Ersaufen in der Blätterflut – Hauptvorstellung
So verlockend ist die ‚Bellavista St.ne‘, dass er schon am nächsten Morgen wieder da ist. Dieses Mal ist der Start kurz vor zehn. Heiter und beschwingt hebt der Weg an, ganz wie gestern. Die Flut… die Flut… die Blätterflut, wer kann wissen, was dem armen Wanderer bevorsteht?
Es pfeift der Wind im Hang. Die Blätter stieben. Man muss sich ganz gut einpacken. Was ist unter dem Fuss? – Weg, Wurzel, Stein oder Loch? – Man tastet sich voran. Statt weggeblasen zu sein, werden die Blätter zusammengeblasen. Wie verfrachteter Schnee, unwägbare Tiefe. rojosuza stiefelt vorwärts. Die Blätterflut kommt schon einmal bis zur Wade, nein, bis zum Knie. Dort vorne, in der Kerbe im Gelände, jetzt steht er bis zur Hüfte drin im Laub. Der Weg ist irgendwo im abschüssig-sandigen Hang, es ist mehr Vermuten als Wissen. Wo verläuft er wohl?
Kennt ihr das Durchwaten eines Bergbaches auf blossen Füssen, wenn das Wasser bis zu den Knien oder höher kommt? Man tastet sich vorwärts, von Stand zu Stand. Bei Tageslicht und hellem Wasser hilft der Gesichtssinn etwas mit. Stellt euch jetzt das gleiche vor, bei trübem Wasser. Schon sehr viel schwieriger. – Zugegeben, Blätter sind nicht so nass.
Tiefer und tiefer werden die Rillen, höher und höher geht die Flut. Es wird immer ein wenig unangenehmer, je mehr Körper verschwindet. Mehr als die Hälfte ist hier schon verschluckt in der Blatt-Masse.
Dort vorne ist eine breite Rille. Die ist unschuldig; sie wird nur ganz untief sein. Bis zum Knie geht es hinein, zum Oberschenkel, zur Hüfte, zur Brust, bei jedem Schritt noch tiefer – hinein in die entsetzliche Blätterflut. Jetzt verschlingt sie den Berghelden schon fast ganz. Wo ist der Boden? – Ist da noch Grund? – Kann man in so viel Blatt eigentlich ersticken? – Das rettende Ufer ist ein steiles Sandufer. Es ist zu steil, rojosuiza kann es nicht überwinden. – Habt ihr schon einmal Stufen in ein sandiges Ufer geschlagen, ohne etwas zu sehen? – Genau das spielt sich jetzt bedeckt unter der Blätterflut ab, wo ein Bergschuh unsichtbar halb ohnmächtig gegen den Sand wütet. Schliesslich gelingt es, es bröckelt kurzzeitig nicht; der Bergheld hievt sich erschöpft aus den Fluten aufs Ufer hinauf.
Wenn die Blätter mit mir geredet hätten, wie sie mit anderen reden, was für ein Geraschel, Getraschel und Gelächter hätte es gegeben...
… und munter wandert der Wanderer fürbass… möchte man meinen. Denn er verliert den Weg nicht, auch wenn er gar nicht mehr sichtbar ist; da oben im Hang, dort vorne, da sieht man ihn ja wieder erscheinen. Wo er aber jetzt gerade läuft, der Wanderer, da ist alles verschleiert und verschwunden. Gerät das Menschlein vom Weg ab, so rutschte es. Wer aber hier rutschte, der rutscht auf einem Blätterbett wohl ganz unaufhaltsam ganz, ganz weit hinunter..
Unter den Blättern lauert Gefahr in der Form von Loch und Stein, in Form von Wurzel und Geröll, sie lauert in Form der nicht ergründbaren Tiefe des Laubmeeres. Hier gerade lauert sie in noch anderer Form: plötzlich ist der Weg ganz wattig: unter den Blättern liegt jetzt ganz unerwartet Schnee. Wenn man da schräg zu stehen kommt, ei, wie rutscht man da schön…
Schliesslich ist allen Gefahren getrotzt und trottelt der Bergheld zufrieden davon. Es erschallt ein lautes Knacken. Man wendet sich blitzschnell um, erkennt die Gefahr, macht ein paar schnelle Schritte nach vorn. Ein zweites Knacken folgt, ein Knallen! - Zehn Meter hinter dem Helden knallt der morsche Stamm herab, quer über den Weg. – Wäre einer jetzt dort gestanden, er wäre flach wie eine Flunder. Steinchen und Erden fliegen in die Runde, Staub steigt auf, und rojosuiza wird gezuckert damit. Wie gut, dass dieser Wanderer heute so entsetzlich schnell ist, und deshalb jetzt nicht unter der neu geschaffenen Barriere liegt. Beim Jaulen des Windes, beim Jammern der Bäume, beim kleinsten Knacken geht der Blick jetzt gehetzt zu den Wipfeln, ob da wohl noch etwas droht.
Hinter jeder Ecke vermutet man die Bahnstation. Das geht schon seit der Alpe Melano so, aber jedes Mal: keine Bahnstation da! Von der Zeit her müsste sie sich doch endlich einstellen, obwohl rojosuiza längst erkannt hat, dass er mit den vorgegeben 3 ½ Stunden bei weitem nicht auskommt. Das hat nicht nur mit dem Verhauer zu tun, wo er gerade hinauf im Bachbett weitergestiegen ist, bis er wirklich gar nicht mehr weiter hinauf konnte – weil der Weg gänzlich unter dem Geblätter verschwunden gewesen ist. Da muss man wieder zurück. Von oben herab sieht er dann, was er von unten her nicht hat erkennen können, versteckt im Laub. Es hat bestimmt etwas mit dem Abtasten des Weges zu tun, wo nichts mehr sichtbar ist, was Zeit gekostet hat. Zum Schluss hat es auch mit dem allgemeinen Motorschwierigkeiten zu tun, auch hier im Gelände von unter 2000 Metern.
Jetzt kommt sie aber, die ‚stazione‘! Das Ziel ist erreicht. Der Wegweiser sagt, es sei ab hier zwei Stunden nach unten, und nur noch 1 ¼ Stunden nach oben zum Gipfel. Da rechnet der Wanderer. Bei der heutigen Geschwindigkeit, bei der heutigen Beblätterung, da kann man statt den 1 ¼ Stunden gleich 2 Stunden nehmen. Das macht nach 16:00 Uhr also ungefähr 18:00 bis zum Gipfel: dem Einfall der Dunkelheit. Während das Lichtermeer unten am Lago di Lugano sehr schön sein soll, ein Herabwandern ohne Tageslicht ist das nicht. Denn jetzt ist die Lampe zwar da, aber im Blättergezeug richtet sie nichts aus…
Die stazione Bellavista ist eingerüstet, es ist eine Grossbaustelle. Das berühmte Buffet ist nicht offen – es hat zurzeit nicht einmal mehr einen Boden. Hier fliesst keine Cappuccino-Quelle, den müdden Wanderer zu laben. Aber was soll’s: das Zwischenziel ist erreicht! Da kann einer jetzt wieder froh hinabwandern, Mendrisio zu, auf dem Monte-Generoso-Normalweg sozusagen.
Man empfiehlt dem Leser, doch einmal rojosuiza ruhig die Wanderplanung zu überlassen. Bewandert im Kartenlesen und Fahrplanlesen wie er ist, bringt er jeden jederzeit zur richtigen Zeit an den richtigen Ort. – Immerhin hat er am ersten Tag im Vorspiel bewiesen, dass er inzwischen rechtzeitig umkehren kann, und heute bei der Hauptvorstellung beweist er es eigentlich erneut.
Fazit: Tolle Wanderung, tolles Blätterbad, tolle Organisation, einfach alles toll.
Die T4+-Wertung zum Schluss: alles nur den Blättern zu danken, wirklich.
Tourengänger:
rojosuiza

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