Wen sticht denn da der Hafer?


Publiziert von rojosuiza , 12. November 2016 um 16:48.

Region: Welt » Schweiz » Uri
Tour Datum:30 Oktober 2016
Wandern Schwierigkeit: T5 - anspruchsvolles Alpinwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-GR   CH-UR 
Zeitbedarf: 2 Tage
Aufstieg: 800 m
Abstieg: 1000 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Oberalppass, MGB
Zufahrt zum Ankunftspunkt:Nätschen, MGB
Unterkunftmöglichkeiten:wildes Biwak

Was war denn nur geplant? Vom Oberalppass zum Toma-See, zur Badus-Hütte, entlang dem Fil Tuma zum Pazolstock, und dann gemütlich hinunter nach Schöni, und schliesslich nach Nätschen: eine heitere, kleine Wanderung im hellen Herbst-Sonnenlicht.

 

Kam es so heraus? - Es kam anders heraus. Auf dem Oberalp-Pass bietet sich dem Wanderer ein Weg an, der gleich ziemlich genau nach Süden den Berg hinaufführt. Wer könnte dem ausweichen? Es zieht einen ja förmlich hinauf. Der Kopflose merkt nach geringer Zeit, dass wohl das Gelände den Marsch vorgegeben hat, und dass man jetzt wohl nur noch mit dem Weg mitgehen kann. So kommt man auf 2577 zu einem Durchgang, von dem aus es abwärts gehen könnte, nach Nätschen... und aus wär' die Wanderung. Das lieber nicht! Also schwingt man sich hinauf, auf den Pazolastock. Etwas gefrorener Schnee liegt hier oben in den Wegrinnen und etwas Aufpassen schadet nicht.

 

Ab hier hätte rojosuiza geruhsam hinabgehen können zum Toma-See, und die Wanderung fast wie geplant vollenden, nur in umgekehrter Richtung. Aber der Tag ist noch lang, das Wetter zu schön, und etwas Spannung darf durchaus auch sein, nicht wahr? Da drüben ist auch noch ein Berg, der Rossbodenstock wie sich herausstellt, und der winkt. Gleich zu Anfang etwas Kletterei, beide Hände sind nötig, und man hüte sich hier vor dem Eis. Die Passage ist glücklich überwunden und jetzt geht's gemütlich bis zur Spitze. Nein, Spitze ist es nicht, eher ein leicht schräges Gipfelplateau mit Ausbuchtungen, vom denen man immer neue Ausblicke ins Tal hat. Es ist wie in einer Gemäldegalerie, man schreitet gravitätisch mit Wandelstock einher, begibt sich dann und wann näher zu einem Bild, um es genauer zu beschauen. Das mächtige Gipfelkreuz zeigt das Ziel an. Hier oben ist alles verschneit, aber schon wenige Dutzende Meter unterhalb ist der Berg schneefrei.

 

rojosuiza steigt beschwingt ab; im Abstieg ist er immer gut. Vor der Älpetlilücke muss er sich entscheiden: hinab über ein leichtes Gelände zum Toma-See, wo irgendwann ein Weg folgt... oder doch hinab ins glanzvolle Unteralptal, weglos; machbar, soweit das Auge reicht, aber mit unwägbaren Schwierigkeiten, soweit das Auge nicht reicht... Es ertönt helles Kinderrufen, von fern, vom Toma-See. Und während das Bild der spielenden Kinder und das letzte Licht des Tages in diesem Winkle rojosuiza zwar entzücken, fragt er sich doch: ist das denn nun wirklich die spannendere Route?

 

Da sticht den Helden der Hafer: Schon stürzt er sich kopflos hinab in schnellem Lauf,  hinunter auf die weiter unten folgenden Blockfelder auf dem Rossbodenälpetli, hoch über dem Unteralp-Tal. Alles geht hurtig zu Tal, dann und wann auf einem Gemspfad, bis an die äusserste Kante des Älpetli. Hier tun sich schmale Schneisen auf, die die Bäche ins Gelände gefressen haben. Reichen sie ganz hinunter zum Talboden, ohne Sprünge und Sätze, die rojosuiza nicht mitmachen kann? - Es ist nicht auszumachen. Es gibt jetzt drei Möglichkeiten: auf Deubel komm raus absteigen, linea recta, und hoffen; oder queren nach Nord-West zur Unter Stafel auf der Alp Rossboden; oder querend nach hinten im Tal, denn weiter hinten meint rojosuiza eine klare Abstiegsmöglichkeit bis zum Talgrund zu erkennen. Was macht der Bergheld in seiner Weisheit? - Direkt hinab wirft er sich, dem ersten Trichter entgegen. Geht es gut? - Es geht gut. Ab und zu rutscht es etwas. Wozu hat der Mensch einen Arsch? Damit ist gut rutschen. Der Talgrund rückt näher und näher, ein paar knifflige Stellen sind glücklich überwunden, schon stellt sich der Held das rasche Hinauswandern auf dem Strässchen unter sich in allen Farben vor - da kommt das gefürchtete Hindernis: das Steinbett macht einen Satz. Ein Sätzchen nur, das ist es eigentlich schon. Ausweichen geht nicht. Wie hoch die Stelle genau ist, ist von oben nicht einsehbar. Der Bergheld sieht sich schon hinausfliegen ins Nichts hinaus... Er setzt sich nieder und weint bitterlich. So kurz vor dem Ziel, und dann nicht; fast gelungen, aber gerade eben doch nicht... Oder geht es doch, wenn man nochmal schaut? - Nein, er muss wieder hinauf: die 400 bis 500 Höhenmeter sind verloren...

 

Die Zeit ist leider auch verloren. Dummerweise ist heute der Tag der Rückkehr zur Normalzeit. Aus ewigem Sonnenschein wird gar, gar schnell finstere Nacht. rojosuiza hastet sich nach oben, auf jeden Fall aus dem Trichter hinaus, obwohl der schön windgeschützt wäre, um das Älpetli wiederzugewinnen, wo ebene Stücklein sind. Weiter oben quert er noch ein paar Mal taleinwärts, in der einfältigen Hoffnung auf einen leichten Durchschlupf in letzter Minute. Aber der ist nicht da, und der Tag geht vollends.

 

Wie lang dauert die Nacht am 30. Oktober?  rojosuiza hat die Stunden abgemessen, endlos, endlos, auf seinem kleinen Platt von kaum anderthalb Metern Länge. Erst währte ihm die Nacht 8 Stunden, genaueres Denken ergaben aber schnell 10 Stunden, ja gar 12 Stunden, ja selbst 14 unglaublich lange Stunden. Wie kalt wird es, auf rund 2300 Metern? Gerade hat rojosuiza noch im Zug den Bericht von Fridtjof Nansen gelesen, "In Nacht und Eis " von der Überwinterung im Hohen Norden, im ewigen Eis. Wenn man das aushalten kann, unter diesen Bedingungen, kann rojosuiza  eine einzige Nacht an diesem lieblichen Ort hier leicht durchstehen.  Das Buch befindet sich im Rucksack und isoliert den einsamen Berghelden ein wenig zusätzlich von der Kälte! - Wie ist denn seine Lage im Vergleich zu Fridtjof Nansen? Hier ist es trocken, fast windstill;  kein Eis, das plötzlich aufbricht, nichts, das wegdriftet. Auch keine Eisbären, nicht einmal der böse Urner Wolf.

Null Grad wird es wohl gewesen sein. Was tut man, um erträglich warm zu bleiben? - Alles anziehen, was man hat, und immer die Glieder vibrieren lassen, so dass der Körper nicht die Waffe Schüttelfrost einsetzt...

Wie heisst es schon wieder, das Sternbild, das wie ein Schlüssel aussieht? - Nun, ich habe es überall am Himmel gesehen, bis es sich endlich im Westen davongemacht hat.

 

Das erste Licht kommt um sieben. Der Schimmer reicht, um sich reisefertig zu machen und etwas hinaufzukraxeln. In den Blöcken wird es heller; dort ist mehr Licht auch sehr nötig. Am Anfang torkelt der Bergheld wie betrunken. Ist es die Unterkühlung, ist es die Beleuchtung der Blöcke, sind es Verspannungen durch die unbequeme Haltung in der Nacht? Mit dem Kommen des vollen Tageslichtes ist der Berggänger aber heil und froh, und er hüpft wieder leicht vom Block zu Block.

 

Was ist das? - Wieder ein Gemspfad? - Er führt in die Richtung, die rojosuiza als Ausgang gewählt hat aus seiner 'schiefen Schüssel': nicht genau nach oben, um wieder zur Älpetlilücke zu gelangen und danach zum Toma-See, sondern quer hinüber zur Alp Rossboden. Er folgt ihm, denn diese Gemspfade sind sehr oft sehr brauchbar. Wo er an der ersten ausgesetzten Stelle noch undeutlich ist, wird er später immer deutlicher und brauchbarer: ein Menschenweg also doch. Klug führt er rojosuiza durchs Blockgewirr und über abschüssige Stellen. So kommt unser Bergheld zurück zur Zivilisation.

 

Was will er nun, der Tropf? - Wovon hat er schon die ganze Nacht geträumt? - Er will nur noch eines: sein morgendliches Bircher-Müesli. Und wo bekommt er es schliesslich, obwohl es nicht auf der Karte steht? - Im Toutoune in Andermatt: in einem Glasbecher, hübsch dekoriert, mit vielen Früchten und zusätzlich Schlagrahm oben drauf. Was für ein Luxus! Zudem hat das Lokal eine Heizung, es ist zwanzig Grad, was will der Mensch mehr!

 

Wanderung :T2; Exkursion auf den Rossbodenbodenstock: Stellen T3; Abstieg in die Runsen zur Unteralp: T5; Querung zur Alp Rossboden: Stellen T3.


Tourengänger: rojosuiza


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Kommentare (7)


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silberhorn hat gesagt:
Gesendet am 13. November 2016 um 20:13
Sali Schweizerknabe

Wie Dir bekannt lese ich Deine witzigen Tourenberichte sehr gerne. Mit diesem hier hast noch eins draufgesetzt. Zum Glück durftest Du zu Abschluss ein Müesli an der Wärme geniessen.

Liebe Gruess
maria

rojosuiza hat gesagt: RE:
Gesendet am 13. November 2016 um 20:25
Danke, Maria.

Ja, das Müesli, das war wirklich besonders gut, und dazu voller Liebe zubereitet.

Merke also wohl:

in aller Herrgottskälte im Freien nächtigen, und tags darauf ins Toutoune...

silberhorn hat gesagt: RE:
Gesendet am 13. November 2016 um 21:01
Nehme an bisch go schlemme;.)

Felix hat gesagt:
Gesendet am 3. Januar 2017 um 21:30
witzig und spannend - wenn es denn nur nicht so abwegig und kalt gewesen wäre ;-)

da hätte ich doch gern noch ein paar weitere Fotos deiner doch sehr extravaganten Exkursion betrachtet ;-)

lg Felix


rojosuiza hat gesagt: RE:
Gesendet am 4. Januar 2017 um 09:30
Dank Dir, Felix.

Ja, nach dem Sonnenaufgang ist mit Fotografie nichts mehr, da rannte der Berghase nur noch dahin, dem Ausgang zu...

Ein Foto von meinem Müesli-Becher im Toutoune, ja, das fehlt nun im Bericht wirklich sehr...

rihu hat gesagt:
Gesendet am 22. August 2017 um 17:47
Salü rojosuiza

Verhauer gibt es nur dann, wenn man etwas unternimmt. Ich hatte auch schon etliche, jedoch nur einen mit unfreiwilliger Übernachtung im Freien. Es war saukalt!
Trotzdem, weiterhin wünsche ich Dir schöne Touren.

Gruss, rihu

rojosuiza hat gesagt: RE:
Gesendet am 22. August 2017 um 22:15
Dank Dir, rihu, für die aufmunternden Worte. Tatsächlich bleiben einem diese Erlebnisse am prästentesten...

Hast Du übrigens je das Buch Fridtjof Nansen gelesen, das wärmt wirklich besonders schön in der Kälte...


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