Becco di Mezzodì 2603m - Spekulanten

Viele kennen den Becco di Mezzodì, ohne es zu wissen. Er ist beinahe auf jedem Foto vom Federasee zu sehen und wer es knipst, hat ihn auf seiner Speicherkarte. Besteigen will ihn allerdings von den Fotografen keiner. Schon bei der Anfahrt beginnen wir zu spekulieren, was wird uns erwarten, die Beschreibungen im Internet sind etwas widersprüchlich!? Bei vienormali ist von Stellen II+ bis III- die Rede, das sollte auch frei begehbar sein, braucht es überhaupt das lange Seil? Woanders lesen wir "eine Stelle IV"!?
Dandl ist schmerzfrei, "Alles Training" ist sein Motto und er packt sich 60 Meter auf den Rucksack, gut so, wie sich später herausstellen wird. Bei einer anderen Spekulation, wieviele Auto wohl am Parkplatz Rucurto stehen werden, liegen wir komplett falsch. Eine letzte Parklücke ist kurz nach Sonnenaufgang gerade noch frei, anscheinend herrscht Massenandrang am Federasee, wir sind perplex.
Es geht zu wie im Kino, als wir vorbeikommen sind die ersten Plätze wieder frei, die besten Farben waren schon. Aber das ist auch nicht unser primäres Ziel, wir lichten den sich im See spiegelnden Becco di Mezzodì ab und steigen ihm entgegen. Dabei spekulieren wir gleich weiter, wieviele Aspiranten werden wir wohl dort treffen!? Um es vorweg zu nehmen, das Bier geht auf Dandls Rechnung, denn mit Null war meine Vorhersage am nächsten dran ;-)
Von der Forcella Ambrizzola zieht ein deutliches Steiglein zur Südwestflanke des Becco hinauf und wir kommen ohne Probleme zum Einstieg. Jetzt wird sich zeigen, was unsere Spekulationen wert waren. Schon die erste Länge fordert mich, II+ ist niedrig angesetzt und als wir zum zweiten Kamin kommen steht fest, frei lässt sich der Becco für uns nicht begehen! Wir seilen an und Dandl steigt zunächst rechts vom Kamin über eine 3er Rippe vor. Danach verschwindet er im Kamin und ich höre ihn aus der Ferne staunend rufen: "Wenn hier kein Fixseil wäre..."
Tatsächlich hat man an die zwei alten Haken ein kurzes Stück geknotetes Kletterseil gebunden "per facilitare la salita"! Ohne diese Hilfe wäre das Wandl wohl nur im SG V zu haben und selbst mit Griff ans Seil ist das kein 3er mehr! Mit Mühe und Stemmtechnik meistern wir die Stelle und für den folgenden kurzen Aufschwung (III-) steigen wir gleich gesichert weiter. Es sind nur ein paar Meter und schon lacht uns der Südgrat an, der Rest ist Formsache.
Was aber nicht mehr lacht, ist der Himmel. Entgegen der Spekulationen der Meteorologen ziehen Wolken auf und verdunkeln die Sonne. Dafür gibt es eine kühle Prise und am Gipfel ist es alles andere als gemütlich, schade! Es ist keine Besserung in Sicht und wir ziehen uns frustriert zurück. Den Grat steigen wir frei bis zur ersten Abseilstelle, die direkt über den Kamin mit der Schlüsselstelle zieht.
Es folgen noch zwei Abseiler und damit sind all unsere Spekulationen beendet, der Becco di Mezzodì hat uns beeindruckt, das hätten wir deutlich einfacher erwartet. Wir trotten dick eingepackt mit gemischten Gefühlen zurück zum Federasee und wundern uns über den immer noch regen Besuch. Fast schon am See vorbei steigt mir Küchengeruch in die Nase, die Hütte ist noch bis einschließlich morgen geöffnet, das hätten wir in unseren wildesten Spekulationen nicht für möglich gehalten!
So findet der Tag ein sehr erfreuliches Ende, wir sitzen auf der Terrasse mit Blick auf den Becco di Mezzodì und auf ein äußerst schmackhaftes Stück Topfenkuchen. Meine Laune steigt um viele Prozentpunkte, damit kann man mich glücklich machen. Alle Spekulationen, wo wir am Nachhauseweg ein um diese Jahreszeit noch geöffnetes Lokal finden könnten, haben sich damit auch erledigt!