Hochmut vor dem Fall


Publiziert von rojosuiza , 23. September 2020 um 17:01.

Region: Welt » Schweiz » Tessin » Bellinzonese
Tour Datum: 9 September 2020
Wandern Schwierigkeit: T3 - anspruchsvolles Bergwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: Gruppo Pizzo Rotondo   CH-TI   Gruppo Grieshorn   CH-VS   Gruppo Pizzo Gallina 
Zeitbedarf: 6 Tage
Aufstieg: 200 m
Abstieg: 1000 m
Strecke:10 km
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Nufenenpass
Zufahrt zum Ankunftspunkt:All'Acqua
Unterkunftmöglichkeiten:Bedretto, All'Acqua, Ulrichen,

 
Na, Ihr Triathloneser, na, Ihr Bergläufer in Lycra-Höschen! Fast 2000 Höhenmeter und 50 Kilometer in gut 1½ Stunden, ja, der rojosuiza schafft’s und haut Euch alle in die Pfanne!
 
Was – schon etwas kleinlauter! – zugegeben werden muss, rojosuiza leistet dies alles mit Zug und Postauto – vom Feriendomizi Glis auf den Nufenenpass. Wie er auf der Italienisch-sprachigen Seite vom Passo della Novena hinunterrollt ins Tessin – es geht immer nur abwärts zu Beginn – geht das Wandern auch noch zünftig und recht. Aber dann, dann kommt sie.
 
Was kommt da für eine ‚sie‘? – Es ist die gefürchtetste von allen, die Gegensteigung. Der Flachlandbergsteiger kommt nicht mehr voran. Wo er wie ein Wiesel hinanspringen sollte, schleicht er wie eine alte Mähre. Was soll da aus den hochfliegenden Plänen werden?
 
Den vorletzten Rest geben mir die zwei alten Damen, die fröhlich gesprächelnd den Berg hinanschreiten. Kaum hinterher kann der Bergheld ihnen kommen, und wie er schliesslich doch ansetzt, sie mit letzter Kraft zu überholen, freuen sie sich noch auf Italienisch: ‚Typisch Mann, auch wenn er gar nicht mehr kann…‘ Ganz so drastisch haben sie es nicht gesagt, es waren ja Damen, aber gestimmt hat es doch.
 
Den letzten Rest geben mir die beiden mit dem Kletterseil, die bei seiner Abzweigung in den oberen Stock schliesslich am Kriechetier vorbeizogen – um in Sekundenschnelle Hunderte von Metern über rojosuiza in der Höhe zu verschwinden.
 
Wenn es so gehen soll, dann geht es eben nicht. Statt auf den Pass geht’s halt zurück ins Tal. Habe ich schon gesagt, dass die Landschaft sehr schön ist, die Perlen der Elektrizitäts-Gesellschaft zur Freude des Berghelden überall um ihn herumhängen und ihn mit ihrer Schönheit beglücken? – Oder weckte das den Eindruck, der Meister lenke nur ab?
 
Die Wand hinauf zum Passo di Maniò bleibt unbetreten von rojosuiza. Stattdessen geht es fast immer geradeaus oder leicht hinab zur neuen Alphütte, Capanna Pansecco des CAS, wo wohl Cappuccino-Quellen fliessen möchten. Gottseidank, etwas klappt, die Quelle fliesst rein und froh. Das macht dem Helden neuen Mut.
 
Ruft er den Helikopter jetzt, um ihn aus Bergnot zu retten? – Nein, wohlgemut macht er sich auf den Abstieg auf dem frischgeputzten Weg von der frischerstellten Hütte, hinab nach All’Acqua. Er stellt sich ein prächtiges Dorf vor, dieses All’Acqua, mit vielen Cappuccino-Quellen und hübschen Häusern zum Anschauen. Er wedelt nur so hinab, in lauter Vorfreude…
 
Er wedelte nur so hinab, er würde nur so hinabwedeln, wenn nicht… Plötzlich tun nicht nur die üblichen Grossen Zehen beim Absteigen mir weh. Jetzt singt auf einmal auch der kleine Zeh im rechten Schuh ein rechtes Trauerlied. Was täte ein vernünftiger Mensch? – Er schaute nach. Was tut rojosuiza? – Er läuft stur bergab, Schmerz oder kein Schmerz, denn er muss hinunter. Dort unten gibt es ein Postauto, das ihn nach Abbruch der Wanderung heimbringen soll. Hätte der Tropf geschaut, hätte er den Anschlag auf den kleinen Zeh mit einem scharfen Messerchen behoben. Nun geht das scharfe Messerchen ihm immer weiter in den Zeh. Zuhause wird er merken, wie blöd dieser ‚homo sapiens‘ ist.
 
Gibt es denn wirklich keine Cappucciono-Quellen in All’Acqua? Da ist doch schon eine, gleich das erste, was der müde Wanderer sieht. Allerdings, es bleibt die einzige. All’Acqua ist kein Dorf, sondern eine località, mit einer Kapelle und einem Gasthof. Dazu, das ist auch sehr wichtig, eine Postauto-Haltestelle.
 
Die Gaststätte ist voll. rojosuiza darf in ihrem Inneren abkühlen und sich von der Sonne erholen. All die anderen haben das nicht so nötig; sie sitzen gern unter Sonnenschirmen draussen m Licht. Die Kapelle ist dafür still. Die Gedenktafel liest keiner; aber rojosuiza liest sie wohl und schätzt sie hoch.
 
Welche Botschaft bringt uns wifi und Internetz? – Dass das letzte Postauto tatsächlich nach vier Uhr geht, aber dass auch eines geht in 20 Minuten. Also sich an die Strasse gestellt und es mit grossen Winkeaufwand erfolgreich aufgehalten.
 
Auf dem Pass ist jeder Tourist. Doch windet und zieht es hier, und es ist darum merklich kälter als am Morgen früh. Bald verzieht sich das Publikum ins Passrestaurant. rojosuiza muss vom tollen Lauf immer noch abkühlen, ihm ist der Zug gerade recht. Wie er nun herumstreunt, hebt plötzlich ein Alphorn an. Heimatklang, wie schön. Und Anklang an ‚zu Strassburg auf der Schanz‘, wie wehmütig wird einem da.
 
Steht der Alphornbläser nur da für rojosuiza? – Steht er jedes Mal da zur Ankunft eines Postautos, um das Erlebnis komplett zu machen? Dann hat er sich nur etwas verspätet. Ausserdem hat er sich versteckt, nur dass rojosuiza als echte Bergziege neugierig im Gelände herumsteigt, bis er die Herkunft der Klänge auch findet.
 
Zwischen Maskerade und démasqué im Öffentlichen Verkehr verliert rojosuiza seine Ausweise. Das merkt er nicht, sonst würde er sie ja auch gar nicht verlieren. Später, wenn er den einen dann zeigen soll, da steht er blöd da…
 
Am Abend in Glis zeigt sich die Verheerung am kleinen Zeh, wo ein vom Fabrikanten falsch gelegter Nahtabschluss ganze Arbeit geleistet hat. Es sind Socken einer Marke, die der Bergheld lange Jahre verwendet hat, aber produziert wird jetzt scheinbar weniger gut.
 
Viele Reinfälle auf ein Mal. Viel Glück und Zufriedenheit trotzdem. Der grosse Plan ist nicht aufgegangen, aber viele kleine Freuden machen auch eine grosse Freude.

Tourengänger: rojosuiza


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Kommentare (7)


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Nyn hat gesagt: Murphy
Gesendet am 24. September 2020 um 08:43
Es ist erstaunlich, was Du so alles erlebst! Zuweilen könnte man meinen, Murphys Gesetze würden zuschlagen.
Aber es gibt so Tage, da fragt man sich tatsächlich, wie man es heil und gesund überhaupt geschafft hat, wieder nach Hause zu kommen, ohne aus der Haut zu fahren. Davon könnte ich heute fast ein Liedchen singen...

Die Nutzung von Öffis ist in der Tat lobenswert und klimafreundlich, obgleich sie trotz der sehr guten Abdeckung im Schweizerland Dich doch gehörig bindet. Ich habe nun schon mehrfach gelesen,wie Tourengänger angesichts des dräuenden Wegfahrens des letzten Postbusses alle Vorsicht (und die Schmerzen!) vergaßen - so musstest Du nun ebensolches erleiden. AUaaaaauaaa....
Immerhin tauchen während des Leides vor dem geistigen Auge dann wenigstens diese tollen Capuccino-Quellen auf, die den Schmerz erträglicher gestalten. Hihi

Ich freu mich an solchen Tagen wie heute auch wie ein Schneekönig auf den soeben genossenen frischen Frenchpresse-Caffee mit viel aufgeschäumter Milch...

VG, Nyn

rojosuiza hat gesagt: RE:Murphy
Gesendet am 24. September 2020 um 10:46
Manches geht auch nur mit ÖV gut, da käme einem das Privatauto nur in die Quere, zum Beispiel bei der ursprünglichen Passwanderung von mir: die hätte laut Plan auf dem Nufenenpass angefangen, und schliesslich hätte der Bergheld nach dem Passo di Manió enden sollen nach vielen, vielen Kilometerchens in Oberwald...Nur der ÖV macht's möglich, und nur in diese Richtung, denn der Zug fährt öfter und länger am Abend, als diese touristische Postautolinie.

Nach Murphy folge immer coffee - das bringt alles wieder in Balance.

roko hat gesagt: Kreuzweg-Meditation
Gesendet am 25. September 2020 um 08:58
Hallo mein lieber Leidensgenosse
Selten habe ich einen Bericht so mitfühlend gelesen...Dank meinem Hallux Valgus konnte ich mich bestens in deine Lage versetzen. Aber das Beste ist: trotz deiner erlittenen Schmerzen konnte ich mit ein Lachen nicht verkneifen. Toller Bericht!!!
Mit lieben Grüssen eines Leidensgenossen
Robert

rojosuiza hat gesagt: RE:Kreuzweg-Meditation
Gesendet am 25. September 2020 um 09:22
Wetten, dass wir beide immer wieder hinaufziehen? - Das gilt auf für den Passo di Manió, rojosuiza kommt wieder!

roko hat gesagt: RE:Kreuzweg-Meditation
Gesendet am 25. September 2020 um 14:46
So mag ich es: die Schönheit der Natur steht über dem Leiden :-)

Nyn hat gesagt: RE: Kreuzweg
Gesendet am 25. September 2020 um 15:27
Wenn man an die Bergstiefel früherer Jahre denkt, als sich noch dein Fuß an den Schuh anpassen musste, dann sind heutige schuhtechnische Schmerzen eigentlich ganz gut vermeidbar. Sollte man meinen.

Aber wer hat schon einen Normfuß?

Leider bin ich genbedingt und wegen langjährig zu enger Kletterschuhe -das war halt damals so üblich! 2-3Nummern kleiner- mit einem Hallux Valgus mittlerer Ausprägung und mit dem Problem konfrontiert, dass fast alle Schuhe entweder vorne (etwas) zu eng oder hinten dann zu weit sind, so daß ich dort mit der Ferse aus dem Schuh herausschwimme.
Ich habe inzwischen auch modernere Modelle die meist "Schmeichler" sind -wie sagt man heute dazu? Leichtbergstiefel oder Trailrunner oder so ähnlich? :D
Ganz bequem, diese Dinger...da drückt wenig, auch beim Abstieg durchaus angenehm -, leider lassen sie im Steilgras oder Geröll ein wenig "Kante" und Stabilität vermissen.

Da hilf nur enger schnüren und mehr pressen. Ja, ein Kompromiss, aber die 2kg Treter pro Schuh tue ich mir nimmer an. Die Schmerzen in den Knien (beginnende Arthrose?) und im Hallux -der Vorderfuß rutscht halt doch nach vorne beim Runtergehn- halten sich in Grenzen und etwa die Waage.

Grüße an alle Geplagten

roko hat gesagt: RE: Kreuzweg
Gesendet am 25. September 2020 um 15:43
Mit Zustiegs- und Trekkingschuhen konnte ich mich ganz gut arrangieren, nur mit den harten, "Steigeisenfesten", habe ich so meine Probleme. Aber wenn`s nichts weiter ist...
Gruss Robert


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