Ün Zücchin am Cramosín...herbstzeitlos über den E-Grat


Publiziert von lorenzo , 2. November 2022 um 18:34.

Region: Welt » Schweiz » Tessin » Bellinzonese
Tour Datum:30 Oktober 2022
Wandern Schwierigkeit: T3 - anspruchsvolles Bergwandern
Hochtouren Schwierigkeit: ZS
Klettern Schwierigkeit: IV (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-TI   Gruppo Madöm Gross 
Zeitbedarf: 2 Tage
Aufstieg: 2395 m
Abstieg: 1845 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Bodio
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Frasco, Chiesa
Unterkunftmöglichkeiten:Rifugio Canva, Alpe di Nèdro, Rifugio Alpe Costa
Kartennummer:LK 1273 Biasca, 1272 Campo Tencia, 1292 Maggia; G. Brenna, Clubführer Tessiner Alpen 2, SAC 1992; M. Gabuzzi, Capanne e rifugi del Ticino e della Mesolcina, Salvioni 2004

Laut Clubführer wurde der Pízz Cramosín E-Grat bereits am 27. Juli 1913 von Louis A. Meyer im Abstieg begangen. G. Brenna, der sich viel später an einem Regentag in der Nähe des Grats befand, fasst seine Eindrücke "mangels anderweitiger Informationen" wie folgt zusammen: "bei der Bassa di Partüs (2411m) beginnt ein luftiger, felsiger Gratabschnitt, ihm folgt ein Turm, der wahrscheinlich rechts umgangen wird, worauf man wieder den Grat gewinnt. Vermutliche Schwierigkeit: ZS." Nachdem ich Ende August dieses Jahres anlässlich einer mehrtägigen Wanderung im Gebiet von der Alpe di Nèdro zur Bassa die Partüs aufgestiegen war, konnte ich es natürlich nicht lassen, den schon von weitem sichtbaren, elegant emporziehenden Grat zu versuchen. Aber schon beim ersten Aufschwung wurde rasch klar, dass die Schwierigkeiten für mich eine Schuhnummer zu gross waren, um seilfrei weiterzukommen. So brach ich den Versuch ab, und stieg über die von G. Brenna beschriebene Route durch das ESE-Couloir und die ESE-Flanke auf, die zwar nichts zu wünschen übrig liess und aufschlussreiche Perspektiven hinüber zum E-Grat gewährte, aber auch nicht ganz ohne war...Von da an liess mich der Gedanke nicht mehr los, zurückzukehren und einen zweiten Versuch mit Seil und flexiblem Sicherungsmaterial zu wagen.

Am letzten Oktoberwochenende war es dann endlich so weit. Chrstoph Siegrist von SRF Meteo kündigte sonniges und dank warmer Luft aus Senegal für die Jahreszeit ausserordentlich mildes Herbstwetter an, so dass ich die Primaloftjacke aus dem ohnehin schwer genug gewordenen Rucksack wieder auspackte. Mangels öV-Verbindungen samstags nach Personico fuhr ich bis
 Bodio und legte den kurzen Weg dorthin zu Fuss zurück. Schon kurz nach dem Dorf begann der recht steile Weg, der mich unter der wärmenden Vormittagssonne und bei abnehmendem Verkehrslärm der A2 durch dichten Kastanienwald über raschelndes Laub und Myriaden von stacheligen Fruchtbechern nach Sassano führte, wo mich eine Gemse begrüsste, und letzte Urlauber es sich gemütlich gemacht hatten. Nach der letzten Hütte und den vorläufig letzten Sonnenstrahlen trat ich in das wilde Val Nèdro ein und stieg durch schattigen Bergwald entlang dem rauschenden Riale di Nèdro und vorbei an imposanten Wasserfällen und den Ruinen von Dragóil langsam aber stetig hinauf nach Gher. Eine erste kurze Pause, und schon wand sich der Weg, nun unerbittlich steil, Richtung Pescim, bevor, endlich wieder an der Sonne, die abwechslungsreiche und stellenweise ausgesetzte Schlussquerung zur Alpe di Nèdro begann. Aufgeschreckt durch den Störenfried huschten einmal eine Steingeiss und ein Kitz pfeifend und leichtfüssig über die abschüssige Flanke davon, während das schon in Sichtweite gerückte, aber am frühen Nachmittag bereits wieder im Schatten liegende Rifugio Canva noch mehrmals hinter von der Cima di Partüs herunterziehenden Geländerücken verschwand, bis ich endlich vor der Hüttentüre stand.

Als ich mich eingerichtet, am Riale di Nèdro frisches Wasser geholt und einen Kaffee getrunken hatte, legte ich mich zur Erholung etwas hin, aber schon wenig später erschien ein Spätankömmlings im Türrahmen. Er stammte aus dem Mendrisiotto und hatten den langen Aufstieg von Chironico unter die Füsse genommen. Da es inzwischen doch etwas kühl geworden war, machten wir Feuer, bereiteten das Abendessen vor und setzten uns zum Essen vor den knisternde Wärme ausstrahlenden Ofen. Währenddessen erzählten wir einander von unseren Erlebnissen in den Tessiner Bergen und gedachten dabei der unglaublich ingeniösen und harten Arbeit der Wegbauer, die wohl nicht wenige von ihnen mit ihrem Leben hatten bezahlen müssen, und die wir für noch gefährlicher hielten, als jene der ägyptischen Sklaven beim Bau der Pyramiden von Gizeh. Wehmütig erinnerten wir uns an die Zeit bis vor rund zwanzig Jahren, als die Rifugi noch Cascine und keine Capanne und schon gar keine Albergi di Montagna waren, und man sie noch ohne Voranmeldung benutzen durfte. Dazu erklärte er mir unumwunden, dass er im Hüttenführer von M. Gabbuzzi inzwischen die gelben Seiten mit den Capanne jeweils überspringe und nur noch auf den roten Seiten nach geeigneten Rifugi suche. Besorgt blickten wir der Zeit des Alters entgegen, in der wir Höhendifferenzen wie jene von heute nicht mehr ohne weiteres würden stemmen können. Statt, wenn es dereinst soweit ist, den ganzen Tag TV zu schauen, schlug ich vor, kürzere Touren zu machen, und wenn möglich Bergbahnen zu benutzen, was aber wohl beiden nicht leicht fallen wird. Als ich ihn schliesslich fragte, warum die Tessiner die Deutschschweizer eigentlich "Zücchini" nennen, gab er mir zur Antwort: weil sie so viele Zucchetti essen, und diese praktisch nur aus Wasser bestehen würden, so dass sie nicht einmal für eine Minestra zu gebrauchen seien...Müde vom langen Tag, legten wir uns schlussendlich trotz der bevorstehenden Zeitumstellung doch noch zeitig zur Ruhe.

Um den Compagno, der später gemütlich zur Cascina di Lago zuoberst im Val Marcri weiterziehen wollte, nicht zu wecken, stand ich am Sonntag so geräuschlos wie möglich auf, kochte Kaffee, packte meine Sachen und stahl mich bei beginnender Dämmerung auf leisen Sohlen davon. Auf Pfadspuren, Gras und Geröll gewann ich beharrlich an Höhe, und schon bald kam der ersehnte E-Grat in Sicht. Über der Torronegruppe ging die Sonne auf, die den weiten Alpkessel zwischen der Cima di Nèdro und der Cima di Partüs in herbstliches Gold tauchte, und beim Näherkommen die Strukturen des "luftigen, felsigen Gratabschnitts" und des "Turms" immer deutlicher hervortreten liess. Wieder von einer Gemse begrüsst, erreichte ich die Bassa di Partüs, über der E-Grat eindrücklich und herausfordernd aufragt. Ich seilte mich an, machte eine kurze Pause und begann mit dem Klettern. Die 1. Seillänge bot am 1. Aufschwung schönste Genusskletterei (III), an der folgenden Stufe aber bereits eine kleines Boulderproblem zum Knobeln (IV). In der 2. Seillänge liess sich die überhängende Stufe nach dem 2. Aufschwung zum Glück moderater von rechts überwinden (III). Danach forderte die 3. Seillänge einen Spreizschritt über einer Felsspalte und danach vorsichtiges Vorantasten auf Reibungstritten und an Auflegergriffen (III+), während der dunkle Turm immer näher rückte...Dieser liess sich aber in der 4. Seillänge trotz dunklerem, schiefrigem und etwas brüchigem Fels durch eine Rinnenverschneidung von rechts und über den Grat gut und sicher erklettern (III). Die 5. Seillänge begann sogleich mit einer delikaten Stufe (III+), die mit etwas taktischem Geschick aber schlüssig zu überlisten war. Und nach der abwechslungsreichen 6. Seillänge mit weiteren Genusspassagen im III. Grad, war das Gröbste bereits überstanden und der Weg über leichte Felsen zum Gipfel frei. Zuoberst angekommen, stellte ich ernüchtert fest, dass die Zeit durch meine neuerliche Entdeckung der Langsamkeit umso schneller verflogen war, und die Uhr bereits auf viertel vor eins zeigte. Ich packte meine Kletterutensilien wieder in den Rucksack, genoss das einzigartige, wenn auch durch Schleierwolken leider etwas getrübte Rundumpanorama, im W bis zu Finsteraarhorn, Mischabel und Monte Rosa, und freute mich auf den Abstieg in das vor mir sich verzweigt ausbreitende Val Verzasca.

Anhand der Karte war ich davon ausgegangen, dass ich zuerst nur der blau, dann der rot eingezeichneten Route folgen müsste. Aber schon nach etwa der Hälfte des SE-Grat und nicht erst unten auf Fornà zweigte ein direkter weiss-blau markierter Weg Richtung Alpe Costa ab. Die Markierungen waren zwar z.T. verblasst oder kaum auffindbar, so dass ich die Spur immer wieder verlor, aber in dem übersichtlichen Gelände u.a. dank Steinmännern auch immer wieder fand. Zuerst über die SW-Flanke auf leichten Felsen und Geröll, dann über die bezaubernde, begraste und von Platten aus Verzascagneis, kleinen Mooren und mäandernden Bachläufen durchsetzte Hochebene der oberen Alpe della Costa, die schöne Ausblicke hinüber zur Capanna Efra und zum Lago d'Efra gewährt, gelangte ich zu den Ruinen von Laghetto, wo auch die eingezeichnete blaue Route einmündet. Unterhalb davon weidete eine vergnügte Ziegenherde, die sich auch von mir nicht stören liess, und vor dem Rifugio Alpe Costa hielt ein einsamer Wanderer auf einer Holzbank seine Siesta unter der linden Nachmittagssonne. Nach einer kurzen Pause konnte ich auf dem ab hier gut unterhaltenen Bergweg wieder einen Gang höher schalten. Auf den Monti di Frasco liessen Einheimische bei verschiedenen Arbeiten den Oktober ausklingen, und nachdem ich im dortigen Pfadgewirr wieder einmal vom Weg abgekommen war, erklärte mir eine freundliche Gruppe dessen Fortsetzung. Wieder im Schatten gelangte ich auf federndem Laub hinunter zur Kirche von Frasco, deren Uhr eine Viertelstunde vor der nächsten Busabfahrt anzeigte. Im von vielen immer wieder ein- und aussteigenden Herbstwanderern gefüllten Postauto genoss ich die von vielen schönen Erinnerungen begleitete gemächliche Fahrt durch das geliebte Verzascatal. Von Gerra und Brione schaute ich nochmals zum Pízz Carmosín zurück, der Strasse entlang schlenderte die Boulder-Community mit ihren Crash-Pads am Rücken den überhängenden Gneisblöcken im Flussbett zu, und als wir bei Predondo wegen einer Schafherde kurz anhalten mussten, hinauf zum atemberaubend senkrechten Poncione d'Alnasca. Und weiter unten im Tal erhaschte ich nach einem Seitenwechsel sogar noch Ausschnitte eines vielversprechenden Projekts, das mir ein guter Kollege vorgeschlagen hatte, und von dem ich bisher nur Fotos und Kartenausschnitte gesehen hatte, das wir aber, da es dieses Jahr nicht zu dessen Umsetzung gekommen war, auf das nächste vertagen mussten...

Alpe di Nèdro

Aufstieg von Bodio: vom Bahnhof Bodio (331m) gelben Markierungen folgend auf der Via Stazione, der Via al Ponte und der Via Cantonale bis nach Personico P. 323, wo die Via Margherasca abzweigt, und auf dieser bis zur Via alla Foppa, der man bis zum Ende folgt. Auf dem eingezeichneten Weg bis zum weiss-rot markierten Bergweg (wr) Richtung Chironico, und auf diesem bis nach der 2. Kurve des Fahrwegs Richtung Venn bei ca. 530m, wo ein eingezeichneter Weg abzweigt, der nach Sassano (980m) führt. Von dort auf dem eingezeichneten Weg (z.T. Ketten) durch das Val Nèdro vorbei an der Brücke von Froda (962m) und über Dragói, Gher (1475m) und P. 1819 SW von Pescim zur Alpe di Nèdro (1872m), 4h, 10Hm Ab- und 1550Hm Aufstieg, T3.

Pízz Cramosín
Aufstieg Bassa di Partüs-E-Grat: von der Alpe di Nèdro (1872m) nach WNW auf Gras (Pfadspuren, bis P. 2119 eingezeichnet) und zuletzt Geröll zur Bassa di Partüs (2410m), wo der E-Grat beginnt, 1h 15min, T3. Einstieg über leichte Felsen zur 1. SL: von links über einen 1. Aufschwung (III) und direkt über die folgende Stufe (IV). Auf Gras und Blöcken seilfrei zur 2. SL: zuerst von rechts, dann von links und wieder von rechts über einen 2. Aufschwung und von rechts über die beiden folgenden Stufen (III). Auf Gras und leichten Felsen zur 3. SL: von links und eine Felsspalte querend über einen 3. Aufschwung (III+) und zuletzt von links über eine Stufe (III). Hier beginnt die 4. SL, die über den markanten 4. Aufschwung zum Turm im oberen Gratdrittel führt: von rechts zuerst durch eine Rinnenverschneidung, dann direkt  über den Grat hinauf (III, z.T. brüchig) und wieder leichter weiter zur 5. SL: von rechts über eine Stufe (III+, z.T. brüchig) und einfach weiter zur 6. SL: direkt über eine Stufe (III+), rechts um einen Gendarmen herum und über eine weitere Stufe (III). Zuletzt seilfrei über leichte Felsen (I-II) und Gras auf den Gipfel (2718m), 4h 45min, ZS (alle Stände können an Felsblöcken oder -zacken eingerichtet und alle Seillängen mit Schlingen, Cams und Rocks abgesichert werden). Insgesamt 6h und 845Hm.

Bemerkung: Seilschaften dürften mit der halben Kletterzeit, Cracks seilfrei mit einem Viertel durchkommen. Da ich aus Zeitgründen während dem Klettern auf Notizen verzichtet habe, sind etwaige Ungenauigkeiten bei der Routenbeschreibung nicht auszuschliessen.

Abstieg SW-Flanke-Alpe della Costa-Frasco: vom Gipfel (2718m) weiss-blauen Markierungen folgend entlang dem SSE-Grat bis zur Abzweigung Costa/Efra auf ca. 2650m. Nun verblassten weiss-blauen Markierungen und Steinmännern folgend über die SW-Flanke und eine Stufe bei ca. 2600m hinunter in das Geröllkar SW vom Gipfel und durch dieses und auf Platten und Gras die Alpe della Costa querend über P. 2379, Rovine (2227m) und Laghetto (2050m) zum Rifugio Alpe Costa (1943m), 1h 15min, T3. Zuletzt wr über Sciüres (ca. 1440m) und Sèrt (1241m) hinunter nach Frasco (885m), 1h 15min, T2. Insgesamt 2h 30min und 1830Hm.

Verhältnisse: an beiden Tagen bei v.a. kammnah mässigem SW-Wind sonnig mit Schleierwolken und mild. Wege, Gras und Felsen weitgehend trocken. In der Pízz Cramosín NE- und N-Flanke zuoberst wenige Schneereste. Auf der Alpe di Nèdro ist das Wasser über den Winter abgestellt, und es muss im nahen Bach N der Hütte oder S im Riale di Nèdro geholt werden.

Material: Kletterausrüstung mit 50m Einfachseil, 4 Schlingen, 8 Express, 1 Satz Rocks und 3 mittleren Cams zusätzlich zu üblicher Alpinwanderausrüstung für 2 Tage.

Fahrplan 1. Tag: 10.30 Start in Bodio, 14.30 Alpe di Nèdro.
Fahrplan 2. Tag: 6.30 Start Alpe di Nèdro, 7.45 Bassa di Partüs, 12.45 Pízz Cramosín (Kletterzeit 4h 45min), 14.30 Rifguio Alpe Costa, 15.45 Frasco.

Tourengänger: lorenzo


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Kommentare (2)


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larice hat gesagt:
Gesendet am 4. November 2022 um 16:56
Sei un alpinista bravo e una persona piena di rispetto.
Ti leggo sempre con piacere.

lorenzo hat gesagt: RE:
Gesendet am 5. November 2022 um 19:13
Ti ringrazio, sono felice di sentirlo!


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