Ortstock (2717 m) – Winterbesteigung im Sommer


Publiziert von Fico , 9. Juli 2013 um 00:24.

Region: Welt » Schweiz » Glarus
Tour Datum: 1 Juli 2013
Wandern Schwierigkeit: T5 - anspruchsvolles Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: L
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-GL   CH-SZ   Ortstockgruppe   CH-UR 
Aufstieg: 1485 m
Abstieg: 850 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Linthal, Braunwaldbahn
Zufahrt zum Ankunftspunkt:Bergstation EBS-Luftseilbahn Sahli-Glattalp
Unterkunftmöglichkeiten:Backpacker 'adrenalin' www.adrenalin.gl
Kartennummer:1173 (Linthal)

Der mächtige Ortstock über Braunwald hat mich seit jeher fasziniert. Vor 30 Jahren hatte ich erstmals die Gelegenheit, ihn zu besteigen – 2717 m, der höchste Punkt, den ich damals zu Fuss erreicht hatte. Dabei ist es bis heute geblieben (abgesehen vom Zermatter Breithorn (4164 m) vor ein paar Wochen, wo die Seilbahn bis wenige hundert Meter unter den Gipfel führt).
 
30 Jahre sind eine runde Zahl, eine Art Jubiläum, woraus der Wunsch entsteht, das Erlebnis zu wiederholen. Damals, vor 30 Jahren, hetzte ich in aller Frühe mit dem Auto nach Braunwald, um mit der ersten Seilbahn auf den Gumen zu fahren und so rund 500 Höhenmeter einzusparen. Am gleichen Abend war ich wieder zu Hause. Wenigstens in dieser Hinsicht bin ich weiser geworden. Diesmal reiste ich am Vortag gemütlich mit der Bahn an und übernachtete im Backpacker-Hotel ‚adrenalin’ – welch sinniger Name für mein geplantes Abenteuer!
 
Im Sommer und Herbst ist der Ortstock ein einfacher Wanderberg. Entsprechend herrscht an schönen Wochenenden ein emsiges Kommen und Gehen. So auch in meiner Erinnerung an jenen Samstag im September 1983. Dass ich an diesem Montag, 1. Juli 2013 andere Verhältnisse antreffen würde, lag auf der Hand. Bestimmt hatte jede Kaltfront, die in den vergangenen Wochen die Schweiz durchquerte, mehr als nur einige Zentimeter Neuschnee zurückgelassen. Und auch am Samstag vor der geplanten Tour, als es fast den ganzen Tag regnete, lag die Schnellfallgrenze bei etwa 2200 m. Was für Verhältnisse würde ich antreffen? Würde sich meine Vermutung bewahrheiten, dass die Altschneedecke so weit gefestigt war, dass ich mit Pickel und Steigeisen problemlos vorankäme? Oder lag soviel Neuschnee, dass ich den Gipfel gar nicht erreichen könnte?
 
Als ich am späteren Sonntagnachmittag in Braunwald ankam, war vom Ortstock nicht besonders viel zu sehen. Die Wolken hingen tief, bei den Eggstöcken zogen Nebelschwaden in die Höhe. Die Sicht reichte nur bis ungefähr auf die Höhe des Bärentritt, wo von blossem Auge Schneefelder auszumachen waren. Kurzum, es waren eher trübe Aussichten für meine Tour, und es brauchte den unerschütterlichen Glauben an die Wetterpropheten, um sich an diesem Abend den Aufstieg am nächsten Morgen bei blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein vorstellen zu können.
 
Nach dem Abendessen unternahm ich einen Verdauungs- und Akklimatisionsmarsch zum Brumbachfall, der jetzt, während der Schneeschmelze, besonders sehenswert ist (T2, ab Wegweiser „Brumbachfall“ T3, Seilsicherung vorhanden). Es war noch nicht einmal ganz dunkel, als ich mich schlafen legte. Am nächsten Morgen wollte ich ausgeruht und so früh wie möglich aufbrechen. Diesmal direkt von Braunwald aus, ohne Seilbahn und Umweg über den Gumen, dafür mit zusätzlichen 500 Höhenmetern, die zu bewältigen waren. So könnte ich mir einreden, meine Fitness hätte sich - trotz 30 Jahren mehr auf dem Buckel - ein bisschen gesteigert. In Wirklichkeit ist es wohl eher so, dass ich früher bequemer war und mir weniger Zeit gönnte.
 
Kurz vor fünf, noch vor dem Wecker, wache ich auf und sehe den Ortstock vor einem wolkenlosen, tiefblauen Himmel. Nein, es ist kein Traum, die Wetterprognose hat sich voll und ganz bewahrheitet. Wenig später wird der Gipfel – mein Ziel! – von der strahlenden Morgensonne erhellt. Ich kann es kaum erwarten dort oben zu stehen!
 
Der Duft von frischem Brot weht mir um die Nase, als ich mich um viertel nach sechs auf den Weg mache. Braunwald wirkt um diese Zeit still und verschlafen. Ausserhalb des Dorfes, kurz bevor der Bergweg abzweigt, kommt mir eine Frau auf ihrem Morgenspaziergang entgegen – der einzige Mensch, den ich bis am Nachmittag zu Gesicht bekomme. Die Alp Ober Stafel (1602 m) scheint noch nicht bewohnt zu sein, auch Kühe sind keine zu sehen. Im winzig kleinen Bergetenseeli, das im Spätsommer weitgehend austrocknet, spiegeln sich gestochen scharf die Berge. Stets mein Ziel vor Augen, gehe ich weiter. Auf dem Geröllkegel zum Bärentritt scheint die Morgensonne schon hochsommerlich warm vom wolkenlosen Himmel. Der schmale, mit Drahtseilen gesicherte Weg über die Felsen ist gänzlich schneefrei. Erst im letzten Aufschwung vor dem Pt. 2012 verschwindet der Bergweg unter einem Schneefeld.
 
Soll ich das Schneefeld vorsichtig überqueren (Ausrutschen verboten!) und dann auf den Schrofen hinaufkraxeln oder besser gleich die Steigeisen festschnallen? Bevor ich mich für die zweite Variante entscheide, gönne ich mir eine Rast in diesem Grenzbereich zwischen Sommer und Winter. Seit bald drei Stunden bin ich unterwegs, fast 700 Höhenmeter habe ich hinter mir. Leider noch nicht einmal ganz die Hälfte des gesamten Aufstiegs. Das Schneefeld ist wie erwartet hart und ziemlich steil. Vermutete 45 Grad oder mehr, jedenfalls so steil, dass ich die Frontzacken benütze um voranzukommen, während ich mich gleichzeitig am Pickel festhalte. Das geht erstaunlich gut, obwohl ich das zum ersten Mal mache – und ehrlich gesagt mit etwas gemischten Gefühlen. Jedenfalls bin ich erleichtert, als ich oben auf dem Lauchboden ankomme.
 
Einzelne Flecken sind bereits schneefrei, doch ab etwa 2100 m Höhe liegt eine kompakte Schneedecke, die sich zum Sattel auf 2400 m hinaufzieht. Der Ortstock-Gipfel sieht aus, als wäre er von einem Gletscher überzogen. Noch ist der Schnee, auf dem ich meinen Weg suche, genügend hart, so dass ich gut vorankomme. Weiter oben, wo zunehmend Neuschnee liegt und das Gelände steiler wird, ändert sich das. Bald einmal sehe ich Spuren im Schnee, die mir entgegenkommen. Es sind keine Hufspuren, sondern menschliche Fussstapfen. Im Vertrauen darauf, dass sie mir verraten, wo man sicher nach oben kommt, folge ich ihnen. Denn wo und wie ich die mächtige Schneemauer, die oben auf dem Sattel zu sehen ist, überwinden könnte, bereitet mir ein wenig Kopfzerbrechen. In den Trittspuren sinke ich obendrein etwas weniger ein, als der Schnee allmählich tiefer und tiefer wird. Auf einmal sind alle Spuren verwischt. Eine Ladung Schnee, die sich weiter oben gelöst und irgendwann abgegangen ist, hat sie unter sich begraben. Unbeirrt verfolge ich die inzwischen nur noch in Gedanken vorhandene Spur. An den Felswänden zwischen Höch Turm und Flätstock geht krachend eine Eislawine nieder. Zum Glück weit entfernt, doch allein das tosende Geräusch in dieser abgeschiedenen Gegend, in der ausser mir keine Menschenseele unterwegs ist, macht mir mächtig Eindruck.
 
Zu meiner Freude entdecke ich kurze Zeit später auf dem Geröll, das aus dem Schnee ragt, eine weiss-rot-weisse Markierung. Es ist sehr beruhigend, sich auf dem richtigen Weg zu wissen. Leider kommt es mir nicht in den Sinn, hier anzuhalten, um Gamaschen und Handschuhe anzuziehen. Allzu sehr sind meine Gedanken mit dem weiteren Aufstieg beschäftigt. Auch die kleinen Schneeabgänge, die nun ringsum zu sehen sind, machen mir Sorgen. Es sind kaum mehr 200 Höhenmeter, die mich vom Sattel trennen. Allerdings sind es die steilsten und mühsamsten. Immerhin laufen mir irgendwann auch die menschlichen Fussstapfen wieder über den Weg. Es ist tröstend, doch nicht ganz allein unterwegs zu sein. Der Sattel ist in greifbarer Nähe und das Gelände immer steiler, als ich rechts bis zur Hüfte einsinke. Was tun, wenn ich plötzlich mit der ganzen Schneedecke abrutschen würde? Vorsichtig arbeite ich mich wieder hoch und kämpfe mich durch die letzten Meter bis auf den Sattel. ‚Adrenalin’ nennt sich der Ort, wo ich übernachtet habe – nomen est omen...
 
Ein Gefühl von grosser Erleichterung erfüllt mich, als ich auf der Ortstock-Furggele (2402 m) stehe und zum Glattalpsee hinabschaue. Es ist bis jetzt alles glimpflich verlaufen, es ist mir sogar gelungen, einen einfachen Weg zwischen den Schneemauern hindurch zu finden, die – von unten gesehen – einen abweisenden, unüberwindlichen Wall auf der ganzen Länge des Sattels bilden. Inzwischen ist Mittag und längst vorbei sind die fünf Stunden, die für den Aufstieg von Braunwald bis zum Ortstock-Gipfel angegeben sind. Da bereits ziemlich entkräftet, wäre es angezeigt gewesen, mich bereits hier mit Speise und Trank zu stärken. Stattdessen gehe ich nach einer kurzen Verschnaufpause gleich weiter. Es ist, als wollte ich auch die letzten 300 Höhenmeter endlich hinter mir haben. Im Nachhinein gesehen eher ein Fehler.
 
Der Gipfelaufstieg ist zwar unschwierig und problemlos. Er ist auch weniger steil als das letzte Stück unter dem Sattel. Zudem liegt auf dem breiten Gipfelgrat vergleichsweise wenig Schnee. Vermutlich haben die Westwinde die Schneemassen laufend verfrachtet. Das zeigt sich an den mächtigen Verwehungen, die nach Osten abbrechen. Sie verleihen dem Ortstock (2717 m) an diesem 1. Juli einen echten Hochgebirgscharakter. In immer kürzeren Abständen halte ich an. Weniger um die grossartige Aussicht zu bestaunen, die man hier oben zweifellos hat, als vor allem, weil meine Kräfte immer mehr zu Neige gehen. Ziemlich erschöpft erreiche ich das Gipfelkreuz. Es ist inzwischen fast 14 Uhr. Einschliesslich aller Pausen habe ich für den ganzen Aufstieg mehr als sieben Stunden benötigt und deutlich mehr als ich unter normalen Verhältnissen gebraucht hätte.
 
Ganz allein hier oben zu stehen, ist ein erhabenes Gefühl. Es steigert sich noch, als ich im Gipfelbuch sehe, dass sich vor mir in diesem Jahr, und zwar am Vortag, erst ein einziger Alpinist eingetragen hat. Später, kurz bevor ich wieder aufbreche, stossen noch zwei weitere Berggänger zu mir. Es tut gut, mit jemandem ein paar Worte zu wechseln. Diesmal ist es mir lieber, die Natur nicht für mich alleine haben. Unter den gegebenen Verhältnissen zeigt sie sich hier oben allzu kalt und abweisend. Die andern beiden kommen aus Basel und sind von der Glattalp her aufgestiegen. Es ist die wesentlich kürzere und einfachere Route, die ich nun für den Abstieg ebenfalls benütze.
 
Wieder bei der Ortstock-Furggele angekommen, mache ich nochmals ein paar Fotos. Als ich nach einer Abstiegsspur zur Glattalp suche, sehe ich, wie die beiden andern, die erst noch auf dem Gipfel waren, bereits weit unten sind und elegant wie Gemsen hinabspringen. Leider traue ich mir das nicht zu und kämpfe mich im Schritttempo mühsam durch den aufgeweichten Tiefschnee. Die Steigeisen sind dabei mehr hinderlich als hilfreich. In der Annahme, weiter unten doch noch auf harte Schneefelder zu treffen, behalte ich sie an. Ein verhängnisvoller Fehler, wie sich bald herausstellen sollte.
 
Mit den Steigeisen auf dem aperen Bergweg zu laufen ist unangenehm. Darum weiche ich – als ich bereits kurz vor dem Glattalpsee bin – auf ein Schneefeld aus, auf dem ich nach wenigen Schritten einbreche und mit dem linken Knie auf den harten Fels aufschlage. Anscheinend eine heimtückische Spalte im Schrattenkalk. Mit dem kühlenden Schnee kann ich den heftigen Schmerz sogleich etwas dämpfen. Als sich der Schnee rot zu färben beginnt, wird mir klar, dass der Aufprall stärker gewesen sein muss, als ich gedacht hätte. Da ich nun ohnehin auf dem Boden sitze, ziehe ich die lästigen Steigeisen endlich ab. Leider zu spät. Den Umständen entsprechend bin ich allerdings zufrieden, dass ich überhaupt weiterlaufen kann, wenn auch mit Schmerzen.
 
Auf dem Weg zur Seilbahnstation treffe ich wieder auf die beiden Basler Alpinisten. Gemeinsam nehmen wir die restlichen Kilometer unter die Füsse und fahren mit der letzten Seilbahn (um 18 Uhr) von der Glattalp nach Sahli hinunter. Leichtsinnigerweise hatte ich mich überhaupt nicht um den Fahrplan gekümmert, sondern einfach angenommen, mit der Seilbahn auch Anschluss an den ÖV zu haben. Ein Irrtum, wie sich bald einmal herausstellt. Das letzte Postauto ist vor einer halben Stunden abgefahren. Freundlicherweise bringen mich die beiden mit dem Auto nach Schwyz, wofür ich ihnen an dieser Stelle – sollten sie meine Geschichte lesen – nochmals von Herzen danken möchte!
 
Heute, eine Woche später, während ich diesen Bericht schreibe, geht es dem Knie schon wieder viel besser. Es ist noch immer etwas angeschwollen und schmerzt beim Treppensteigen. Und bis ich wieder in die Berge kann, werde ich mich wohl oder übel noch ein paar Wochen gedulden müssen. Meine Tour bereue ich nicht im Geringsten. Die schönen Erinnerungen überwiegen bei weitem alle Mühen und Schmerzen. Meine Zweifel bestehen einzig darin, ob ich mich als Alpinwanderer vielleicht doch etwas zu weit hinausgewagt habe. War meine Tour ein gefährlicher, (nicht mehr ganz) jugendlicher Leichtsinn? Oder habe ich lediglich die Tür zu einer Welt aufgestossen, die mir bisher verschlossen geblieben ist? Wie auch immer, das tiefe Erlebnis auf dem winterlich anmutenden Ortstock mit seinen grandiosen Schneeverwehungen, die eindrückliche Stille und Einsamkeit auf dem langen Aufstieg, all das kann mir niemand mehr nehmen.

Tourengänger: Fico


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Kommentare (1)


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tricky hat gesagt:
Gesendet am 9. Juli 2013 um 09:20
Gut das nichts schlimmes passiert ist. Schöne Tour die du da gemacht hast.


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