Ersaufen in der Blätterflut – Vorspiel

 
Blätterflut? – Ersaufen in der Blätterflut? – Wie soll das denn aussehen? – Bis vor einigen Tagen hätte rojosuiza darauf keine Antwort gehabt, jetzt aber schon.
 
Zuerst will er die hervorragende Organisation des amtierenden Wanderleiters loben. Wer am Morgen noch einen Stadtbesuch plant, ab Airolo im Gebirge in Como im Unterland, und der dann ganz plötzlich in der Blätterflut landet, auf dem Wege zum neuen Ziel, der ‚Bellavista St.ne‘, der hat schon sehr gehörig nachgedacht. Dass so etwas möglich wird! – Mit allerhand Zügen fährt der Bergheld, mit Eilzug, Inter-City-Zug, und schliesslich mit vergammelten Lokalzug. In Como eilt er durch schattige Strassen, es windet, es ist kalt. Aber schliesslich dringt die Sonne durch, am Lago di Como. rojosuiza spaziert am Uferweg, trifft auf eine Art Mausoleum, gestiftet dem grössten Sohn der Stadt: Volta! – Volta kennt jeder Elektriker, und rojosuiza als alter Radioreparateur rechnet sich auch zur Sorte, da seine Transistorradios gewiss viel mit Batterien zu tun haben, und auch die Voltstärke muss ein Radioreparateur genau kennen. Er trifft auf das Monument der Gefallenen des ersten Weltkrieges (Monumento ai caduti di Como), das ihm ein bisschen nach Faschismus zu schmecken scheint, ihn aber gewiss auch anzieht.
 
Schon übernimmt ihn die Wanderlust, und er wandert zur Stadt hianus, der Schwesterstadt Chiasso zu, zurück in die Schweiz. Bei der Grenze nimmt er noch schnell zwei Cappuchini, muss sich dort Corona-mässig ausweisen, und bekommt für seinen Geburtstag eifrig Bewunderung: Venticinque Aprile, 25. April, der Italenische Befreiungstag, als sich Italien gegen Besetzung und Faschismus erhob. Das ist seit langem ein staatlicher Feiertag, ein gebührender Geburtstag für einen freiheitlich Gesonnenen.
 
Was hat das Geschwätz hier aber mit Wandern zu tun? – Wo kommt da Flut auf, Blätter-Flut noch dazu? – Gemach, meine Freunde, das kommt doch alles noch.
 
Mein Zug umrundet den Berg – im Tessin steht an jeder Ecke ein Berg, auch im Sotto-Ceneri. Hier sind sie weniger hoch, es ist wärmer, der Frühling ist fortgeschrittener. Auf diesen Berg, den Monte Generoso, führt sogar eine Touristenbahn, eine Zahnradbahn. Auf gut Glück steigt der Bergheld aus dem Zug. In halbhohen Schuhen steigt er wohlgemut hinan. Es geht, laut Tafel, in 3 ½ Stunden hinauf zur ‚Bellavista St.ne‘, was laut dem Sachverständigen der III. Klasse wohl der Gipfel sein muss. 3 ½ Stunden nur? – Was sollte eine erfolgreiche Besteigung verhindern, ist der Gipfel doch nur geschätzte 1600 Meter hoch? – Lustig arbeitet sich das Wichtlein im frühen Nachmittags-Licht hinan, es geht alles vorzüglich. Der Weg ist gut beschildert und so braucht man nur der Nase nachzulaufen. Nach dem ersten Brücklein, steinalt aus Stein, kommen sie dann: die ersten Blätter. Es ist ein Kastanienwald, die Bäume sind kahl. Es gibt kein Unterholz. Es gibt aber viele Blätter. Wo es in der ersten Etappe mild und warm gewesen ist, und fast windstill, weht es hier etwas, wirbelt es die Blätter etwas auf. Sie liegen manchenorts etwas dicker, da kann man schön mit dem Fuss durchrascheln. Bald begreift der Bergbezwinger, dass es sich manchmal nur vorwärts tasten kann. Denn: Wo befindet sich der Weg eigentlich; denn: was liegt unter dem Fuss, Stein, Weg, Wurzel oder Loch? – Es ist inzwischen schon vier Uhr, rojosuiza läuft gewiss schon seit zwei Stunden, die letzte Bahn wird wohl um 18:00 fahren – das überkommt die Neugier den Berghelden. Er will doch einmal den Fahrplan einsehen. Die gute Idee kommt ihm auf etwa 800 Metern Höhe. Da trifft ihn der Schlag: die Bahn fährt erst ab April. Um 18:00 Uhr, angekommen auf der ‚Bellavista St.ne‘ ist es stockdunkel. Keine Vista! Kein Zug! Keine Lampe, um den Hinabweg zu finden, denn die ist im Wanderrucksack. – Was entscheidet da der Kluge?
 
Hinab hüpft er, ganz vergnügt, denn der Tag ist so schön. Glücklich ist er, dass er doch noch nachgerechnet hat. Er kommt gewiss bald einmal wieder, dann mit mehr Zeit, denn zu verlockend ist ihm das Ziel, diese ‚Bellavista St.ne‘.