„Nebel des Grauens“ – meine erste Mehrseillängenroute


Publiziert von Fico , 9. August 2013 um 23:54.

Region: Welt » Schweiz » Bern » Oberhasli
Tour Datum: 4 August 2013
Klettern Schwierigkeit: 4+ (Französische Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-BE 
Zeitbedarf: 2 Tage
Aufstieg: 240 m
Abstieg: 240 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Göschenen (oder Wassen), bzw. Meiringen, Postauto bis Steingletscher
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Göschenen (oder Wassen), bzw. Meiringen, Postauto bis Steingletscher
Unterkunftmöglichkeiten:Hotel Steingletscher www.sustenpass.ch/
Kartennummer:1211 (Meiental)

Wie kommt ein Bergwanderer zum Felsklettern? Nun, der Appettit kommt bekanntlich beim Essen. Zuerst sind es einfache Bergwege, auf denen man schön brav den weiss-rot-weissen Markierungen folgt. Dann wagt man sich erstmals an eine weiss-blau-weisse Route – bei mir war es vor drei Jahren die Nasenlöcherroute – und bereits hat man Neuland betreten und bewegt sich im Bereich des Alpinwanderns. Nachher entdeckt man anhand der unzähligen hikr-Berichte neue Touren, verliert sich in unterschiedlichen Bewertungen der Routen und der Schwierigkeitsgrade (wo hören T3 und T4 auf und wo fängt T5 an?), fasst sich ein Herz und riskiert einmal eine T5-Tour – um anschliessend festzustellen, dass sie weniger schwierig war als befürchtet. Kurzum, man stellt fest, dass die eigenen Grenzen dehnbar sind und sich bei entsprechendem Training erweitern lassen.
 
Das allein genügt nicht, damit ein Bergwanderer zum Felskletterer wird. Was braucht es sonst noch? Die Hände natürlich!, ist man versucht, ganz lapidar zu antworten. Anhand der SAC-Schwierigkeitsskalen kann man feststellen, dass nicht nur die Übergänge zwischen den Schwierigkeitgsgraden fliessend sind, sondern vor allem auch jene zwischen Berg- und Alpinwandern sowie Klettern. Mit andern Worten, wer T4-Touren ohne Schwierigkeiten meistert, klettert bereits im Schwierigkeitsgrad I, und zwar – da man sich ja meistens ohne Seilsicherung bewegt – ohne sich als Felskletterer zu fühlen. Auch kurze Kraxeleien im II. Grad auf einer T5-Tour kann man durchaus noch als Genuss erleben. Was aber, wenn es in einer Wegbeschreibung heisst: „insgesamt  T6, Fels bis III-“?
 
Der Schwierigkeitsgrad III nach UIAA-Skala bedeutet bereits: „Mittlere Schwierigkeiten. Zwischensicherungen an exponierten Stellen empfehlenswert“. Allein die Einstufung T6/III- ist Respekt einflössend genug, damit der Bergwanderer, der früher nur auf weiss-rot-weissen Routen unterwegs war, innehält. Einfach munter weiterzugehen – bzw. eben zu klettern – wäre allzu waghalsig. An diesem Punkt stehenzubleiben und aufzugeben, fällt umso schwerer, nachdem man so schön erlebt hat, wie sich die eigenen Grenzen erweitern lassen. Der nächste Schritt führt dann fast zwangsläufig über den Umweg einer Einführung in die Technik des Felsklettern, am besten in einem Kletterkurs bei einem ausgewiesenen Bergführer. Und es ist ein Umweg. Denn zuerst hält man sich ausschliesslich in einem Klettergarten (oder gar in einer Kletterhalle) auf.
 
Vor einem Jahr hätte ich die Chammhaldenroute gerne mit dem Girenspitz NE-Grat abgeschlossen. Schweren Herzens hatte ich angesichts der Einstufung T6/III-  – darauf verzichtet. Umso leichter fiel mir dann der Entschluss, einen Tageskletterkurs zu besuchen, als ich dieses Frühjahr zufällig eine Ausschreibung sah. Vorweg, die ganze Seiltechnik ist komplexer, als ich gedacht hätte. Und die Abläufe müssen genau stimmen, es dürfen keine Fehler passieren, vor allem beim Abseilen nicht. Andernfalls ist es besser, gleich ohne Seil zu klettern.
 
Wer – wie ich – die Freiheit der Natur mit allen ihren Gefahren liebt, möchte möglichst schnell wieder aus dem Klettergarten heraus. Die Ausschreibung der zweitägigen Anwendungstour „Mehrseillängen-Routen selbst zu klettern“ kam mir da gerade recht: „Ein Wochenende in der schönen Bergwelt am Sustenpass, draussen in der Natur, verbringen. Neue Techniken und Abläufe erlernen, die im Klettern zu mehr Selbständigkeit führen und einen Beitrag zur Erhöhung deiner Sicherheit im Klettern leisten.“ Dass meine erste Mehrseillängenroute „Nebel des Grauens“ heissen würde, wusste ich da noch nicht.
 
Das Hotel Steingletscher ist nicht nur Ausgangspunkt für zahlreiche Hochtouren, sondern auch sowas wie ein Eldorado des Kletterns. Mehrere Klettergebiete befinden sich in der Nähe und bieten Platz für die verschiedenen Kurse und Gruppen, die sich dort ein Stelldichein geben. Am Samstagmorgen um 10 Uhr sucht Jonas, der Bergführer, seine Gruppe zusammen. Es sind vier, die sich angemeldet haben: Frank, Pamela, Stephanie und ich. Wieder einmal bin ich nicht nur der Älteste, sondern auch am altmodischsten. Noch immer habe ich mir keine Kletterfinken besorgt und klettere weiterhin unbeirrt in meinen fast abgelaufenen Bergschuhen. Auch von meinem zerschlissenen KARIMOR-Rucksack, den ich mehr als dreissig Jahre lang auf dem Buckel getragen habe, mag ich mich nicht trennen. Allzu viel haben wir zusammen erlebt.
 
Meine Befürchtung, es könnten sich noch viele andere an unserem Übungsfelsen tummeln, erweist sich als unbegründet. Es ist ein lauschiges Plätzchen, das Jonas für den ersten Tag ausgesucht hat: ganz in der Nähe, ganz versteckt und ganz für uns alleine. :-) Es ist nichts Neues, was ich an diesem ersten Tag lerne. Alles habe ich schon einmal gehört. Aber eben, gehört. Mit der sicheren Anwendung hapert es noch gewaltig. Und Jonas achtet pedantisch genau auf alles: dass immer eine Hand am Bremsseil ist, dass die Reihenfolge der Abläufe exakt stimmt. Bevor jemand losklettert, prüft er jeden Knoten, ob er richtig sitzt, jeden Schraubkarabiner, ob er auch wirklich geschlossen ist. Bei der Sicherheit kennt er keine Kompromisse und wo es mehrere Möglichkeiten gibt, zieht er die doppelte Sicherheit vor. „Warum ein Risiko eingehen, wenn ich es mit einer einfachen Methode ausschliessen kann?“, lautet seine Devise.
 
Wettermässig meint es Petrus gut mit uns. Im Laufe des Nachmittags sind zwar immer mehr Wolken aufgezogen. Unser Programm können wir dennoch planmässig beenden und erst als wir wieder vor dem Hotel Steingletscher stehen, fallen die ersten Tropfen. Das nachfolgende Gewitter ist von kurzer Dauer und am nächsten Morgen scheint wieder die Sonne und – man glaubt es kaum – der Himmel ist wolkenlos. Das Wetter hat scheinbar die eher unsichere Prognose übertroffen. Doch der Schein trügt, in den Bergen kann das bekanntlich sehr schnell ändern.
 
Am Sonntagmorgen kurz nach neun stehen wir bereits angeseilt vor der Wand im Sektor A des Klettergebietes beim Steingletscher. Ausser uns ist niemand da. Mit roter Farbe sind die Namen der Routen an die Felsen gepinselt. Jene, die mich erwartet, heisst: Nebel des Grauens. Ein vielversprechendes Omen für die erste Mehrseillängenroute! In zwei Zweierseilschaften – Jonas klettert zwischen uns mit dem Selbstsicherungsgerät – sind wir kaum in die Wand eingestiegen und haben die erste Seillänge hinter uns, als sich der Himmel bedrohlich verdüstert. „Jetzt hilft nur noch mentale Stärke“, sage ich zu Stephanie, die in der Route neben mir am Sichern ist, „wir müssen mit unseren positiven Gedanken die Wolken vertreiben!“. Sie nickt und kneift die Augen zusammen, um sich besser konzentrieren zu können.
 
Wir staunen nicht schlecht, als kaum zehn Minuten später tatsächlich die Sonne sich wieder zeigt. Es sieht so aus, als hätte unsere Magie gewirkt. Als ich oben, am Ende der letzten Seillänge, den andern augenzwinkernd erzähle, was der Grund für die plötzliche Wetterbesserung ist, ziehen neue Wolken auf. „Das ist nur, weil du nicht wirklich daran glaubst!“, meint Stephanie vorwurfsvoll und kneift erneut die Augen zusammen. Kurze Zeit später, wie könnte es anders sein, verschwinden auch diese Wolken wieder und der Himmel ist so blau und der Tag so heiss, dass in der Mittagspause alle Sonnencrème einschmieren. Keine Spur mehr vom „Nebel des Grauens“!
 
Die Route habe ich übrigens ganz gut gemeistert. Abgesehen von ein bisschen Schummeln: einmal habe ich mich an der Express-Schlinge festgehalten, einmal habe ich einen Bohrhaken als Tritt benutzt und ganz am Schluss, als es nicht mehr anders ging, mich gar am Seil hochgezogen. „Vielleicht solltest du dich doch einmal nach Kletterfinken umsehen“, versucht Pamela vorsichtig, mich zu überzeugen. Als würden die Kletterfinken von selbst die feinen Tritte finden und überdies sich ganz alleine richtig hinstellen...
 
Das anschliessende Abseilen über rund zweimal 60 Meter war ein echtes Erlebnis und ganz anders als im Klettergarten bloss eine einzige Seillänge. Nach der Mittagsrast bin ich mit Frank zusammen die Route „Tiefblicke“ geklettert. Sie soll angeblich eher schwieriger sein. Erstaunlicherweise habe ich sie besser und sogar ohne zu schummeln hinter mich gebracht. Es ist wahrscheinlich vor allem die Übung, die mir fehlt. Und falls ich mich künftig häufiger auf Sportkletterrouten aufhalten sollte, ja dann wären Kletterfinken tatsächlich kein Luxus. Mein Appetit auf mehr ist jedenfalls nach diesen ersten Mehrseillängenrouten nochmals kräftig gewachsen.

Tourengänger: Fico


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Kommentare (2)


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Aendu hat gesagt: Nebel des Grauens...
Gesendet am 12. August 2013 um 08:33
...diese Route hat vermutlich Stephen King eröffnet:-)

Gruss, Aendu

Fico hat gesagt: RE:Nebel des Grauens...
Gesendet am 14. August 2013 um 18:16
Ja, wer weiss... Oder jemand, der sie eröffnet hat, liess sich zumindest von ihm inspirieren. Vielleicht hatte es ja beim Einrichten der Route einen grauenhaften Nebel und es gab niemanden, der die Wolken weggeschoben hat. ;-)


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