Gruben und Gräben auf der Alpe di Ròscera


Publiziert von mong , 26. März 2016 um 01:26.

Region: Welt » Schweiz » Tessin » Bellinzonese
Tour Datum:29 September 2011
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-TI   Gruppo Cima dell'Uomo 
Zeitbedarf: 6:00
Aufstieg: 1230 m
Abstieg: 1230 m
Strecke:Gnosca ➙ Nàseri ➙ Alpe di Ròscera
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Von Bellinzona, Stazione ➙ mit dem Bus bis ➙ Gnosca, Centro
Zufahrt zum Ankunftspunkt:Von Gnosca, Centro ➙ mit dem Bus bis ➙ Bellinzona, Stazione
Kartennummer:1293 OSOGNA - 1313 BELLINZONA

Ich habe das Gefühl, dass ausser den Kindern und den Katzen kein einziger Mensch weiss,
wer er eigentlich im Innersten ist, und darum macht  jeder erwachsene Mensch seinen Zeitgenossen etwas vor.

Wir möchten für unsere Mitmenschen entweder sympathisch sein, oder tüchtig, oder führungsstark, oder klug, oder ein Ekel, oder schön, oder tapfer, oder bemitleidenswert, oder originell, oder weise, oder lustig, oder gebildet, oder gescheit, oder witzig, oder seriös, oder treu, oder interessant, oder voll Power, oder glaubwürdig, oder vertrauenswürdig, oder abgeklärt, oder liebenswert, oder männlich, oder jung, oder alt, oder ein Macho, oder feinfühlig, oder mutig, oder wandertauglich, oder noch rüstig, oder was auch immer.

Mit unserem Planeten ist es genau so. Wenn ihr mich fragen würdet (aber unsereiner fragt ja normalerweise keiner), was ich vom Planeten Erde halte, dann würde ich antworten: "Unser Planet ist ein Hochstapler."

Und wenn ihr mich dann weiter ausquetschen würdet und wissen wolltet, wieso ich auf so eine abstruse Idee käme, dann würde ich sagen: Unser Planet gaukelt uns vor, er sei extrem standhaft und stabil und vertrauenswürdig, obwohl er schon weiss der Kuckuck wie alt ist (eigentlich müsste er schon seit langem an Krücken gehen), und wir könnten darum auf dem Damm neben dem Fluss entlang laufen, ohne Angst haben zu müssen, dass im nächsten Augenblick eine riesige Flutwelle über uns hereinbricht, und dass wir in den Bergen herumwandern könnten, ohne jeden Augenblick erwarten zu müssen, dass sich das Terrain vor uns von einer Sekunde auf die andere plötzlich mit einem Knall öffnete, einen Abgrund freigeben und uns mitsamt unserer UL-Ausrüstung auf Nimmerwiedersehen verschlingen und verdauen würde.

Aber eben, das ist eine Illusion, weil wir - sorry, aber ich muss euch das sagen - auf unserem blauen Planeten jederzeit und sogar ohne Vorwarnung in eine Grube fallen, die sich auf einmal und sogar urplötzlich vor uns öffnet, und darin verschwinden könnten, ohne dass wir noch die Möglichkeit hätten, den Hinterlassenen eine zukünftige Adresse zu hinterlassen.

Unser Planet macht uns vor, er sei äusserst stabil, obwohl fast seine ganze Oberfläche nur von extrem flüssigem, welligem, strömungsanfälligem, wildem und nicht selten richtungslos und gewaltsam vor sich hin treibendem Wasser überschwemmt ist.

Und wenn die Erde von einem gewissenhaften Hausarzt zu einem seriösen Psychiater geschickt würde, dann müsste der Psychiater, wenn er ehrlich wäre, unserem Planeten die Diagnose stellen: "Instabil. Unstet. Unzurechnungsfähig. Unberechenbar. Muss beobachtet werden. Psychopathische Züge. Neigt zu Gewaltausbrüchen. Kann jederzeit und ohne Grund ausrasten. Am Besten die Verwahrung anordnen."

Der Planet, auf dem wir zur Zeit wohnen, hat sich nicht im Griff.

In der Nacht vom 14. auf den 15. Mai 2012 ist die Erde in der Gegend der Alpe di Ròscera kurz ausgerastet, es gab einen Erdrutsch, und weil dieser Erdrutsch nicht der erste Erdrutsch war an genau diesem Ort, hatte dieser Erdrutsch bereits einen Namen, nämlich "Erdrutsch von Preonzo" oder "Frana del Valegión". 

Auf die Alpe di Ròscera bin ich gekommen wie die Jungfrau zum Kind - nämlich per Zufall.

Denn eigentlich wollte ich am 29. September 2011, also ungefähr etwas mehr als ein halbes Jahr vor dem Erdrutsch, von Gnosca über Pedena und Tee nach Frach und dann nach Piotella hinauf steigen und dann etwas oberhalb des Monte degli Stroppini nach Teid hinüber queren, weil ich auf der Landeskarte eine gestrichelte Weglinie entdeckt hatte, die etwas oberhalb von Monte degli Stroppini mit Unterbrüchen bis nach Teid eingezeichnet war (und übrigens auch heute noch eingezeichnet ist). 

Aber da geschah es, dass mir ungefähr auf der Höhe von Monte degli Stroppini ein Mann entgegenkam und stehenblieb, und es ergab sich ein kurzes Gespräch. Er erzählte mir seine Lebensgeschichte und dann diejenige seiner Mutter und Grossmutter, und dann erzählte er mir noch schnell die Geschichte von einem seiner Vorfahren, der aus Italien, genauer aus Milano stammte, und der in der Schlacht bei Arbedo, anno 1422, unter der Führung von Francesco Bussone da Carmagnola, gegen die Truppen der Urner, Unterwaldner, Zuger und Luzerner gekämpft habe.

Das trifft sich gut, habe ich ihm geantwortet, und dann erzählte ich ihm die Geschichte von einem meiner Vorfahren, einem Liviner aus dem Livinental, der heutigen Leventina, der auf der Seite der Urner, Unterwaldner, Zuger und Luzerner ebenfalls in der Schlacht bei Arbedo gekämpft hatte.

Soso, sagte der Mann, dann hätte also mein Vorfahre gegen seinen Vorfahren gekämpft!!

Da wurde ich zuerst etwas verlegen und dann unruhig, denn ich spürte, dass unser Gespräch eine unangenehme Wendung genommen hatte, und ich wollte mich deshalb von dem Mann verabschieden, bevor wir nach 600 Jahren die Schlacht bei Arbedo noch einmal schlachten würden.

Aber für ihn war das Gespräch noch nicht zu Ende, er konnte es sich nicht verkneifen, mir noch ganz schnell unter die Nase zu reiben, dass in der Schlacht bei Arbedo anno 1422 meine Truppen gegen seine Truppen verloren hätten, und dass mein Vorfahre von seinem Vorfahren in die Flucht gejagt wurde - in Richtung Gotthard.

Ich war gekränkt und perplex. Die Schlacht bei Arbedo hatte vor 600 Jahren stattgefunden, und da kommt einer daher und glaubt tatsächlich, er müsse mir immer noch unter die Nase reiben, dass mein Vorfahre die Schlacht verloren habe!

Die Situation wurde langsam aber sicher ungemütlich. Wir waren drauf und dran, uns alle bösartigen Schlötterlinge, die wir kannten, an den Kopf zu werfen. Und vielleicht noch mehr. Zum Beispiel unsere Stöcke. 

Wir standen da und schauten uns böse an. Ich dachte scharf nach, so scharf ich konnte, aber ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte, um die Schlachtgefahr zu entschärfen. Ich war überfordert, und ich beobachtete mit grosser Sorge, wie mein Gesprächspartner und Nachkomme eines Arbedo-Legionärs, den Rucksack auf den Boden stellte und mit den Händen darin herumwühlte. Eine Schlägerei war meiner Vermutung nach nicht mehr vermeidbar.

Möglicherweise suchte er im Rucksack nach einer geeigneten Waffe, zum Beispiel einer ausklappbaren Hellebarde, die sein Vorfahre in der Schlacht bei Arbedo als Souvenir mit nach Hause genommen hatte, und ich war darum total überrascht, dass er plötzlich einen Apfel in der Hand hatte und ihn mir schenkte. Ich liess mich nicht lumpen und zog aus meiner Jackentasche einen Marsriegel, den er dankbar entgegennahm. 

Die Situation war entschärft, und wir schauten uns nicht mehr böse an.

Ja, dieser Mann war ein Genie. Er war der Situation, im Gegensatz zu mir, gewachsen gewesen, und es war mir nun auch klar, warum seine Vorfahren die Schlacht bei Arbedo gegen meine Vorfahren gewonnen hatten. Die Kerle aus Mailand und Umgebung waren einfach intelligenter als meine Vorfahren, das musste ich - ehrlicherweise - mir selber gegenüber wohl oder übel zugeben und akzeptieren.

Der Mann ging dann weiter in Richtung Gnosca hinunter, und ich ging weiter hinauf - irgendwohin.

"Der Nase nach", hätte bidi35 (R.I.P.) gesagt.

Die Begegnung mit diesem eigenartigen Mann hatte mich durcheinander gebracht, und darum hatte ich mein eigentliches Ziel, nach Teid hinüber zu queren, aus den Augen verloren. Ich stieg darum einfach weiter hinauf bis zu den obersten Häusern von Nàseri und hielt mich an die weiss-rot-weissen Markierungen, und irgendwie kam ich dann irgendwann auf die Alpe di Ròscera.

Inzwischen war ich mir auch nicht mehr so sicher, ob ich mir die Begegnung mit dem Mann und seiner Schlacht bei Arbedo nicht einfach nur halluziniert hatte.

Eine gute Wanderung ist ja etwas Ähnliches wie ein gutes Konzert. Wenn ein Konzert gut ist, dann passiert irgendetwas mit dem Verstand. Nach einem guten Konzert ist man nicht mehr der gleiche Mensch wie vor dem Konzert.

Genau so ist es mit einer guten Wanderung. Jede gute Wanderung hat einen Höhepunkt. Dieser Höhepunkt kann auch eine ekstatische Halluzination sein. Heute, nach ungefähr 5 Jahren seit dieser Wanderung, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob die Begegnung mit dem Mann nur eine Fantasie von mir war oder nicht. 

Ja. Und wie schon gesagt, auf die Alpe di Ròscera kam ich wie die Jungfrau zum Kind. (Ich liebe diesen Vergleich - obwohl er hinkt). Und was ich auf der Alpe di Ròscera sah, hatte ich in meiner immerhin damals 20jährigen Wanderkarriere noch nie gesehen. Irgendwie erinnerte mich die Alpe di Ròscera an die Schlacht von Arbedo. Die Alpe di Ròscera liegt genau an der Abbruchkante der Erdrutsche von Preonzo (mehr darüber habe ich unter den Fotos geschrieben). Der letzte Erdrutsch im Jahre 2002 hatte tiefe Spuren hinterlassen. Die Alpe di Ròscera war mit Löchern durchlöchert und mit Gruben und Gräben aufgegraben und mit Rissen aufgerissen, dass es mir schwindlig wurde (okay, dass es mir schwindlig wurde, ist übertrieben, aber trotzdem!). 

Und in den Gruben und Gräben und Löchern und Rissen sah ich Messinstrumente und Sonden und Terrain-Bewegungsmelder. Und neben den Gruben und Gräben und Löchern und Rissen sah ich graue Datenübertragungskabel, die in einem Messhäuschen endeten. 

Aufgrund dieser Terrainbewegungsmessungen konnte der Erdrutsch vom 14. auf den 15. Mai 2012 vorausgesehen und die entsprechenden Evakuierungsmassnahmen im Tal unten bei Preonzo getroffen werden (habe ich dann später einmal irgendwo gelesen).

Nein, ich bin auf der Alpe di Ròscera über kein Kabel gestolpert und auch in keinen Graben gefallen. Ihr habe euch also zu früh gefreut.
__________________________________


Und jetzt zum Wichtigsten, nämlich zur Wegbeschreibung:

Eine Wegbeschreibung von Gnosca über Nàseri und dann hinauf zur Alpe di Ròscera ist nicht nötig, weil der Weg von Gnosca bis hinauf zur Alpe di Ròscera auf der Landeskarte eingezeichnet und auf der ganzen Strecke weiss-rot-weiss oder mit roten Punkten auf Baumstämmen oder Steinen markiert ist.
______

Aber ob die wilde und von Erdbewegungen beschädigte Alpe di Ròscera zur Zeit für gewöhnliche Wanderer überhaupt zugänglich ist, weiss ich nicht.
___

Tourengänger: mong


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Kommentare (7)


Kommentar hinzufügen

danicomo hat gesagt:
Gesendet am 27. März 2016 um 09:19
Ciao Mong,
sempre originale ed interessante......
Daniele

mong hat gesagt: RE:
Gesendet am 27. März 2016 um 22:17
Ciao Daniele

>sempre originale
Ma tu sei molto gentile!
Grazie lo stesso ;-)
Saluti
mong

GQ824VS hat gesagt:
Gesendet am 27. März 2016 um 13:41
Hallo Mong,
Vielen Dank für die eindrückliche Dokumentation des "Erdrutsches von Preonzo", weilte zur Zeit des Erdrutsches 2 Tage im Gebiet des Pizzo Molinera, glaubte wirklich im "falschen Film" zu sein....Habe auch viel Spass an Deiner "Story" von der Schlacht von Arbedo....
Viele Grüsse
Roger

mong hat gesagt: RE:
Gesendet am 28. März 2016 um 00:49
Hallo donalpi
Da warst du demfall zur Zeit direkt gegenüber dem Erdrutsch und hast am Morgen die Nachwirkungen (Staubwolke und so) sozusagen live beobachten können. Ich war an diesem Tag mit dem Zug unterwegs in der Gegend.

Arbedo liegt ja ganz in der Nähe. Das war wahrscheinlich der Grund, dass mich dieser "sagenhafte" Mann in dieses seltsam "irreale" Gespräch verwickelt hat ;-))

Danke für dein nettes Feedback
Grüsse
mong

georgb hat gesagt:
Gesendet am 27. März 2016 um 18:06
Ich verneige mich vor mong, eine zauberhafte Geschichte voller Witz und Weisheit!

mong hat gesagt: RE:
Gesendet am 27. März 2016 um 23:21
Hallo Georg !!!
Übertreib's nicht - mit dem Verneigen !!! ;-))
Vielen Dank, trotzdem.
Ciao, saluti
mong

georgb hat gesagt: Um Antworten nicht verlegen
Gesendet am 28. März 2016 um 08:36
Verneigen ist nur dann gut, wenn man sich anschließend wieder aufrichten kann ;-)


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