VAL CALNEGIA: Maiausflug mit Lawinentraversen
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„Val Calnegia con Neve“ war einer meiner ersten Berichte im HIKR. Schneeschuhtour: Es lagen 150 cm Schnee und ich musste wegen Lawinenkegel umkehren. Heute ist es im Tessin um die 29°C, bei über 30°C könnte es ein Hitzetag werden. Ich bin gespannt wie heute das Val Calnegia aussieht: In frischem Grün? Schneeresten? Passier- oder unpassierbar? Na schauen wir mal. Sie sind eingeladen, mitzukommen.
Wenig Verkehr auf der Strasse erlaubt eine zügige Anfahrt. Zwischen Bignasco und Cavergno über die Brücke, anschliessend hart links Richtung Val Bavona. Schön gemütlich (aber schon mit erhöhtem Puls) vorbei an bestbekannten Orten, wie Mulini-Mondada-Fontana-Sabbione-Ritorto. Noch das gerade Stück mit Kurvenabschluss und ich stehe gegenüber Foroglio mit seinem heute unglaublich stark angeschwollenen Wasserfall zur Linken.
Bei Morgensonne streife ich durch Foroglio, welches ich im März noch mit viel Schnee das letzte Mal sah. Ein paar Schnappschüsse und weiter geht’s hangwärts dem gut rot/weiss markierten Wanderweg in einigen Kehren im Wald angenehmstens empor. Der Weg ist wie blank poliert – so sauber. Dabei liegen zerkleinerte Stämme links und rechts des Weges. Grazie Remo per il tuo lavoro!
Begleitet von öhrenbetäubendem Lärm vom Wasserfall her steige ich eigentlich parallel zu diesem über kunstvoll angelegte Wegpartien empor zur Kapelle (Ich empfehle jedem Passanten eine kleine Gabe für dessen Unterhalt) und alsbald mit zunehmender Stille nach Puntid 878m.
Die Brücke steht schon voll in der Sonne. Das Gatter ist geschlossen: Hab ich nicht das offene Gatter auf der schneebedeckten Brücke im März erwähnt? Jetzt gehört sie geschlossen, auch wenn weit und breit keine einzige Ziege oder anderes domestiziertes Vieh zu sehen ist. Es ist Bergfrühling und damit Basta!
Nach dem Übersteigen der Brücke geht’s nach rechts leicht aufwärts dem markierten Weg entlang in eine lang gezogene Laubwald-Partie. Wenn man das Alter dieser Bäume schätzt, kommt man auf etwa 50 Jahren. Das heisst: Vor rund fünfzig Jahren, als hier die Landwirtschaft noch in Vollblüte stand, standen diese Bäume noch nicht. Eine ausgedehnte Alpweide durchzog das ganze Tal bis zuhinterst nach Calnegia. Dazu kommt die Verwüstung durch Hochwasser, welche das Tal in starke Leidenschaft gezogen hat. Der letzte vollamtliche Landwirt sagte einmal: „Der Hergott hat uns Alles genommen – aber die Steine hat er uns gelassen“.
Dieses Mal ist es nicht das Hochwasser, auch nicht die Überwucherung, sondern es sind die grossflächigen Verwüstungen durch die Lawinenniedergänge. Ich übersteige einige Lawinenkegel mit mulmigem Gefühl, da ich ein Einbrechen in unterirdische Flussläufe echt hasse. Der Natel-Empfang ist sehr schwach und somit bin ich auf etwas Berglerglück angewiesen.
Jenseits des Flusslaufes ist der Wasserfall von Auenn her auszumachen, an dessen Rand ein mittlerweilen maroder Klettersteig während dem zweiten Weltkrieg den Aufstieg für Waldarbeiter erleichterte. Runtergekommen sind die Mannen am gleichen Seil wie die Holzstämme (Filo a sbalzo): Ein hölzerner Haken zum Einhängen und an einem Stück Seil angebrachtes Holzstück als Sitz, dazu einen Lumpen zum Bremsen. Das war’s. Muss eine luftige Angelegenheit gewesen sein. Vielleicht nicht ganz SUVA-komform, nehme ich an (Habe ich von Plinio Martini gestohlen).
Wenig weiter verlasse ich den Wald. Die wunderschöne Ebene von Gerra erscheint auf der anderen Seite des Flusses – verbunden mit einer Holzbrücke. Vorsichtig überschreite ich den reissenden Fluss und Achtung: Auf der rechten Seite der Brücke ist der Handlauf defekt.
Dann geht’s über einen Steinklotz in die Wiesengründe. Hier erwartet dem Besucher eine total irreale Welt. Man glaubt, dass Riesen mit Würfeln gespielt hätten. Steinkolosse in Grösse von Einfamilienhäusern liegen und stehen auf der Wiese und am Hang herum. Daraus hat der Mensch aus der Not eine Tugend gemacht: Untergrabene Zyklopensteine dienen als Ställe und einer davon in acht Metern Tiefe sogar als einmalig kalter Keller. Von diesem wird die Geschichte erzählt, dass Älpler im Herbst vergassen die Kerzenflamme zu löschen und dass die Flamme im Frühling noch nicht erlöscht sei. Sie sei eingefroren – so kalt sei es in diesem Keller. Jawoll!
Die Calnegia, welche hier im Sommer unterirdisch verläuft, führt zu viel Wasser, als dass ich direkt nach Calnegia gehen kann. Somit bin ich gezwungen, zur Brücke zurückzukehren. Dann geht es nach rechts und über einige riesige Lawinenabgänge hinaus talaufwärts, bis die Häuser von Calnegia in einer schützenden Mulde ausgemacht werden können. Riesige Flussverbauungen haben es gerettet. Wenn man alte Photos anschaut, ist der Weiler kaum mehr zu erkennen. So stark haben ihm die Hochwasser zugesetzt. Hier wurden die Käse der darüberliegenden Alpen – Gradisc, Crosa, Formazöö – in unter Steinen eingegrabenen Käsekellern zum Reifen zwischengelagert. Ein verirrter Steinblock rammte in eines der Häuser und wurde gleich dort im Mauerwerk integriert. Sozusagen alle Häuser sind sanft renoviert worden und stehen in Privatbesitz und somit nicht zugänglich. Rundherum tosen Wasserfälle in diesem geschlossenen Talkessel. Seitwärts steigen die Wände bis auf 2500m hinauf. Jenseits des Talabschlusses beginnt Italien – das Val Formazza.
Bei diesen Temperaturen drängt die Zeit zur Heimkehr, da die Flüsse wegen des vielen schmelzenden Schnees sehr stark anschwellen und mitunter nicht mehr passiert werden können. Schnell hüpft man auf den Steinbuckeln gegen Puntid und zurück nach Foroglio. Gleich unterhalb Puntid schaue ich noch einmal durch den blühenden Ginster zum tosenden Wasserfall. Er hat mächtig an Grösse zugelegt. In der Nachmittagssonne lässt er sich gefällig photografieren. Dabei hätte er laut Plänen von Ingenieuren gefasst werden sollen – zur Gewinnung von Elektrizität. Das Wasserschloss hätte sich auf der Alp Nassa befunden. Gut erreichbar mit einer Zahnradbahn!
Tourengänger:
Seeger

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