Hochmut vor dem Fall
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Na, Ihr Triathloneser, na, Ihr Bergläufer in Lycra-Höschen! Fast 2000 Höhenmeter und 50 Kilometer in gut 1½ Stunden, ja, der rojosuiza schafft’s und haut Euch alle in die Pfanne!
Was – schon etwas kleinlauter! – zugegeben werden muss, rojosuiza leistet dies alles mit Zug und Postauto – vom Feriendomizi Glis auf den Nufenenpass. Wie er auf der Italienisch-sprachigen Seite vom Passo della Novena hinunterrollt ins Tessin – es geht immer nur abwärts zu Beginn – geht das Wandern auch noch zünftig und recht. Aber dann, dann kommt sie.
Was kommt da für eine ‚sie‘? – Es ist die gefürchtetste von allen, die Gegensteigung. Der Flachlandbergsteiger kommt nicht mehr voran. Wo er wie ein Wiesel hinanspringen sollte, schleicht er wie eine alte Mähre. Was soll da aus den hochfliegenden Plänen werden?
Den vorletzten Rest geben mir die zwei alten Damen, die fröhlich gesprächelnd den Berg hinanschreiten. Kaum hinterher kann der Bergheld ihnen kommen, und wie er schliesslich doch ansetzt, sie mit letzter Kraft zu überholen, freuen sie sich noch auf Italienisch: ‚Typisch Mann, auch wenn er gar nicht mehr kann…‘ Ganz so drastisch haben sie es nicht gesagt, es waren ja Damen, aber gestimmt hat es doch.
Den letzten Rest geben mir die beiden mit dem Kletterseil, die bei seiner Abzweigung in den oberen Stock schliesslich am Kriechetier vorbeizogen – um in Sekundenschnelle Hunderte von Metern über rojosuiza in der Höhe zu verschwinden.
Wenn es so gehen soll, dann geht es eben nicht. Statt auf den Pass geht’s halt zurück ins Tal. Habe ich schon gesagt, dass die Landschaft sehr schön ist, die Perlen der Elektrizitäts-Gesellschaft zur Freude des Berghelden überall um ihn herumhängen und ihn mit ihrer Schönheit beglücken? – Oder weckte das den Eindruck, der Meister lenke nur ab?
Die Wand hinauf zum Passo di Maniò bleibt unbetreten von rojosuiza. Stattdessen geht es fast immer geradeaus oder leicht hinab zur neuen Alphütte, Capanna Pansecco des CAS, wo wohl Cappuccino-Quellen fliessen möchten. Gottseidank, etwas klappt, die Quelle fliesst rein und froh. Das macht dem Helden neuen Mut.
Ruft er den Helikopter jetzt, um ihn aus Bergnot zu retten? – Nein, wohlgemut macht er sich auf den Abstieg auf dem frischgeputzten Weg von der frischerstellten Hütte, hinab nach All’Acqua. Er stellt sich ein prächtiges Dorf vor, dieses All’Acqua, mit vielen Cappuccino-Quellen und hübschen Häusern zum Anschauen. Er wedelt nur so hinab, in lauter Vorfreude…
Er wedelte nur so hinab, er würde nur so hinabwedeln, wenn nicht… Plötzlich tun nicht nur die üblichen Grossen Zehen beim Absteigen mir weh. Jetzt singt auf einmal auch der kleine Zeh im rechten Schuh ein rechtes Trauerlied. Was täte ein vernünftiger Mensch? – Er schaute nach. Was tut rojosuiza? – Er läuft stur bergab, Schmerz oder kein Schmerz, denn er muss hinunter. Dort unten gibt es ein Postauto, das ihn nach Abbruch der Wanderung heimbringen soll. Hätte der Tropf geschaut, hätte er den Anschlag auf den kleinen Zeh mit einem scharfen Messerchen behoben. Nun geht das scharfe Messerchen ihm immer weiter in den Zeh. Zuhause wird er merken, wie blöd dieser ‚homo sapiens‘ ist.
Gibt es denn wirklich keine Cappucciono-Quellen in All’Acqua? Da ist doch schon eine, gleich das erste, was der müde Wanderer sieht. Allerdings, es bleibt die einzige. All’Acqua ist kein Dorf, sondern eine località, mit einer Kapelle und einem Gasthof. Dazu, das ist auch sehr wichtig, eine Postauto-Haltestelle.
Die Gaststätte ist voll. rojosuiza darf in ihrem Inneren abkühlen und sich von der Sonne erholen. All die anderen haben das nicht so nötig; sie sitzen gern unter Sonnenschirmen draussen m Licht. Die Kapelle ist dafür still. Die Gedenktafel liest keiner; aber rojosuiza liest sie wohl und schätzt sie hoch.
Welche Botschaft bringt uns wifi und Internetz? – Dass das letzte Postauto tatsächlich nach vier Uhr geht, aber dass auch eines geht in 20 Minuten. Also sich an die Strasse gestellt und es mit grossen Winkeaufwand erfolgreich aufgehalten.
Auf dem Pass ist jeder Tourist. Doch windet und zieht es hier, und es ist darum merklich kälter als am Morgen früh. Bald verzieht sich das Publikum ins Passrestaurant. rojosuiza muss vom tollen Lauf immer noch abkühlen, ihm ist der Zug gerade recht. Wie er nun herumstreunt, hebt plötzlich ein Alphorn an. Heimatklang, wie schön. Und Anklang an ‚zu Strassburg auf der Schanz‘, wie wehmütig wird einem da.
Steht der Alphornbläser nur da für rojosuiza? – Steht er jedes Mal da zur Ankunft eines Postautos, um das Erlebnis komplett zu machen? Dann hat er sich nur etwas verspätet. Ausserdem hat er sich versteckt, nur dass rojosuiza als echte Bergziege neugierig im Gelände herumsteigt, bis er die Herkunft der Klänge auch findet.
Zwischen Maskerade und démasqué im Öffentlichen Verkehr verliert rojosuiza seine Ausweise. Das merkt er nicht, sonst würde er sie ja auch gar nicht verlieren. Später, wenn er den einen dann zeigen soll, da steht er blöd da…
Am Abend in Glis zeigt sich die Verheerung am kleinen Zeh, wo ein vom Fabrikanten falsch gelegter Nahtabschluss ganze Arbeit geleistet hat. Es sind Socken einer Marke, die der Bergheld lange Jahre verwendet hat, aber produziert wird jetzt scheinbar weniger gut.
Viele Reinfälle auf ein Mal. Viel Glück und Zufriedenheit trotzdem. Der grosse Plan ist nicht aufgegangen, aber viele kleine Freuden machen auch eine grosse Freude.
Tourengänger:
rojosuiza

Communities: Passwanderungen, Alleingänge/Solo
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