späteren Nachmittag zuerst eine überfüllte Säntisbahn, dann ein überfülltes Postauto und anschliessend eine überfüllte Appenzellerbahn. Dem Pendlerverkehr an den Werktagen entspricht der Ausflugsverkehr am Wochenende.

Nun ist das Gipfelbuch endlich in der Felsspalte unter dem schlichten Gipfelkreuz angekommen. Ob es je benützt wird, weiss ich nicht. Wer mag sich schon in ein Gipfelbuch eines derart unbedeutenden Vorgipfels eintragen? Vielleicht jemand, dem doch noch ein Direktaufstieg durch den abweisenden Felsriegel der Südflanke gelingt? Wer weiss, ob ich nicht bloss am falschen Ort gesucht habe oder ganz einfach zu wenig bergtüchtig bin. Das Rätsel bleibt ungelöst, solange nicht jemand, der die Schwierigkeiten zuverlässiger beurteilen kann, den Direktaufstieg geschafft und darüber berichtet hat.


P.S. Vielleicht fragt sich der eine oder die andere, woher ich die genaue Höhe kenne, wenn doch der NW-Gipfel des Chalbersäntis gar nicht auf der Karte verzeichnet ist. Moderne Technik macht es möglich. Im Anschluss an die Chammhaldenroute kalibrierte ich auf dem Säntisgipfel das GPS, unmittelbar bevor ich zum rostigen Gipfelkreuz hinüberging. Als Höhenprofil sieht das dann so aus.

Tourengänger: Fico


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